Kanzlerwahl: „Wir retten Friedrich Merz nicht“

vor etwa 3 Stunden

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Bildquelle: Tichys Einblick

TE sprach mit einem der strategischen Köpfe der AfD in Berlin über die Frage, wie es nun weitergeht. Dafür galt die im Regierungsviertel übliche Bedingung: also Offenheit, dafür keine Namensnennung. Kurz vor dem Treffen gingen die neuesten Umfragewerte durch die Medien: Die Partei von Alice Weidel stand erstmals bundesweit auf Platz eins. Die eiserne Regel der Bundesrepublik, dass entweder CDU oder SPD den Spitzenplatz besetzen – perdu.

Die alten Gewissheiten zerfallen nicht nur in Deutschland. In Großbritannien lag die Reform-Partei von Nigel Farage vor kurzem in einigen Umfragen gleichauf mit den Tories. Und in Frankreich könnten die Wähler bei der nächsten Präsidentschaftskür Marine Le Pen ins Amt befördern, trotz ihrer Verurteilung. Oder einen anderen Kandidaten ihrer Partei. In Österreich würde die FPÖ nach aktuellen Umfragen die nächste Nationalratswahl nicht nur knapp wie beim letzten Mal gewinnen, sondern mit deutlichem Vorsprung. Die Vergangenheit lässt sich also nicht mehr einfach auf die Zukunft hochrechnen. Alles könnte auch anders kommen. Was uns wieder nach Deutschland führt.

Es gibt ein Szenario, zu dem niemand aus dem politischen Berlin sich zurzeit öffentlich äußert: Was passiert, wenn Friedrich Merz bei der Kanzlerwahl im ersten und zweiten Wahlgang scheitert? Im dritten Durchgang genügt schon die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Dann könnte auch ein Kanzlerkandidat auf die Bühne springen, der sich auf eine Linksallianz von SPD, Grünen und Linkspartei stützt. In diese Richtung existiert bekanntlich keine Brandmauer. Ein linker Volksfrontkanzler käme allerdings nicht zum Zug, wenn Union und AfD gemeinsam gegen ihn stimmen würden – denn beide Fraktionen verfügen zusammen über die rechnerische Mehrheit.

Würde sich die AfD in diesem dritten Wahlgang allerdings enthalten, dann würde Deutschland plötzlich links-links-ultralinks regiert. Das klingt im ersten Moment nach einem zwar theoretisch möglichen, aber praktisch völlig ausgeschlossenen Szenario. Allerdings passiert in Berlin auch jetzt schon vieles, womit noch vor einem Jahr kaum jemand gerechnet hätte. Bisher gaben einige SPD-Abgeordnete zu Protokoll, sie würden Merz nicht mitwählen. Kämen keine weiteren Abweichler dazu, würde es immer noch reichen, nur eben etwas knapper. Aber wenn es eben doch zu einem dritten Wahlgang käme, in dem dann alles an der AfD-Fraktion hinge – wie würde sie sich verhalten?

Der Mann, der dort zu den strategischen Planern gehört, antwortet bei einem Cappuccino im Regierungsviertel: „Wir würden Merz nicht retten.“ Also Enthaltung – was einen Linken ins Kanzleramt befördern würde. Und das, meint er, noch nicht einmal aus der Überlegung heraus, dass durch dieses Bündnis unter Einschluss der umgetauften SED die Zustimmung für seine Partei noch weiter steigen würde. Sondern aus einem anderen Grund: „Das ist der Fraktion einfach nicht zuzumuten.“ Etwa die Hälfte bestünde aus parlamentarischen Neulingen, die gerade aus einem harten Wahlkampf kämen, der Eindruck der massiven Attacken und Beschimpfungen – auch durch Unionsvertreter – sei noch frisch. Es werde sowieso ein gutes Stück Arbeit für die Kollegen mit Parlamentserfahrungen, den Neuen zu vermitteln, „dass der Wahlkampf jetzt vorbei ist“.

Außerdem habe die Fraktion als Ganzes bei der Wahl des Bundestagspräsidiums erlebt, dass die anderen, also auch CDU und CSU, keinerlei Entspannungssignale aussenden: Der AfD-Kandidat für den Vizeposten fiel in drei Wahlgängen durch. Der Gesprächspartner rechnet auch mit einer geschlossenen Front, wenn es darum geht, der AfD-Fraktion den Vorsitz des Haushaltsausschusses zu verweigern, der eigentlich der größten Oppositionspartei zusteht. Es gebe auch keine noch so diskreten Versuche von Unionsvertretern, zumindest Gesprächsfäden zu knüpfen. „Vielleicht in einigen Ost-Bundesländern. Aber hier in Berlin: überhaupt nichts.“ Unter diesen Umständen könnte niemand von den blauen Abgeordneten erwarten, die Hand für Friedrich Merz zu heben. Und wenn dadurch eine linke Volksfrontregierung zustande käme? „Dann“, meint er, „ist es eben so.“

Diese Koalition könnte sich nicht auf eine Parlamentsmehrheit stützen. Aber Minderheitsregierungen sind nicht grundsätzlich handlungsunfähig. Spitzenpositionen in Bundesbehörden kann ein Kabinett auch ohne Zustimmung des Bundestages besetzen. Der bisherige Haushalt würde fortgeschrieben – es könnten keine neuen Projekte angefangen, aber alle bisherigen weiterfinanziert werden. Außerdem gäbe es vom ersten Tag an die Forderung an die Union, jetzt gefälligst staatspolitische Verantwortung zu zeigen, indem sie dem Linksbündnis zumindest hier und da gegen ein paar Zugeständnisse zur Mehrheit verhilft. Einmal im Amt, ließe sich eine rot-rot-grüne Allianz nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum aushebeln, bei dem Union und AfD gemeinsam jemand anderen zum Kanzler wählen müssten. Diesen Schritt würden CDU und CSU, Stand heute, wohl selbst in der größten Demütigung nicht wagen.

Es gibt noch ein zweites und immerhin wahrscheinlicheres Szenario, in dem die AfD eine Rolle spielen könnte: der Koalitionsbruch. Dass Regierungen vorzeitig enden, geschieht in Europa mittlerweile nicht mehr selten. In Frankreich gaben 2024 gleich vier Premierminister einander die Klinke in die Hand. Das Kabinett des niederländischen Premiers Mark Rutte zerbrach im Streit um die Migrationspolitik. Und kaum ein Kenner der politischen Verhältnisse in Österreich setzt nur ein Cent darauf, dass dort die Notkoalition aus ÖVP, SPÖ und Neos eine volle Legislaturperiode durchhält.

In Deutschland lehnt der linke SPD-Flügel das Bündnis mit der von ihm verachteten „Merz-CDU“ zutiefst ab, obwohl die sozialdemokratischen Verhandler gerade eine Position nach der anderen durchsetzen. Um ihren Linksflügel ruhig zu halten, würde die SPD wahrscheinlich auch in der Koalition versuchen, dem Partner eine Zumutung nach der anderen aufzudrücken. Schon jetzt zeigen sich an der CDU-Basis erste Auflösungserscheinungen. In Kühlungsborn etwa verließen gleich 23 Mitglieder die Partei aus Wut und Enttäuschung über die radikale Wende der Führung, die nicht nur ihr Schuldenbremse-Versprechen brach, sondern auch die Wahlkampfankündigung, das Heizgesetz abzuschaffen, praktisch kampflos kassierte. Sollte sich die CDU in der Koalition weiter derart am Nasenring durch die Arena ziehen lassen, dann könnten selbst ganze Landesverbände der normalerweise handzahmen Kanzlerpartei rebellieren.

Käme es zum Bruch, bliebe für Merz nur noch die Möglichkeit, als Minderheitskanzler mit AfD-Tolerierung weiterzumachen. Wäre die bisher als Paria behandelte Truppe dazu bereit? Ihre Chefin Alice Weidel erklärte bisher mehrfach: „Unsere Hand bleibt ausgestreckt.“ Aber was heißt das konkret? Die Unterstützung einer Unions-Minderheitsregierung, meint der AfD-Mann, sei grundsätzlich vorstellbar – allerdings unter Bedingungen, zu denen es vom heutigen Stand aus noch ein sehr weiter Weg für CDU und CSU wäre. „Erstens“, meint er, „müssten wir dann als vollwertige Fraktion anerkannt werden.“ Also: eine Mehrheit für eine(n) AfD-Bundestagsvizepräsident oder -präsidentin, außerdem die Ausschussvorsitzposten, die ihr nach Größe zustehen. Die Tolerierung selbst könnte auch nicht so laufen, dass die Unionsfraktion ihre Gesetzentwürfe einfach nur vorlege, und dann die Zustimmung der AfD erwarte: „Wir müssten dann schon im Vorfeld eingebunden sein.“

Faktisch liefe das also auf eine Koalition light hinaus. Und abgesehen von den formalen Punkten: Was wären in diesem Fall die inhaltlichen Forderungen der AfD? „Eigentlich nur die“, antwortet der Gesprächspartner, „dass die Union zu dem zurückkehrt, was sie im Wahlkampf versprochen hat.“ Natürlich zuallererst in der Migrationspolitik. Um diese Bedingungen zu erfüllen, bräuchte es eine völlig andere Union als heute. Andererseits: In den nächsten zwei bis drei Jahren erleben die meisten Parteien sowieso drastische Umbrüche, die kaum etwas beim Alten lassen. Es stellt sich nur die Frage, wie weit sie den Wandel noch selbst mitbestimmen.

Mitregieren, in welcher Form auch immer, ob demnächst in einem ostdeutschen Bundesland oder auch in Berlin, das hieße für die AfD aber auch: Sie müsste zum ersten Mal Kompromisse schließen, und sie auch gegenüber ihren Wählern verteidigen. „Gibt es in Ihrer Partei nicht auch Politiker, die gar nicht aus der Oppositionsrolle herauswollen?“ Ja, die gebe es, sagt der Parteistratege. Aber vielen und vor allem der Parteiführung sei klar, dass Daueropposition langfristig in eine Sackgasse führe. Ihre Anhänger würden erwarten, dass die Partei früher oder später auch etwas von dem durchsetzt, was in ihren Programmen steht. „Wenn das nicht irgendwann passiert“, meint er, „dann könnte es für uns schwer werden, diese hohe Mobilisierung unserer Wähler aufrechtzuerhalten.“

Die Frage, wie es in Zukunft weitergeht, stellt sich also auch für die Partei, die bisher vom Zerfall der alten bundesrepublikanischen Politmaschinerie am meisten profitiert.

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