
Der 11. März 2011 war ein Schock für die ganze Welt. Durch ein starkes Erdbeben und einen nachfolgenden Tsunami kam es im japanischen Kernkraftwerk Fukushima zur Katastrophe: In drei von vier Reaktoren des Kraftwerks kam es zur Kernschmelze. In Japan selbst, aber auch international, sorgten die Nachrichten und Bilder aus Fukushima für Diskussionen über die Sicherheit der Atomkraft und führten – ähnlich wie die „Bilder aus Bergamo“ zu Beginn der Corona-Pandemie – zu politischen Übersprunghandlungen.
In Deutschland dauerte es nur knappe drei Tage, bis die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Worten „Wir haben eine neue Lage“ und „Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“ am Abend des 14. März 2011 das Atom-Moratorium verkündete. Aufgrund einer in Deutschland, in Ermangelung der Gefahr von Erdbeben und Tsunamis nahezu völlig ausgeschlossenen nuklearen Katastrophe auf einem anderen Weltkontinent, mussten sich in der Folge die 17 deutschen Kernkraftwerke nicht nur einer Sicherheitsprüfung unterziehen, sondern die sieben ältesten Kraftwerke sowie der „Problemreaktor“ Krümmel wurden gleich drei Monate lang stillgelegt bzw. ganz abgeschaltet. Und weniger als ein Jahr, nachdem der Bundestag im Oktober 2010 noch die Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke und damit die Abkehr vom rot-grünen Atomausstieg aus dem Jahr 2002 beschlossen hatte, ebnete derselbe Bundestag am 30. Juni 2011 mit seiner Zustimmung zur Novellierung des Atomgesetzes der schwarz-gelben Bundesregierung den Weg zum endgültigen deutschen Ausstieg aus der Atomkraft. Nach einem kurzen Streckbetrieb über den Winter 2022/23 aufgrund der Energiekrise in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gingen am 15. April 2023 bekanntermaßen die letzten drei deutschen Kernkraftwerke in den Nachbetrieb, an den sich der Rückbau anschließt.
Japans nukleare Renaissance
In Japan, das 2011 mit 54 Anlagen weltweit über die viertgrößte Anzahl an Reaktoren verfügte, reagierte die Politik auf die Katastrophe von Fukushima zunächst ähnlich drastisch. Noch 2011 wurde angekündigt, langfristig aus der Kernenergie aussteigen zu wollen. Binnen eines Jahres seit dem Unfall gingen bis zum Frühjahr 2012 planmäßig sämtliche Reaktoren vom Netz – Japan war zeitweise „atomstromfrei“. Seither – einige Regierungs- und energiepolitische Kurswechsel später – hat sich die Einstellung zur Atomenergie in Japan fundamental gewandelt. Anders als in Deutschland hat die weltweite Energiekrise in Japan in nur etwas mehr als 10 Jahren zu einem tatsächlichen Umdenken geführt. Aus Gründen der Energieversorgungssicherheit und auch des Klimaschutzes arbeitet Japan mit ambitionierten Zielen an einem Comeback der Kernkraft. Mit dem Ziel, die Abhängigkeit von Öl und Gas zu verringern, hat das japanische Parlament Ende Mai 2023 ein Gesetz verabschiedet, das nicht nur die bisherige Laufzeitbegrenzung von 60 Jahren für Atomkraftwerke aufgehoben, sondern auch den Neubau von Reaktoren der nächsten Generation, die alte Anlagen schrittweise ersetzen sollen, ermöglicht. Künftig dürfen japanische Reaktoren prinzipiell unbegrenzt betrieben werden – vorausgesetzt, sie bestehen regelmäßige Sicherheitsüberprüfungen.
Laut Regierungsplänen sollen bis 2030 rund 20 bis 22 Prozent des Strombedarfs aus Kernkraft gedeckt werden. Von den 33 theoretisch noch betriebsbereiten Reaktoren sind seit 2011 bislang 14 wieder erfolgreich ans Netz gegangen – also im Schnitt ein Reaktor pro Jahr.
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Zu diesen 14 Anlagen könnten schon zeitnah zwei weitere Reaktoren hinzukommen. Der Energiekonzern Tepco, Eigentümer und Betreiber des Atomkraftwerks Kashiwazaki-Kariwa, hat unlängst die Brennstoffbeladung in den dortigen Blöcken 6 und 7 abgeschlossen – ein Meilenstein auf dem Weg zur Wiederinbetriebnahme eines der größten Kernkraftwerke der Welt und ein weiterer Schritt hin zu einer Kehrtwende in der Energiepolitik, die seit der Fukushima-Katastrophe 2011 vor allem von Zurückhaltung gegenüber der Kernenergie geprägt war.
Beide Reaktoren waren seit mehr als einem Jahrzehnt außer Betrieb. Nun stehen nur noch letzte Sicherheitsprüfungen durch die Atomaufsicht sowie das Einvernehmen mit den lokalen Behörden aus, bevor der Neustart erfolgen kann. Die beiden 1.315-Megawatt-Blöcke gehören zu den modernsten Anlagen am Standort und wurden ursprünglich in den 1990er Jahren in Betrieb genommen. Kashiwazaki-Kariwa, mit sieben Siedewasserreaktoren und einer Gesamtleistung von fast 8.000 Megawatt, war einst ein zentraler Stromlieferant für die Metropolregion Tokio.
Die Rückbesinnung auf Kernenergie erfolgt auch im Kontext der ambitionierten Klimaziele Japans. Bis 2050 will das Land CO₂-neutral sein. Weil Japan kaum über eigene fossile Rohstoffe verfügt, setzt es auf einen Energiemix aus erneuerbaren Energien und Kernkraft, um Versorgungssicherheit und Emissionsminderung zugleich zu erreichen.
Japan hat knapp 15 Jahre nach Fukushima die richtigen Lehren aus der eigenen Katastrophe gezogen: Mit höheren Sicherheitsanforderungen an die alten Anlagen und dem geplanten Neubau kleiner, modularer Reaktoren ist Japan – wie eine Reihe anderer Staaten – wieder auf den Pfad einer rationalen Energiepolitik eingebogen – und könnte mit der Wiederinbetriebnahme abgeschalteter Reaktoren eigentlich als Vorbild für Deutschland dienen. Doch hierzulande scheint die Angst vor einer Katastrophe paradoxerweise größer und wirkmächtiger zu sein als in Japan selbst. Nicht zuletzt deshalb ist man von einem nüchternen Neustart der Energiepolitik hierzulande ebenso weit entfernt wie geografisch von Fukushima.