
Am Dienstag, dem 14. Januar, fand in Frankfurt am Main der 42. Verhandlungstag des sogenannten Reichsbürgerprozesses statt. Erneut wurde in dem eigens dafür errichteten Gebäude, umzäunt durch NATO-Draht, neun Angeklagten der Prozess gemacht. NIUS wohnte dem Prozess bei und sprach vor Ort mit Rechtsanwalt Dirk Sattelmaier, Rechtsbeistand des angeklagten Ex-Polizisten Michael F. Das Gericht hörte an diesem Verhandlungstag einen Kriminalbeamten als Zeugen, der damals Michael F. befragt hatte.
NIUS: Herr Sattelmaier, man erhält hier den Eindruck, dass die Verhandlung sich in Details verliert. Stundenlang geht es um Dinge, wie: Wer hat wann wen getroffen. Man fragt sich, wie sie in der Gesamtbewertung überhaupt relevant werden können. Der letzte Teil des heutigen Verhandlungstags galt dann der Verteidigung, der Rechtsbeistand von Prinz Reuß ging ins Grundsätzliche und sprach über die Voraussetzungen für eine tatsächliche Gefahrenlage. Er sprach darüber, ob die Angeklagten denn überhaupt einen Sturm auf den Reichstag unternommen hätten. Wie beurteilen Sie die Führung dieses Prozesses?
Rechtsanwalt Sattelmaier: Das ist genau das Problem. Wir sind im neunten Monat dieses Prozesses. Das war heute der 42. Verhandlungstag, und wir haben im Prinzip noch keine einzige Beweisaufnahme durch Zeugen zur Sache durchgeführt. Es ging bisher im Wesentlichen nur um die persönlichen Verhältnisse der Angeklagten und somit auch deren politische Gesinnung. Was wurde bei ihnen gefunden, was auf eine Gesinnung schließen lässt? Lediglich die Einlassung von einer Angeklagten, der der ehemaligen Richterin Birgit M., brachte ein wenig Licht ins Dunkel, wenngleich nicht im Sinne der Anklage. Und heute – ein schönes Beispiel für den schleppenden Fortgang des Verfahrens – war der fünfte Tag der Vernehmung eines Kriminalbeamten als sogenannter Zeuge, der einst unseren Mandanten drei Tage lang in der JVA vernommen hatte. Er hat also wiedergegeben, wie sich unser Mandant seinerzeit zur Sache eingelassen hat.
Das ist im Prinzip keine echte Zeugenaussage zur Sache, da der Beamte lediglich die Einlassung des Angeklagten wiedergegeben hat. Wenn sich dann der Senat bei seiner Befragung auch noch in winzigste Details verliert, wird es natürlich abenteuerlich. Und er wird noch mindestens zwei weitere Verhandlungstage aussagen. Zur Frage, ob denn die Gruppe tatsächlich einen Reichstagssturm geplant hat und insbesondere wie dieser denn konkret ausgesehen haben soll, darüber gibt es überhaupt keine Erkenntnisse auf Grundlage der bisherigen Beweisaufnahme. Es gibt gar nichts.
In Frankfurt-Sossenheim in der Wilhelm-Hay-Straße wurde für den Prozess diese Halle errichtet.
NIUS: Aber das ist doch genau das Entscheidende: Die Frage, ob ein Sturm auf den Reichstag geplant, war.
RA Sattelmaier: Es gab hierzu die Einlassung der Birgit M., die Mitangeklagte durch den Reichstag geführt hat. Sie sagte aus, sie habe diese dort in den allgemein zugänglichen Bereichen entlanggeführt, wie zuvor auch viele andere interessierte Personen; das war – so führte sie aus – als Bundestagsabgeordnete sozusagen ihr täglich Brot. Dabei wurden Fotos aufgenommen, die sogar ausweislich eines schriftlichen Vermerks von Beamten als unbedenklich bewertet wurden. Das ist das Einzige, was diese Hauptverhandlung zum vermeintlichen Reichstagssturm zu Tage gebracht hat. Sonst gibt es bisher keine weiteren Erkenntnisse in dem Bereich.
NIUS: Das zweite Hauptthema ist diese berühmte „Allianz“, die aus einer Million vorwiegend amerikanischer und russischer Soldaten bestanden und ohne jegliches Zutun oder gar Einflussmöglichkeit der Angeklagten den Umsturz der Regierung im Visier gehabt haben soll. Wir wissen mittlerweile, dass die Existenz dieser Allianz in den Köpfen der Angeklagten tatsächlich Bestand hatte und teilweise sogar an eine galaktische Allianz – also an Außerirdische – geglaubt wurde. Hiermit stellt sich die Frage, ob der Senat im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht nicht dazu angehalten ist, einen psychiatrischen Gutachter dem Prozess beizuordnen. Eine heutige Stellungnahme des Kollegen Dr. Sieg [Anwalt von Prinz Reuß, Anm. d. Red.] machte es deutlich: Diese Allianz gab es nicht, gibt es nicht – und es wird sie auch nicht geben. Diesen Umstand hat bisher noch kein Gericht – sei es das OLG in Frankfurt noch der Bundesgerichtshof – in seinen Entscheidungen rechtlich bewertet.
RA Sattelmaier: Nach dem bisherigen Verlauf – und wir haben ja nur die Einlassungen von Mitangeklagten, noch nicht wirklich von Zeugen, von mitgeschnittenen Audiodateien oder dergleichen – drängt sich der Verdacht auf, dass mit der Legendenbildung dieser Allianz die Gutgläubig- und Gutmütigkeit der meisten Angeklagten durch einige Wenige – auch finanziell – ausgenutzt werden sollte. Der Verdacht ist jedenfalls sehr naheliegend.
Entscheidend ist der Umstand, dass die meisten Angeklagten davon ausgegangen sind: Wir machen gar nichts, der Weltauftritt der „Allianz“ wird sowieso geschehen, ob wir das jetzt wollen oder nicht wollen, wir haben gar keinen Einfluss darauf. Aber für den Fall, dass das passiert, werden wir hinterher tätig. Dann sind wir die Auserwählten und können diesen Staat wieder neu ordnen und so die Bevölkerung vor Chaos schützen. Aber dass dieser Umsturz durch eine Allianz – sei sie nun irdisch oder gar galaktisch – kommt, darauf hatten die allermeisten Angeklagten in ihrer Vorstellung überhaupt keinen Einfluss. Das scheint nach den 42 Verhandlungstagen festzustehen. Ausgenommen sind natürlich jene Angeklagten, die von Anfang an wussten, dass es die Allianz nicht gibt.
Gingen die betagten Angeklagten davon aus, den Reichstag aus eigener Kraft stürmen zu können? Daran bestehen erhebliche Zweifel.
NIUS: Letztlich geht es hier um die skurrile Frage, ob einige ältere Herren und Damen tatsächlich einen Staatssturz planten. Die Frage klingt deshalb albern, weil ein paar Rentner aus eigener Kraft den Staat nicht stürzen können. Um das anzunehmen, müssten sie psychotisch sein, das sind die Angeklagten ja offensichtlich nicht. Auch Menschen, die vielleicht an komische Dinge glauben, sind deswegen noch nicht grundsätzlich psychotisch, auch die Angeklagten bestritten ja bis zuletzt ganz normal ihren Alltag. Sie konnten realistisch einschätzen, ohne eine „Allianz“ keinen Staat stürzen zu können. Daher wären sie nie zur Tat geschritten. Wie hätten sie das auch anstellen sollen?
RA Sattelmaier: Es wäre ihnen mangels der Existenz der Allianz ja nicht möglich gewesen. Die Tatsache, dass einige Angeklagte sogar an diese sogenannte galaktische Allianz geglaubt haben, wirft die Frage auf: Wie können zum Teil gestandene Leute, die wirklich voll im Beruf standen und in ihrem Leben so einiges erreicht haben, an so etwas glauben? Ich für meinen Teil, das ist meine persönliche Meinung, kann mir das nur mit einer gewissen Traumatisierung erklären. Möglicherweise hat jeder auf seine Art eine Traumatisierung erlitten. Jeder hat vielleicht seine eigenen Hintergründe hierzu, aber dem müsste das Gericht auf den Grund gehen, wenn es denn verstehen will, wie es so weit kommen konnte. Es ist ja von Amts wegen verpflichtet, umfangreiche Sachaufklärung zu betreiben und dazu gehört meines Erachtens auch die Beantwortung genau dieser Frage.
NIUS: Interessant ist in dem Zusammenhang: Dieser Reichsbürgerskandal fällt genau in die Corona-Zeit mit zuvor ungekannten, gewaltigen Einschnitten in unser aller Leben. Ich persönlich war bestürzt darüber, wie extrem sich die Welt von heute auf morgen verändern kann. Bei einigen führt das möglicherweise dazu, Gewissheiten aufzugeben und plötzlich alles für möglich zu halten. Es wäre jedenfalls eine Spur, die man weiter verfolgen könnte in: dass Leute unter ungewohnten Bedingungen auch völlig ungewohnte Verhaltensweisen und Denkweisen an den Tag legen.
RA Sattelmaier: Da sprechen Sie einen wesentlichen Gesichtspunkt an. Man kann es Traumatisierung nennen. Das könnte ein Sachverständiger sicherlich erklären, vielleicht für jeden einzelnen. Wenn wir – ich erzähle ja keine Geheimnisse, das ist hier ja alles schon Thema gewesen – wenn wir hier mal auf einzelne Angeklagte gucken: Die Angeklagte Birgit Malsack-Winkemann hat erklärt, sie sei mehr oder weniger in ein Loch gefallen, als sie aus dem Bundestag ausschied. Sie wurde schlicht nicht mehr aufgestellt. Darüber hinaus wurde noch versucht, dass sie da aus ihrem Richteramt entfernt wird. Das ist damals nicht erfolgreich gewesen, aber solche Dinge können einen schon mürbe machen – und empfänglich für fragwürdiges oder gefährliches Gedankengut.
Mein Mandant beschäftigte sich sehr stark – auch das ist kein Geheimnis – mit den Corona-Maßnahmen, stellte diese auf ihre Rechtmäßigkeit hin infrage. Er ist auf Demonstrationen als Redner aufgetreten und wurde sofort von seinem Dienst als Hauptkommissar suspendiert. Prinz Reuß hat seit der Wiedervereinigung erfolglos vor Gericht versucht, Besitztümer in Thüringen wiederzubekommen und ist daran vielleicht auch ein Stück weit verzweifelt. Und irgendwann ist man dann vielleicht so stark traumatisiert, dass man empfänglich für solche Leute ist, die einem die fragwürdigsten Dinge einreden. Das ist natürlich nur meine Sicht als Laie.
Dr. Birgit Malsack-Winkemann im Jahr 2022
NIUS: Fakt ist: Die Angeklagten hatten persönlich und gesellschaftlich ein reales Maß an Fremdbestimmung erlebt. An diese Erfahrungen können Reichsbürgertheorien, in denen Deutschland „nicht souverän“ ist, ja anknüpfen. Sie verarbeiten auf irrationale Weise reale Erfahrungen.
RA Sattelmaier: Man hat ja über die Beweisaufnahme zu den Hausdurchsuchungen einiges in Erfahrung gebracht: Da ging es um die politische Gesinnung der Angeklagten, nicht um die Frage, ob ein Umsturz geplant war. Es wurde akribisch archiviert – teilweise aus den Spamordnern von Computern heraus – was die Angeklagten geschrieben und gelesen haben. Und hierbei kam zu Tage, dass die Angeklagten mehr oder weniger über die Kritik an der Coronapolitik und den massiven Grundrechtseinschränkungen zusammengefunden haben. Das war der gemeinsame Nenner.
NIUS: Wie würde sich eine solche Traumatisierung auf die Beurteilung auswirken?
RA Sattelmaier: Das könnte sich am Ende im Strafmaß niederschlagen, welches dann geringer ausfallen müsste.
NIUS: Um noch einmal zum Anfang zurückzukehren: Dass die wesentlichen Dinge noch nicht Gegenstand der Verhandlung geworden sind, erweckt den Eindruck, dass die Menschen wie in einem Schauprozess gequält werden sollen. Jeder hat ein Recht auf ein kurzes Verfahren. Nicht zum Entscheidenden vorzudringen und damit die Untersuchungshaft weiter laufen zu lassen, das macht keinen vorbildlich-rechtsstaatlichen Eindruck.
RA Sattelmaier: Sicherlich kann sich der Eindruck erhärten, dass es hier durch eine „Detailverliebtheit“ des Gerichtes lediglich im Schneckentempo vorwärts geht. Der Senat wird aber mit zunehmender Zeit das Problem bekommen, die Untersuchungshaft weiter zu rechtfertigen. Denn wir müssen ja auch im Hinblick auf eine mögliche Straferwartung darüber diskutieren, wann eine Untersuchungshaft überhaupt noch verhältnismäßig ist.
Mit dem angeklagten § 129a StGB haben wird hier einen Straftatbestand, der als Mindeststrafe ein Jahr vorsieht. Sollte es tatsächlich zu einer Verurteilung kommen, so ist der Umstand, dass – anders als in den großen Terrorverfahren der Vergangenheit wie RAF und NSU – eine echte sogenannte Katalogstraftat des § 129a StGB wie Mord und Entführung – bis zu der Verhaftung am 7. Dezember 2022 gar nicht begangen wurde. Mehr noch: Es wurde, wie die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen in WELT schrieb, ja nicht einmal eine „Fensterscheibe eingeworfen“. Eine objektive Gefährlichkeit gab es am Ende schlichtweg nicht, weil es eben keine Allianz gab. Dieser Faktor ist bisher noch gar nicht bewertet worden, muss sich aber zwingend in der Strafzumessung niederschlagen, sofern tatsächlich eine Verurteilung erfolgen sollte.
Die kann m.E. selbst im ungünstigsten Fall nicht mehr so hoch sein, dass eine U-Haft von drei oder vier Jahren gerechtfertigt ist. Irgendwann muss man die Gegebenheiten ins Verhältnis setzen. Angenommen, der Senat spricht die Angeklagten tatsächlich schuldig: Ich kann mir nicht vorstellen, wie selbst im Falle einer Verurteilung mehr als drei, vier Jahre zu begründen wären. Ich rede jetzt nur über die, die nicht als Rädelsführer i.S.d. § 129a Abs. 3 StGB angeklagt sind, wozu mein Mandant gehört. Spätestens Mitte oder Ende des Jahres, wenn die U-Haft dann bereits drei Jahre andauert, wird das Gericht dann ein Problem haben, die Untersuchungshaft weiter zu rechtfertigen.
Die renommierte Gerichtsreporterin Gisela Friederichsen sprach anlässlich des Reichsbürgerprozesses in WELT von einer „Machtdemonstration dieses Staates“.
NIUS: Eine letzte Frage: Um diese „Reichsbürger-Verschwörung“ wurde so viel Brimborium gemacht, dass der Staat ja blamiert wäre, sollte der Prozess hier in Freisprüchen münden. Eine unabhängige Justiz würde sich davon im Idealfall freilich nicht beirren lassen, aber da darf man nach der Corona-Zeit ja mittlerweile auch ein bisschen pessimistisch sein. Das Ganze erscheint „too big to fail“.
RA Sattelmaier: Das ist ein guter Begriff, auf Neudeutsch kann man das so sagen. Wir haben das Problem, dass von Anfang an ein Riesen-Brimborium sowohl bei den Ermittlungsbehörden, wie aber auch in der Politik und vor allem in den Medien gemacht wurde. 3000 Beamte haben ca. 50 Wohnungen durchsucht. Das Ganze wurde von Beginn an medial hervorragend in Szene gesetzt, die bereits bei der Verhaftung vor den Einsatzbeamten an Ort und Stelle waren. Das Ganze wurde dann als größte Gefahr für den Bestand der Bundesrepublik nach der RAF oder dem NSU dargestellt.
Obendrein wurde extra für den Gerichtsprozess hier in Frankfurt noch eine Halle gebaut – mit NATO-Draht umzäunt. Gleichzeitig wird noch in Stuttgart und München gegen weitere Angeklagte aus demselben Grund verhandelt. Kann das Gericht hier in Frankfurt freisprechen, wenn in Stuttgart eine Verurteilung ausgesprochen wird? Vor diesem Hintergrund dürfte das Gericht unter massivem Druck stehen. Ich spreche gern von einer gewissen institutionellen Befangenheit. Das heißt, dass ich als Gericht irgendwo fast schon dazu gehalten bin, zu verurteilen – weil die vorgenannten Umstände suggerieren, ich müsse das tun. Eben too big to fail. Das darf es aber unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht geben. Ich kann nur hoffen, dass sich der Senat diesem Druck am Ende widersetzt.
NIUS: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Sattelmaier.
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