
Können Sie sich noch daran erinnern, wie es war, mit Menschen zusammen zu sitzen, die unterschiedlicher Meinung waren? Menschen, die unterschiedliche Parteien wählten, unterschiedlicher Ansicht waren, womöglich gar unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen anhingen? Ja, das war möglich. Man konnte miteinander reden, streiten, sogar lachen.
Mitunter kam es zu heftigen Auseinandersetzungen – Bürgerkrieg gab es deshalb nicht.
Heutzutage haben viele Menschen richtiggehend Angst. Sowohl vor der Meinung, die von der eigenen abweicht, als auch vor dem Menschen, der sie vertritt: Elon Musk, stilisiert zum Dämon der Meinungsfreiheit, ist nicht anders beizukommen, scheint es, als indem man seine Plattform verlässt. Weg von X: Nicht, weil man nicht sagen darf, was man will, sondern weil andere sagen dürfen, was sie wollen.
Als Begründung wird immer wieder angeführt, dass „sachlicher Austausch“ nicht mehr möglich sei, dass „Hassrede“ dominiere, sowie, dass X Desinformation verbreiten würde. Diese Vorwürfe sind typische Halbwahrheiten: Sehr wohl sind viele Inhalte auf X unsachlich. Sehr wohl stößt man nicht nur auf konkrete Beleidigungen, sondern auch auf verstörende menschenverachtende Positionen. Fehlinformationen blühen auf X.
Nur: Auch das Gegenteil stimmt. Nirgends findet man so schnell kompetente Datensammlungen nebst Erläuterungen zu so gut wie allen Themen. Weshalb Medien und Journalisten lautstark ihren Account stilllegen, X aber weiter zur Recherche nutzen.
Auch Unterstützung, Zuspruch und Mitgefühl begegnet man hier: Menschen suchen über X beim Joggen verlorene Erbstücke, Hunderte nehmen Anteil, bangen mit, und freuen sich, wenn es wiedergefunden wurde. Kommentare sprechen Verzweifelten Mut zu, motivieren Verzagte, trösten Trauernde. Vielsagend, dass das Portal der katholischen Kirche in Deutschland von X zum Businessforum LinkedIn abwandert – mit Evangelisierung und Begegnung hat man es dort wohl nicht so.
Screenprint: Katholisch.de via X
Und schließlich ist X selbst das zuverlässigste Instrument, um die Fehlinformation, die dort verbreitet wird, zu entlarven.
Während die Vorwürfe gegen X also durchaus zutreffen, richten sie sich noch mehr gegen jene, die sie erheben. Denn wer sie anführt, um X zu verlassen, dem dienen sie als Vorwand, um sich gerade dem zu entziehen: der sachlichen Auseinandersetzung, der zwischenmenschlichen Begegnung, und der unbestechlichen Prüfung der eigenen Inhalte.
Eine Bankrotterklärung epischen Ausmaßes, insbesondere da, wo es ausgerechnet die Wissenschaft betrifft: 63 deutschsprachige Hochschulen und Forschungsinstitutionen verkündeten ihren Abschied von X, nachdem sich Musk und Weidel im X-Space getroffen hatten. Darunter die Humboldt-Universität Berlin oder auch die TU Dresden. Angeblich, weil „Die Werte, welche die Vielfalt, Freiheit und Wissenschaft fördern, [sind] auf der Plattform nicht mehr gegeben“ seien. Initiator ist die Universität Düsseldorf. Sie ist nach Heinrich Heine benannt, der Zeit seines Lebens mit Zensur zu kämpfen hatte, und der sicherlich beschämt wäre, dass sich Institutionen mit seinem Namen schmücken, die mit Meinungsvielfalt nicht zurechtkommen.
Vielsagend: Auch hier werden die Konten nur deaktiviert. Man möchte sichtbar bleiben, und vor allem: weiterhin sehen, was auf X geschieht.
Abgesehen von dieser Heuchelei ist dies ein beschämendes Zeichen dafür, dass die Fähigkeit zu Diskurs darniederliegt – denn wenn Dissens nicht ausgehalten wird, kann es auch keine echte Diskussion geben. Dann bestätigt man einander lediglich in der Echokammer der einzig wahren und legitimen Meinung. Erkenntnisgewinn: Null.
Allerdings wird ja nicht nur die abweichende Meinung verteufelt; auch das Infragestellen von Fakten wird verärgert zurückgewiesen, sobald der „Faktencheck“ nicht in die gewünschte Richtung weist.
Das Hinterfragen sicher geglaubten Wissens ist allerdings ebenfalls ein notwendiger Bestandteil jeglicher Wissenschaft – und das noch grundlegender als der Disput.
Wissenschaft, die wissensfeindlich agiert, die freiwillig auf einen Zugewinn an Erkenntnis verzichtet; das ist sicher historisch einzigartig. Und erhält eine pikant-skurrile Note dadurch, dass jene, die der Meinungsfreiheit am pikiertesten gegenüberstehen, sich dabei zugleich gewöhnlich für die aufgeklärtesten Geister halten.
Aber nicht nur Universitäten und Einrichtungen, die sich über die Vielfalt an Daten, Fakten und Einordnungen auf X freuen müssten, und darüber, dass sie selbst diesen Kanal nutzen können, um Wissen unkompliziert global zu verbreiten; auch politische Akteure versuchen, durch eine Abkehr von X die Meinungshegemonie aufrechtzuerhalten.
Das ist eine eklatante Fehleinschätzung der eigenen Wirkmacht – und kommunikativer Selbstmord, wie ihn nun zum Beispiel auch das Bundesverteidigungsministerium und die Bundeswehr verübt haben.
Es handelt sich um das Verhalten eines Kindes, das sich die Hände vor die Augen hält und denkt, was es nicht mehr sieht, existiere nicht mehr: Es ist ja nicht so, dass die Meinungsbildung über und auf X zum Erliegen käme – wer seinen Account stilllegt, hat nur keinen Anteil mehr daran, während die Nutzerzahlen weiter steigen: Den Schaden haben also jene, die X verlassen.
Während man beleidigte Leberwurst spielt, verpasst man ein entscheidendes Momentum. Elon Musk hat es auf den Punkt gebracht: You are the media now. X ist mittlerweile weit mehr als ein „soziales Medium“. Es handelt sich um einen Informationspool, der alles enthält, Quellen und Fälschungen, Expertenmeinungen und Fantastereien gleichermaßen.
Mit der weitgehenden Absage an Zensur eröffnet Elon Musk einen Raum, in dem sich Meinungsfreiheit auf Basis einer nie dagewesenen Masse an allgemein zugänglicher Information entfaltet. Daraus ergeben sich eine Vielzahl relevanter Fragen: Wie kann man das Prinzip X auf den öffentlichen Raum übertragen, damit dieses Maß an Freiheit nicht weiterhin nur von einer Person abhängt? Wie wird sichergestellt, dass auch jene ohne X-Account an Meinungs- und Entscheidungsfindung beteiligt bleiben? Und wie kann die Masse an Information sinnvoll eingeordnet werden?
Etablierte Medien und viele öffentliche Akteure reagieren auf diese Problematik bisher überfordert, mit Angst, Ablehnung und Aggression, anstatt damit konstruktiv umzugehen und zu überlegen, was ihre Position und Aufgabe in diesem sich neu justierenden Informationsuniversum sein könnte.
Der ewige Vorwurf der Desinformation etwa ist auch Arbeitsverweigerung: Statt herauszufiltern, was echte Desinformation ist, und Wege zu finden, sie einzudämmen – wie es X selbst durch die Community Notes erstaunlich gut gelingt –, nutzt man den Begriff, um jeweils das zu kennzeichnen, was der eigenen Meinung widerspricht.
Es verletzt die Eitelkeit der entsprechenden Akteure, die bisher vermeintliche Fakten widerspruchslos platzieren konnten, dass sie nun von jedermann auf den Prüfstand gestellt werden: Dass die Erörterung, die der promovierte Experte zur Verfügung stellt, auf X nicht per se mehr zählt als der Erfahrungsbericht von Elke, und die Reportage des renommierten Journalisten nicht als in sich glaubwürdiger gilt als das Beweisvideo von Mehmet.
Derzeit mündet dieser verletzte Stolz zumeist noch in einer Schmollattitüde – wie lange, sei dahingestellt. Wer sich ihr ergibt, vergibt die Chance, die Informationsgewinnung mitzuprägen.