Achtung, gefährlicher Professor – Der Ausgeschlossene

vor 3 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

„Entscheidung nach der US-Wahl: Historiker Snyder und Faschismusforscher Stanley verlassen die USA“, titelte der Spiegel vor Kurzem. Die Zeit meldete fast wortgleich den Weggang von drei Professoren aus Yale und kommentierte: „Grund sei, dass die Trump-Regierung die Freiheit bedrohe“. Der Deutschlandfunk sieht ein umfassendes Unglück über den Vereinigten Staaten heraufziehen: „Ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit – und die Grundfesten der US-Demokratie.“

Erst vor diesem Hintergrund gewinnt die folgende Recherche ihr Gewicht: TE fragt nach dem Zustand der akademischen Freiheit in Deutschland, und zwar anhand von drei Fallstudien. Dreimal geht es um die staatliche Maßregelung von Professoren wegen ihrer Meinungsäußerung, wohlgemerkt noch nicht einmal im Hörsaal, sondern außerhalb. Keinem der Vorgänge widmeten Spiegel, Zeit, ARD und ähnliche Medien bisher eine kritische Betrachtung. Im Gegenteil: Bei der Mobilmachung gegen einen unter Druck gesetzten Professor spielt der akademische Ableger Zeit Campus sogar eine prominente Rolle.

Bevor es um diese sehr handfesten Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit unmittelbar vor der Haustür deutscher Qualitätsmedien gehen soll, verdient die Mediengeschichte von der dreifachen Flucht US-amerikanischer Hochschulschullehrer vor Trump eine nähere Betrachtung. An ihr stimmt nämlich – was auf fast alle US-Berichte dieser Medien zutrifft – noch nicht einmal die Hälfte.

Der auf die Geschichte Osteuropas spezialisierte Historiker Timothy Snyder und seine Frau Marci Shore, ebenfalls Historiker, entschieden sich, wie Shore der Akademikerplattform Inside Higher Ed im Gespräch mitteilte, aus privaten Gründen, von Yale an die Munk School of Global Affairs and Public Policy zu wechseln. Ein entsprechendes Angebot der Munk School, so Shore, habe es schon seit zwei Jahren gegeben. Snyders Sprecher teilte „Higher Education“ mit, die Entscheidung zum Wechsel sei wegen „schwieriger Familienangelegenheiten“ gefallen (“difficult family matters“), außerdem schon vor der Präsidentschaftswahl und er habe „nicht den Wunsch, die USA zu verlassen“. Dazu passt auch, dass er sich von Yale nur beurlauben ließ, aber nicht aus der Universität ausschied.

Außerdem räumte sie ein, sie habe in der Vergangenheit darin versagt, ihre Studenten und Lehrkräfte ausreichend “von antisemitischer Gewalt und Belästigung“ zu schützen. Darin, dass sich die Columbia nicht ganz freiwillig, sondern unter finanziellem Druck dazu bequemt, sieht Stanley nun die für ihn unerträgliche „vollständige Kapitulation“, die seiner Meinung nach auch anderen Bildungseinrichtungen droht. Auf dieses nicht ganz unwichtige Detail verzichten die gleichen deutschen Medien, die bei Snyder und Shore den privaten Hintergrund ihres Hochschulwechsels weglassen, damit die drei Professoren sich in den Deutungsrahmen ‘Trump verjagt Wissenschaftler‘ quetschen lassen. An deutschen Hochschulen droht linksislamistischen Truppen jedenfalls keine Beschneidung ihrer Freiheit, Gebäude zu besetzen und andere Studenten zu terrorisieren.

In diesen und anderen Fällen hieß und heißt es von den meisten Politikern und Medienvertretern, die Freiheit von Lehre und Forschung stelle nun einmal ein hohes Gut dar, in das der Staat nicht eingreifen dürfe.

Dass er sehr wohl eingreift, zeigt die folgende Dokumentation. So viel vorab: Kein einziger der verdächtigten und gemaßregelten Hochschullehrer, um die es geht, zeigte irgendeine Nähe zu extremistischen Ideen, tolerierte oder verharmloste Gewalt oder vernachlässigt seine Lehrpflichten. Sie vertreten nur Ansichten, mit denen sie sich zwar völlig im Spektrum der Meinungsfreiheit bewegen, aber gegen ungeschriebene politische Festlegungen verstoßen. In zwei der drei Fälle spielte eine Behörde eine Schlüsselrolle, die im Wissenschaftsbetrieb höchstens als Forschungsgegenstand auftauchen sollte: der Inlandsgeheimdienst.

Die zentrale These von „Kulturkampf um das Volk“ lautet, mit Angela Merkel als Kanzlerin habe die Umwandlung der deutschen Kulturnation in eine multikulturelle Willensnation begonnen – und das gegen den Mehrheitswillen der angestammten Bürger. Zum zweiten kritisiert Wagener die Auslegung des Volksbegriffs durch den Verfassungsschutz. Der Inlandsgeheimdienst, argumentiert der Politikwissenschaftler, sehe schon in jedem, der „Volk“ in Zusammenhang mit einer historisch hergeleiteten, also gewachsenen Kultur stellt, einen Verfassungsfeind. Für beides finden sich Belege, auch ganz unabhängig von Wageners Buch. Auf dem Landesparteitag der CDU Mecklenburg-Vorpommern im Februar 2017 etwa sagte Merkel den Schlüsselsatz: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt.“ Genau das bestimmt schon das Grundgesetz in Artikel 116 anders – und zwar bis heute. Abgesehen von der Definition des Staatsvolks durch die Staatsangehörigkeit ignorieren auch die wenigsten im realen Leben, dass es Unterschiede zwischen alteingesessenen Bürgern und neu dazugekommenen gibt. Wenn die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung Ferda Ataman von ‘Kartoffeln‘ sprach, meinte sie nicht sich, obwohl sie auch den deutschen Pass besitzt, sondern, um einen anderen Ausdruck zu bemühen, ‘Biodeutsche‘.

Von dem gleichen Teil der Gesellschaft, zu dem sie sich selbst nicht zählen, sprechen auch viele Türken und Araber mit deutscher Staatsbürgerschaft, wenn sie die Wendung Almans benutzen. Dass der Besitz der Staatsbürgerschaft für Zuwanderer kulturelle Bindung bedeuten kann, aber eben nicht muss, zeigte das Beispiel einer eingebürgerten türkischen Frau, die Bundeskanzler Olaf Scholz im Wahlkampf besuchte: Sie sprach und verstand trotz jahrzehntelangem Aufenthalt in Almanya praktisch kein Wort Deutsch.

Genau dieser Problemstellung widmet sich Wagener: Was bedeutet es, wenn immer mehr Menschen in diesem Land leben, die sich nicht als Almans betrachten, und es auch nicht werden wollen? Weder verlangt der Autor, dass Migranten die deutsche Kultur adaptieren müssen, noch fordert er in irgendeiner Weise die Schlechterstellung von Eingewanderten mit deutschem Pass gegenüber Alteingesessenen. Sondern er befasst sich mit der Veränderung des Landes durch die Migration, aber auch durch eine Gesellschaftspolitik, wie Merkel sie prägte.

Nach Ansicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz erfüllt der Professor schon damit die Kriterien des Extremismus. Wagener lehrt an einer besonderen Einrichtung – am Fachbereich Nachrichtendienste der erwähnten Hochschule. Seine Seminare hielt er in einem Backsteinbau auf dem Gelände des Bundesnachrichtendienstes in Berlin. Die Beschäftigung des Professors mit widersprüchlichen und politisierten Positionen des Verfassungsschutzes brachte die führenden Beamten dort offenbar so auf, dass sie Wagener in einem Gutachten, um das es gleich genauer gehen soll, Verfassungsfeindlichkeit bescheinigten. Daraufhin entzog ihm der BND die Sicherheitsfreigabe. Er dürfte also theoretisch immer noch anderswo lehren und behält seinen Professorentitel. Nur das Gebäude, in dem seine Lehrveranstaltungen stattfinden, darf er nicht mehr betreten. Außerdem eröffnete der Bundesnachrichtendienst ein Disziplinarverfahren gegen ihn. Nach Informationen von TE gibt es keine weiteren Vorwürfe gegen ihn. Damit dürfte er der erste Professor in der Bundesrepublik sein, der seit über nun dreieinhalb Jahre einem faktischen Unterrichtsverbot ausgesetzt ist und einer möglichen disziplinarrechtlichen Strafe entgegensieht – wegen einer Publikation, die gegen keinerlei Gesetz verstößt. Schon gar nicht gegen die Verfassung.

Der Staat geht übrigens nicht nur gegen Wagener selbst vor: Auf Anregung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth soll der Lau-Verlag*, in dem „Kulturkampf um das Volk“ erschien, einen während der Corona-Zeit gewährten Druckkostenzuschuss von 7500 Euro zurückzahlen. Diese Art Beihilfe erhielten damals praktisch alle Verlage, die einen entsprechenden Antrag stellten. Nach Informationen von TE gibt es bisher eine Rückforderung nur gegenüber Wageners Verlag.

Wie kann überhaupt jemand zu der Konstruktion kommen, einen Wissenschaftler wegen eines Buchs als Sicherheitsrisiko einzustufen? Dazu muss man sich in das Gutachten des Inlandsgeheimdienstes vertiefen, der sich hier nicht zum ersten Mal zur Beurteilungsbehörde über richtiges und falsches Meinen macht.

Im Juni 2023 schickte das Bundesamt für Verfassungsschutz auf Anforderung ein „fachliches Gutachten“ zu Wageners Buch an Nancy Faesers Innenministerium, dem die Hochschule untersteht; für den Professor ist das Bundeskanzleramt zuständig. Hintergrund der Vorlage des Gutachtens war eine Anfrage Claudia Roths. „Eine umfangreiche Begutachtung der Publikation ‘Kulturkampf um das Volk – Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen‘ von Herrn Wagener“, heißt es dort, „hat ergeben, dass aufgrund der Publikation tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bei Herrn Wagener vorliegen. Diese resultieren aus einem ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff, der im Widerspruch zu Art. 1 Abs. 1 GG steht.“

Das Verfassungsschutzpapier wirft nicht nur wegen der darin enthaltenen Anmaßung ein trübes Licht auf den Dienst, sondern auch durch die Qualität seiner Argumentation. Denn bei Artikel 1 Grundgesetz handelt es sich wie bei den anderen Grundrechten um Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Ein einzelner Bürger kann gar nicht dagegen verstoßen. Auch als Professor nicht. Zweitens verwendet der Staat den „ethisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff“, der nach Meinung der Kölner Behörden jeden schon durch bloße Benutzung ins Extremistenlager bringt, in etlichen Fällen selbst. Etwa, wenn sie den Gemeinschaften der Russland- und Rumäniendeutschen Gelder für die Pflege der deutschen Kultur zur Verfügung stellt und Russlanddeutschen die Übersiedlung in die Bundesrepublik anbietet. Bei ihnen handelt es sich schließlich nicht um deutsche Staatsbürger, aber um ethnische Deutsche. Es gibt sogar eine Bundesbeauftragte „für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten” namens Natalie Pawlik – angesiedelt im Hause Faeser.

Auch das 1989 gegründete Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa konnte es ohne einen ethnischen Volksbegriff gar nicht geben, der übrigens auch gar nicht im Gegensatz zum deutschen Staatsbürgerschaftsrecht steht. Denn sie beziehen sich auf jeweils unterschiedliche Bedeutungsfelder. Genau darum geht es ja gerade in Wageners Studie. Zwar taufte Kulturstaatsministerin Claudia Roth das Institut im September 2023 eilig in „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa“ um, wohl deshalb, weil sie mitbekam, dass auch in der Verfassungsschutzbegründung für die extremistischen Bestrebungen der AfD der Vorwurf eine zentrale Rolle spielt, die Partei verwende einen „ethnischen Volksbegriff“. Nach dieser Herleitung müsste der Dienst auch annehmen, dass sich Roth und das Institut bis mindestens 2023 verfassungsfeindlich betätigten, seine oberste Vorgesetzte sogar bis heute.

Der Professor und Autor erhebt auch nirgends die Forderung, eingebürgerte Zuwanderer rechtlich schlechter zu stellen. Da dieser Gedanke in dem Buch also nicht vorkommt, notiert der Bewerter, Wagener erkläre Zugewanderte „letztlich“ zu „Menschen zweiter Klasse“. „Parallele“, „letztlich“: Auf dieser Spur kommen die Beschuldiger nicht nur hier, sondern auch in anderen Disziplinierungsverfahren zu ihrer Anklageschrift, die das Urteil schon enthält. Eine Anmerkung zur weiteren Kolorierung des Vorgangs: Irgendeine auch noch so vage Definition von „Neue Rechte“ liefert unser Bundesschrifttumseinschätzer an keiner Stelle. Als Belege genügen ihm sechs kontextlose (und völlig extremismusfreie) Zitate aus dem Buch. Wagener legt außerdem Wert auf die Feststellung, dass sein Volksbegriff kulturell, aber nicht biologisch begründet ist.

Dazu kommt noch eine Pointe: Exakt das, was Wagener in seinem angeblich verfassungsfeindlichen Werk skizziert, beschreibt auch die Integrationsforscherin Naika Foroutan mit Lehrstuhl an der Humboldt-Universität durch ihren Begriff von der „postmigrantischen Gesellschaft“. Der bedeutet nicht etwa, dass die Migration nach Deutschland endet, sondern den Übergang in eine neotribale Gesellschaft, in der die Deutschen mit deutschen Vorfahren nur noch eine Gruppe unter vielen anderen bilden. In einem Interview mit dem Stern über ihr Buch „Es wäre einmal deutsch“ erklärte Foroutan 2023:

„In einer Gesellschaft, in der jede dritte Familie Migrationsbezüge aufweist und jedes vierte Kind einen Migrationshintergrund hat, wird deutsche Ahnenschaft als Bezugskategorie immer schwammiger […]. Wir brauchen hier ein postmigrantisches Narrativ, das die binäre Festschreibung in Migranten und Einheimischen aufbricht und dahinter das gemeinsame, vielfältige Ganze beschreibt, das in Teilen bereits da ist und sich weiterentwickelt. Ganz abgesehen davon, dass bis 2036 möglicherweise schon fast die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland selbst migrantische Biografien haben wird – zumindest bei den jungen Menschen. Die deutsche Kerngesellschaft verändert sich also.“

In ihre Rede flicht Foroutan auch noch die Formel von der „white fragility“ ein, die Abwertungsformel für alle, die Veränderungen dieser Art womöglich nicht rückhaltlos begrüßen. Inhaltlich deckt sich das sehr weitgehend mit der Analyse Wageners. Beide Bücher unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, dass Wagener diese Vorgänge nicht für unausweichlich hält und in ihrem unveränderten Fortgang auch keine gesellschaftliche Verbesserung erkennt. Für die Migrationswissenschaftlerin, die genauso wie er zwischen der „deutschen Kerngesellschaft“ und den anderen unterscheidet, erfüllt sich dagegen in der von ihr befürworteten Transformation des alten Deutschlands in einen neuen Staat ein historischer Determinismus.

Es kommt also für das Verdikt der Verfassungsfeindlichkeit für die Verfahrenslenker im Innenministerium, im Nachrichtendienst und der Hochschule selbst gar nicht auf den Inhalt an, den ein Wissenschaftler vertritt – sondern einzig und allein auf das jeweilige Vorzeichen. Wer wie Foroutan die Umformung der Gesellschaft begrüßt, erhält Einladungen zu Podiumsdiskussionen und für seine Projekte Fördergelder des Bundesforschungsministeriums. Wer das Gleiche skeptisch beurteilt, darf seinen Hörsaal nicht mehr betreten, muss um seine Professur fürchten und sich obendrein wegen eines halsbrecherisch herbeigebogenen Verstoßes gegen Artikel 1 Grundgesetz zum Sicherheitsrisiko stempeln lassen. So, als müsste man sich um die Unversehrtheit der Studenten sorgen, sollte Wagener jemals wieder zurück ans Lehrpult dürfen.

Um auf Wink von Claudia Roth den Druckkostenzuschuss zurückfordern zu können, gab der Börsenverein des Deutschen Buchhandels – denn er durfte das Geld damals verteilen – ein 38-seitiges Gutachten bei Staatsrechtler Alexander Thiele in Auftrag, Prorektor der BSP Business and Law School Berlin. Und der beherrscht das Business der Gutachtertätigkeit, wie man gleich sieht, mit außerordentlicher Geschmeidigkeit. Schon um des Charakterbildes willen lassen sich ein paar kurze Zitate nicht vermeiden. Zum Beginn seiner Ausführungen schreibt er ganz richtig: „Auch und gerade die Instrumente der wehrhaften Demokratie setzen daher nicht bereits bei jeder verfassungsfeindlichen Forderung oder Aussage an, sondern verlangen jeweils weitere Voraussetzungen, namentlich eine ‘ernsthafte Gefahr‘ (Art. 18 GG) beziehungsweise ein ‘ernsthaftes und planvolles Vorgehen‘ und eine ‘Potenzialität‘ (Art. 21 Abs. 2 GG).“ Nur führt er dann nirgends aus, in welcher Weise von Wagener beziehungsweise seinem Buch irgendeine ernsthafte Gefahr ausginge. Es gibt schließlich auch keine. Der Professor geht auch gegen nichts vor, weder ernsthaft noch planvoll, schließlich bekleidet er kein politisches Amt. Er ist auch keine Partei. Genau darauf, nämlich auf ein Parteiverbot, beziehen sich Thieles Zitate. In einer juristischen Beurteilung eines Sachbuchs haben sie nichts verloren. Dann folgt die Bemerkung: „Jede Form rechtlicher Unterscheidung zwischen ‘Kulturdeutschen‘ und ‘sonstigen Deutschen‘ ist mit dem Grundgesetz daher nicht vereinbar.“ Auch die nimmt der Autor des inkriminierten Buchs an keiner Stelle vor. Folglich: wieder keinerlei Belegzitat. Um die Gutachtenseiten zu füllen, reitet Thiele noch eine Weile auf einem Gerichtsverfahren gegen die rechtsextreme Partei „Die Heimat“ herum, in dem es um den Zugang dieser Truppe zu öffentlichen Geldern ging.

Dort setzte sich das Gericht nach den Vorgaben von Artikel 21 damit auseinander, ob eine Partei das Ziel verfolgt, wesentliche Teile des Grundgesetzes zu beseitigen. Wie schon oben erwähnt: Nichts von dem, was der Gutachter heranschleppt, passt auch nur formal zu Wagener und dessen Veröffentlichung. Der Gedanke scheint irgendwann auch dem Juristen zu kommen, jedenfalls nimmt er folgende Ausfahrt: Irgendwie kommt es gar nicht auf den Inhalt des Buches an, sondern darauf, was andere Leute – beispielsweise er selbst – hineinlesen. Wo argumentative Finsternis herrscht, gehören alle ins Visier genommenen Verdächtigen irgendwie zum Graubereich. Die Thesen des Politikwissenschaftlers, heißt es daher, „können sich diesem Graubereich insofern auch dann wenigstens partiell annähern, wenn sie eine ausdrückliche und insbesondere rechtliche Differenzierung zwischen kulturellen und sonstigen Deutschen nicht vornehmen oder sogar explizit ablehnen, sofern sich aufgrund der Lektüre eine dahinterliegende andere ‘eigentliche‘ Ansicht nachgerade aufdrängt. […] Insoweit wird sich der Autor oder die Autorin ab einem bestimmten Zeitpunkt auch nicht mehr darauf berufen können, dass einzelne Aussagen und Passagen für sich genommen jeweils einer verfassungsfreundlichen Interpretation zugänglich wären, wenn und weil sich die zwischen den Zeilen hervortretende verfassungsfeindliche Ansicht aufgrund dieses kontextbezogenen Gesamteindrucks dann nicht mehr glaubhaft leugnen lässt. Wann diese Schwelle überschritten ist, wird man oftmals aber erneut nicht punktgenau angeben können.“

Dahinterliegende Absichten, zwischen den Zeilen, Graubereich – so geht die juristische Spökenkiekerei als parajuristische Auftragsarbeit. „Eindeutig und explizit rassistische und menschenfeindliche Aussagen finden sich kaum“, konzediert Thiele generös. Sie finden sich genau genommen überhaupt nicht. Jedenfalls kann er wieder einmal kein Zitat punktgenau angeben. Sein Fazit am Ende der 38 Seiten lautet: „Die Publikation bleibt rechtlich zulässig, die Förderung kann gleichwohl rückgängig gemacht werden.“ Auf tatsächlich nicht ganz unerhebliche juristische Probleme geht der bestellte Gutachter gar nicht erst ein. Beispielsweise darauf, dass in einer Zusammenfassung der Bedingungen für Roths Corona-Verlagshilfen zwar alles Mögliche vorkam, unter anderem ein Abschnitt zur ökologisch nachhaltigen Buchherstellung – aber kein Wort zu irgendwelchen inhaltlichen Vorgaben. Und natürlich reichte der Lau-Verlag zu dem geplanten Buch von Wagener auch die verlangte Projektbeschreibung ein, an der beim Börsenverein niemand Anstoß nahm. Wie auch? Schließlich wusste damals ja noch niemand von der Gefährlichkeit des Hochschullehrers.

Natürlich wissen auch jetzt alle Beteiligten, dass von Martin Wagener nicht die geringste Gefahr für das Gemeinwesen, die Hochschule und die Studenten ausgeht. Bei den verantwortlichen Personen handelt es sich um Auftragserfüller, teils auch um schlichte Geister, aber nicht um Dummköpfe im technischen Sinn. Und selbstverständlich geht es auch nicht um das Fördergeld. Die Kosten für das Gutachten und das kommende Gerichtsverfahren – denn der Lau-Verlag sieht sich im Recht – dürfte den in Rede stehenden Betrag von 7500 Euro locker überschreiten. Es geht darum, ein Exempel zu statuieren. Sollte am Ende ein Gericht bestätigen, dass schon die Verwendung eines ethnisch-kulturellen Volksbegriffs einen Wissenschaftler zum Verfassungsfeind macht, dann wandeln in Zukunft viele Historiker auf allerdünnstem Eis, von Ethnologen gar nicht zu reden. Damit erschöpft sich der chilling effect dieser modernen Inquisition aber noch nicht.

Wageners Verlag nahm nur in der Sonderlage während Corona den Druckkostenzuschuss an, ansonsten kommt er ohne öffentliches Geld aus. Im universitären Bereich geht dagegen nichts ohne staatliche oder institutionelle Fördermittel. Wenn es in Zukunft gar nicht mehr darauf ankommt, dass ein Projekt schon genehmigt wurde, sondern nur darauf, ob ein Wissenschaftler ex post in Verdacht gerät, dann sollte sich besser jeder zur Vermeidung von Geldrückforderungen nur noch in einem höchstens schulterbreiten Meinungskorridor bewegen, dessen genaue Bedingungen außerdem der täglichen Neuaushandlung unterliegen. Im Graubereich und zwischen den Zeilen lässt sich so ziemlich überall alles hineinlesen. Irgendein williger Gutachtenlieferant findet sich dafür immer. Ganz nebenbei: Fürchten die Inquisitoren der Gegenwart gar nicht, dass ihr Instrumentarium irgendwann Leuten einer anderen politischen Richtung in die Hände fallen könnte? Mit der Methode ‘schreibt er/sie zwar gar nicht so, aber der Graubereich liegt schon irgendwie an der Grenze zum Extremismus‘ ließen sich ruckzuck ganze Fakultäten von linken Wissenschaftlern leer räumen.

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