
Was einst Schutzschild autoritärer Regime war, kehrt heute im Namen „unserer Demokratie“ zurück. Der neu gefasste „Politikerbeleidigungs“-Paragraph erinnert seit seiner Verschärfung im Jahr 2021 weniger an seine bürgerliche Ursprungsform von 1951 – sondern erschreckend viel an die Gesetzgebungen aus der NS- und DDR-Zeit.
„Eines der freiheitlichsten Länder der Welt ruiniert seinen eigenen Ruf – mit dem Vorschlaghammer.“ Mit diesem Satz kommentierte der Economist jüngst das Vorgehen deutscher Behörden gegen Kritiker der Regierung. Ein Richter in Bamberg hatte den Chefredakteur des Deutschland-Kuriers zu sieben Monaten auf Bewährung verurteilt, weil er ein satirisches Meme mit der Innenministerin Nancy Faeser im Internet verbreitet hatte – Rechtsgrundlage: § 188 StGB.
Auch im Zusammenhang mit der sogenannten „Schwachkopf“-Affäre griff Wirtschaftsminister Robert Habeck auf diesen Paragraphen zurück. Ein Bürger, der Habeck öffentlich verspottet hatte, sah sich plötzlich mit einer Hausdurchsuchung konfrontiert – ein massiver Eingriff, der vielfach als Einschüchterungsversuch gewertet wurde. Selbst amerikanische Leitmedien wie CBS (60 Minutes) berichten inzwischen über eine entfesselte deutsche Justiz, die ohne jedes Unrechtsbewusstsein gegen Bagatellen mit überzogener Härte vorgeht und sich so zum Erfüllungsgehilfen der Regierung macht.
Noch vor wenigen Jahren wäre derlei undenkbar gewesen – schlicht, weil die Rechtsgrundlage fehlte. Zwar existiert der Straftatbestand des § 188 StGB bereits seit dem Jahr 1871, also seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs. Doch seine ursprüngliche Bedeutung war lange begrenzt: Er deckte lediglich besonders ehrverletzende Delikte wie Verleumdung ab und wurde deshalb kaum angewendet. Erst im Jahr 2021 wurde § 188 unter der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD massiv ausgeweitet – und damit zur politischen Waffe umfunktioniert.
Symbolbild einer Justiz außer Rand und Band: die Staatsanwaltschaft Göttingen.
Seitdem dient der Paragraph nicht nur als juristisches Schutzschild für Politiker, sondern zunehmend als Schwert gegen ihre Kritiker. Die Verschärfung erlaubt nun auch die strafrechtliche Verfolgung von Beleidigungen, sofern diese mit der öffentlichen Funktion des Betroffenen in Zusammenhang stehen. Damit gleicht sich die Gesetzgebung in ihrer Logik und Wortlaut derjenigen des Nationalsozialismus an. Auch Ähnlichkeiten zur DDR-Gesetzgebung sind vorhanden.
Am 20. Dezember 1934 erließen die Nationalsozialisten das sogenannte Heimtückegesetz („Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“). Es diente der Disziplinierung oppositioneller Stimmen im Nationalsozialismus. In Artikel 1 § 2 heißt es dort:
„Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, wird mit Gefängnis bestraft.“
Die Wortwahl „gehässige, hetzerische“ kehrt heute in der Formel „Hass und Hetze“ wieder – mit der die Bundesregierung jene Äußerungen meint, die sie durch die Erweiterung des § 188 als Beleidigungen unter Strafe stellt. Diese sind wiederum semantisch eng verknüpft mit den „von niedriger Gesinnung zeugenden Äußerungen“, von denen das Heimtückegesetz spricht.
Der neue Straftatbestand lautet:
„Wird gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) eine Beleidigung (§ 185) aus Beweggründen begangen, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen, und ist die Tat geeignet, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.“
Hass und Hetze gegen NS-Politiker war ab 1934 offiziell verboten.
Vor der Verschärfung bezog sich § 188 nur auf üble Nachrede und Verleumdung – also auf nicht sicher beweisbare bzw. bewusst falsche, ehrverletzende Tatsachenbehauptungen über Politiker, wie zum Beispiel: „Politiker X macht heimlich Y“. Für so etwas braucht es echte kriminelle Absicht. Bei Beleidigungen, die ehrverletzende Werturteile umfassen, ist die Grenze zur zulässigen Kritik naturgemäß etwas unschärfer, was Gerichten und Staatsanwaltschaften mehr Deutungsspielraum gibt. Dass dieser Spielraum zunehmend genutzt wird, zeigen Fälle wie Hausdurchsuchungen wegen bloßer Äußerungen, die im Ausland oder aus Sicht des gesunden Menschenverstands klar von der Meinungsfreiheit gedeckt wären.
Eine weitere, kaum weniger frappierende Parallele findet sich im ersten Artikel des Heimtückegesetzes von 1934. Schon damals wurde die bewusste Verbreitung falscher Tatsachen unter Strafe gestellt – und zwar mit einer Begründung, die heutigen politischen Bestrebungen erschreckend ähnelt. So steht im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD wörtlich: „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“ Im damaligen Gesetzestext hieß es:
„Wer vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen, wird, (...) mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.“
Es bedarf nicht viel Fantasie, um zu erahnen, wie das im Regierungsvertrag angestrebte „Lügenverbot“ dazu eingesetzt werden könnte, unwahre Kritik als schwere Schädigung des Wohls unserer Demokratie oder des Ansehens der Bundesregierung zu zensieren und strafrechtlich zu verfolgen.
Eine direkte Entsprechung zum § 188 in der DDR war § 220 des DDR-Strafgesetzbuchs – der Tatbestand der Staatsverleumdung. Er diente, wie heute § 188, dem Schutz der politischen Autorität vor Kritik. Die Formulierung hätte kaum treffender von Bundesinnenministerin Nancy Faeser stammen können, die die „Verhöhnung des Staates“ ahnden wollte. Die DDR untersagte:
„Wer in der Öffentlichkeit
Propaganda-Plakat der „sozialistischen Volksbewegung“ namens „Nationale Front“: Die Delegitimierung des Staats war in der DDR unerwüscht, weil der Einzelne „alles“ für das verherrlichte Gemeinwesen geben sollte.
Begriffe wie „Verächtlichmachung“ oder „Verhöhnung“ entstammen nicht dem klassischen Vokabular des bürgerlichen Rechts. Sie sind keine juristisch scharf konturierten Kategorien, sondern dehnbare Wertungen – und genau darin liegt ihre Gefahr. Denn der bürgerliche Rechtsstaat zeichnete sich einst gerade dadurch aus, dass er dem Bürger nicht nur Zustimmung, sondern auch scharfe Ablehnung, ja selbst Hass gegenüber dem Staat zugestand – solange dieser sich nicht in konkrete Rechtsverletzungen verwandelte. Die Verschärfung des § 188 StGB steht insofern symptomatisch für eine schleichende Entbürgerlichung des deutschen Staates: eine stille Verschiebung von der Idee des freien Bürgers hin zum disziplinierten Untertan, dessen Kritik als Delikt betrachtet werden kann.
Vor diesem Hintergrund erscheint es auch kaum als Zufall, dass diese Neuregelung im Kontext eines Ausnahmezustands erfolgte – jener pandemischen Phase, in der Grundrechte über Jahre hinweg ausgesetzt oder eingeschränkt wurden. Sie wurde ausdrücklich mit ihm begründet. („Die Wellen des Hasses sind in der Pandemie noch aggressiver als zuvor.“) Die Große Koalition unter Angela Merkel nutzte die Gunst der Stunde, den staatlichen Machtapparat zu vergrößern – und auch über den behaupteten Notstand hinaus zu verfestigen. Insofern sind die Hausdurchsuchungen bei unbescholtenen Bürgern und Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit auch als Nachwehen jenes Ausnahmezustands zu verstehen, die seine formale Aufhebung überdauern.
Der Autor Magnus Klaue (Welt, Faz, Zeit) schrieb sinngemäß, dass das Vergangene noch nie identisch, sondern stets nur verwandelt wiederkehrte. Darum ist es ohne Weiteres möglich, dass Politiker der sogenannten Mitte, während sie sogenannte Nazis bekämpfen, unbemerkt in vorbelasteten Traditionen wandeln, von denen sie behaupten, einst ‚befreit‘ worden zu sein. Der Teufel ist eben ein Eichhörnchen.
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