
In seinem kraftvollen Statement nach den Terror-Morden von Aschaffenburg hatte Friedrich Merz einen 5-Punkte-Plan verkündet, der angeblich „unverhandelbar“ sei. Nach den Sondierungsgesprächen ist kaum noch etwas von den Forderungen übrig. Selbst sein wichtigstes Versprechen, die Zurückweisung von Asylbewerbern an Tag 1, ist kein Thema mehr. Die Asyl-Wende fällt aus.
„Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht – ich sage nur: Ich gehe keinen anderen. Und wer ihn mit mir gehen will, muss sich nach diesen fünf Punkten richten. Kompromisse sind in diesen Themen nicht mehr möglich“, hatte Merz am 23. Januar gesagt. Und sein Generalsekretär Carsten Linnemann hatte bekräftigt: „Wenn es keinen Koalitionspartner gibt, der da mitgeht, dann können wir nicht regieren. Das ist CDU pur und das ziehen wir durch.“
Sie haben es nicht durchgezogen, und Kompromisse sind eben doch möglich – bis hin zur Selbstaufgabe. Nahezu alles, was Friedrich Merz nach Aschaffenburg versprochen hatte, ist entweder abgeräumt oder bis zur Unkenntlichkeit verwässert worden. Man kennt den Spruch vom springenden Tiger, der als Bettvorleger landet. Nach den Sondierungsgesprächen steht fest: Merz hebt nicht einmal ab.
Erinnern wir uns an Merz’ Versprechen im Wortlaut:
„Im Falle meiner Wahl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werde ich am ersten Tag meiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen.“
„Kompromisse sind nicht mehr möglich“: Merz nach dem Doppelmord von Aschaffenburg.
Merz sprach von einem „faktischen Einreiseverbot“ für alle ohne gültige Einreisedokumente. Und dieses wird laut einer INSA-Umfrage von einer Zweidrittelmehrheit der Deutschen begrüßt. Jetzt berichtet Bild, sich auf einen Insider berufend: „Ab Tag 1 will Merz deutlich mehr illegale Migranten zurückweisen, Asylbewerber noch nicht. Dies soll im Idealfall nach Absprache mit den Nachbarn erfolgen.“ Diese sollten selbst die Migranten zurückweisen, anstatt sie durchzuschleusen. Die Frage ist, wer das mitmacht.
Von einem Asyl-Notstand, der eine echte Wende in der Migrationspolitik begründen würde, ist gar keine Rede mehr. Stattdessen rudert die Union in fast allen Punkten zurück. Übrig bleiben: mögliche Abschiebehaft für ausreisepflichtige Ausländer, die Möglichkeit des Ausreisearrests nach Haftverbüßung für Straftäter und mehr Kompetenzen für die Bundespolizei, die vorübergehende Haft für ausreisepflichtige Ausländer zu schaffen, um Abschiebungen zu ermöglichen.
Doch die harten Punkte wurden von der SPD abserviert. Die „Zurückweisung ausnahmslos aller Versuche der illegalen Einreise aus einem EU-Nachbarstaat“ ist nur noch „in Abstimmung mit europäischen Partnern“ möglich. Dem Vorschlag von Jens Spahn, Asylbewerber an den Landesgrenzen auch gegen den Willen der Nachbarländer abzuweisen, erteilte Lars Klingbeil heute eine Absage: Es bleibe dabei, dass „nur in Abstimmung mit den europäischen Nachbarn“ gehandelt werde, auch seine Genossin Saskia Esken sagte im Deutschlandfunk: „Wir haben etwas anderes vereinbart, und dabei bleiben wir auch“.
Mit Lars Klingbeil und Saskia Esken sind Zurückweisungen praktisch nicht möglich.
Heißt: Merz will die Sache nicht selbst in die Hand nehmen (können), die Bundespolizisten, wenngleich für die dauerhaften Grenzkontrollen personell aufgerüstet, werden in der Praxis Migranten weiter durchwinken. Selbst der Begriff „illegale Migration“ hat sich verflüchtigt, wird jetzt nur noch „irregulär“ genannt. Man will keine illegale Migration mehr beenden, sondern nur noch irreguläre Migration „begrenzen“. Widerrechtliches wird weiterhin nicht mehr vollständig, aber doch zu großen Teilen geduldet.
Zu den Abschiebungen hatte Merz noch im Wahlkampf gesagt, Länder, die ihre ausreisepflichtigen Staatsbürger nicht zurücknehmen, könnten in Zukunft keine Entwicklungshilfe mehr erhalten. Das klang nach konsequentem Handeln in geradezu Trump’scher Manier. Mit dem Unterschied, dass Trump seinen Worten Taten folgen lässt und bei Merz nur eine Absichtserklärung übrigbleibt: „Herkunftsländer in die Pflicht nehmen: Wir wollen mit allen Politikfeldern eine bessere Kooperationsbereitschaft der Herkunftsländer erreichen, einschließlich der Visa-Vergabe, Entwicklungszusammenarbeit, Wirtschafts- und Handelsbeziehungen.“ Wir wollen schon, aber ob wir können? Hier macht sich die künftige Koalition, sollte sie zustande kommen, vom Wohlwollen der Herkunftsstaaten abhängig.
Wieder wird eine „Rückführungsoffensive“ angekündigt: „Wir wollen ...“
Dass die Zurückweisung auch „Menschen mit Schutzanspruch“ betreffen soll, wie Merz versprochen hat, ist ebenfalls perdu. Merz will ja nun zwar mehr illegale Migranten zurückweisen, die Asylbewerber hingegen sind davon ausdrücklich ausgenommen. Abgewiesen werden also nur Migranten, die das Zauberwort „Asyl“, aus welchen Gründen auch immer, nicht aussprechen.
Hinzu kommt, dass die Einschränkung, man wolle „alle rechtsstaatlichen Maßnahmen“ ergreifen, um die Migration zu reduzieren, die Bedingung akzeptiert, dass alles im Einklang mit EU-Recht und Genfer Flüchtlingskonvention vereinbar sein muss. Merz besteht nicht mehr darauf, deutsches Recht über EU-Recht zu stellen, obwohl er selbst unter dem Eindruck einer Gewaltwelle mit migrantischen Tätern von einer „außergewöhnlichen Notlage“ und „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ gesprochen hatte.
Vollziehbar Ausreisepflichtige werden nicht „sofort in Abschiebehaft genommen“. Der Familiennachzug wird – und das auch noch „befristet“ – nur für subsidiär Schutzberechtigte (also Menschen, denen im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden drohen würde) ausgesetzt, betrifft lediglich 12.000 von etwa 130.000 jährlich, also nur etwa ein Zehntel. Union und SPD werden also weiter jährlich rund 60.000 Ehepartner von Ausländern sowie 50.000 Eltern und Kinder einfliegen.
Die Westbalkan-Regelung, die Menschen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien betrifft und bisher pro Kalenderjahr bis zu 50.000 Zustimmungen zu Aufenthaltstiteln vorsieht, die von der Bundesagentur für Arbeit erteilt werden, wird um die Hälfte gestutzt, künftig sollen sie auf 25.000 pro Jahr begrenzt werden – wohl für die Union noch einer der erfolgreichsten „Kompromisse“. Und: Die „freiwilligen Bundesaufnahmeprogramme“, also etwa das Einfliegen von Zehntausenden Afghanen, sollen beendet (!) werden – allerdings „soweit wie möglich“. Man ahnt, was dem alles entgegenstehen kann.
Auch die Forderungen der Union „Einbürgerungsgesetz der Ampel zurücknehmen!“ und „Kein deutscher Pass für schwere Straftäter“ sind im Nirwana verschwunden. Im Sondierungspapier der Union und der SPD heißt es jetzt: „Wir halten an der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts fest“, auch wenn die Christdemokraten noch vor den Sondierungsgesprächen der Ansicht waren, dass der deutsche Pass „selektiver vergeben“ und nicht jedem Hereingeschneiten nach spätestens fünf Jahren in die Hand gedrückt wird. Immerhin wolle man aber, so heißt es im Sondierungspapier, verfassungsrechtlich prüfen lassen, „ob wir Terrorunterstützern, Antisemiten und Extremisten, die zur Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufrufen, die deutsche Staatsbürgerschaft entziehen können, wenn sie eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen.“
Bisher können Doppelstaatler ihre deutsche Staatsangehörigkeit nur verlieren, wenn sie in die Armee eines anderen Staates eintreten, sich im Ausland an terroristischen Kämpfen beteiligen oder ihre Einbürgerung durch Betrug erlangt haben. Die CDU wollte diese Regelungen ausweiten: Doppelstaatler, die das Existenzrecht Israels leugnen, zur Zerstörung Israels aufrufen oder wegen einer antisemitischen Straftat zu mindestens einem Jahr Haft verurteilt werden, sollten die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren. Fraglich, ob man dieses Vorhaben, das der verheerenden Außenwirkung judenfeindlicher Demonstrationen geschuldet war, weiterverfolgen wird.
Passentzug für Straftäter? Man wird sehen.
Kein Wort wird im Sondierungspapier über die Pull-Faktoren verloren. Zwar ist dort zu lesen, die Koalition wolle den deutschlandweiten Einsatz der Bezahlkarte und ihre Umgehung „unterbinden“, doch von Leistungskürzungen wie etwa in Dänemark ist keine Rede. „2024 haben die Behörden die geringste Anzahl von Aufenthaltserlaubnissen für Asylbewerber erteilt, die wir in den letzten Jahren gesehen haben“, so Dybvad Bek, der dänische Einwanderungsminister (NIUS berichtete). Lediglich 860 Asylanträge von 2300 wurden bewilligt. Dort hat man auch Syrern den Aufenthaltstitel entzogen. Dort wird auch zwischen Asylsuchenden unterschieden und konsequent abgeschoben. Die allermeisten Dänen begrüßen das, vor allem Wähler der Sozialdemokraten. Die SPD unter Lars Klingbeil und Saskia Esken käme allerdings nicht im Traum auf die Idee, die Interessen ihrer Wählerschaft in den Mittelpunkt ihrer Politik zu stellen.
Und Friedrich Merz auch nicht. Fast wirkt es so, als sei er ganz froh darüber, dass ihm die SPD die Erfüllung seiner Wahlversprechen in Sachen Migration unmöglich gemacht hat. Ein bisschen Kosmetik scheint ihm zu reichen, denn eine harte „Asyl-Wende“ wäre dem Zurückruderer der Nation selbst nicht geheuer gewesen, allen energisch vorgetragenen Versprechungen zum Trotz. Die traurige Wahrheit ist: Obwohl er angekündigt hat, er weigere sich anzuerkennen, „dass die Taten von Mannheim, Solingen, Magdeburg und jetzt Aschaffenburg die neue Realität in Deutschland sein sollen“, tut er nun genau das. Offenbar ist das Maß doch noch nicht voll – jedenfalls nicht für Merz und die Union.
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