
In der Gedenkstunde des Bundestages zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vor 80 Jahren hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die zentrale Rede. Darin schlug er den Bogen in die Jetztzeit – und warf Putins Russland und Trumps Amerika einen „doppelten Epochenbruch“ vor.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier pflegt sich in seinen Reden gewöhnlich als Allgemeinplatzwart zu geben, der keine Phrase auslässt. Am 80. Jahrestag des Kriegsendes gleich den beiden größten der damaligen Siegermächte mit dem erhobenen Zeigefinger zu begegnen und ihnen vorzuwerfen, die Nachkriegsordnung zu zerstören, hat eine ganz neue Qualität.
Dass wir, die Deutschen, aus der Geschichte gelernt haben, wurde der Präsident nicht müde zu betonen. Gleichzeitig bezichtigte er Russland und die Vereinigten Staaten, dies offenbar nicht getan zu haben: „Es ist nicht weniger als ein doppelter Epochenbruch – der Angriffskrieg Russlands, der Wertebruch Amerikas –, er markiert das Ende des langen 20. Jahrhunderts“.
Amerikanische und sowjetische Soldaten (hier im April 1945 bei Torgau) rangen Hitlers Armeen nieder. Heute erhebt sich der deutsche Bundespräsident über die USA und Russland.
Den Überfall Russlands auf die Ukraine setzt Steinmeier mit einem „Wertebruch“ gleich, den die Amerikaner begangen haben sollen – wobei Steinmeier nicht sagt, was er damit meint. Nannte er 2016, damals noch Außenminister, den seinerzeitigen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump einen „Hassprediger“, dem er nach dessen Wahl nicht einmal gratulierte, fällt der Angriff auf die Trump-Regierung diesmal eher indirekt aus. Steinmeier erwähnt den Namen Trump nicht, er behauptet jedoch: „Dass sich nun ausgerechnet auch die Vereinigten Staaten, die diese Ordnung [die internationale Ordnung auf Basis des Völkerrechts, Anm. d. Red.] maßgeblich mitgeprägt haben, von ihr abwenden, ist eine Erschütterung von ganz neuem Ausmaß“, sagte Steinmeier.
Der Präsident sprach auch vom „Recht des Stärkeren“, das sich nicht durchsetzen dürfe, von Abschottung, aggressivem Nationalismus und der Verachtung vor demokratischen Institutionen, von „eigennützigen Machtinteressen“ – und meinte damit zweifellos Amerika, das er auch hier in den Senkel stellte:
„Wir sehen mit Schrecken, dass selbst die älteste Demokratie der Welt schnell gefährdet sein kann, wenn die Justiz missachtet, die Gewaltenteilung ausgehebelt, die Freiheit der Wissenschaft angegriffen wird.“ Angesichts der „Faszination des Autoritarismus“, der auf dem Vormarsch sei, gelte: „Wenn andere Demokratie, Freiheit, Recht einschränken, verteidigen wir sie erst recht.“
Dass sich Steinmeier ausgerechnet den 8. Mai ausgesucht hat, um die Vereinigten Staaten zu belehren, ist wohl nicht nur der deutschen Neigung zum Moralisieren geschuldet. Das Staatsoberhaupt will damit signalisieren: Das Gerede vom „Schuldkult“, das ich bei anderen verabscheue, neutralisiere ich mit der stolzen Feststellung, dass wir aus unseren Fehlern und Verbrechen gelernt haben – andere nicht. Das wird man insbesondere in Washington registriert haben, zumal man dort der Ansicht ist, dass gewisse Länder in Europa im Begriff sind, die westliche Wertegemeinschaft zu beschädigen, durch Ignorieren des Wählerwillens und Kriminalisierung der Opposition.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz beschwor US-Vizepräsident J.D. Vance die westliche Wertegemeinschaft – jetzt wirft Steinmeier Amerika „Wertebruch“ vor.
„Stehen wir zu unseren Werten“, sagt Steinmeier, „wenn andere in Nationalismus verfallen und brachial ihre Interessen durchsetzen wollen“, und sich von den Vereinten Nationen und dem Völkerrecht verabschiedeten. Für den ersten Mann im Staate undenkbar, der mit der hochumstrittenen, von Diktaturen dominierten Institution und einem gewohnheitsmäßig missbrauchten Konstrukt derselben offenbar kein Problem hat.
Da er schon einmal dabei ist, die Lehren der Geschichte zu bemühen, um über den großen Teich zu stänkern, bekommt jetzt auch der zum Feind erklärte politische Gegner im Innern sein Fett ab: Die AfD erwähnt Steinmeier ebenfalls nicht explizit, reiht sie aber in die „extremistischen Kräfte“ ein, die in unserem Land erstarken: „Sie verhöhnen die Institutionen der Demokratie und diejenigen, die sie repräsentieren. Sie vergiften unsere Debatten. Sie spielen mit den Sorgen der Menschen. Sie betreiben das Geschäft mit der Angst. Sie hetzen Menschen gegeneinander auf. Sie erwecken alte böse Geister zu neuem Leben.“
Auch mit folgender Aussage dürfte Steinmeier die größte Oppositionspartei gemeint haben: „Wir wissen, wohin Abschottung führt, wohin aggressiver Nationalismus, Verachtung von demokratischen Institutionen führt. So haben wir in Deutschland schon einmal die Demokratie verloren.“ Wo hier „aggressiver Nationalismus“ praktiziert wird, sagt der Bundespräsident nicht, und massive Unzufriedenheit mit dem politischen Personal sollte auch nicht mit „Verachtung von demokratischen Institutionen“ verwechselt werden, aber hier soll offenbar das Narrativ vom bedrohten Staat gesetzt werden.
Ohne sie zu erwähnen, nahm Steinmeier die AfD-Opposition unter Beschuss.
Es gelte, „unsere Demokratie“ zu bewahren und zu schützen, so Frank-Walter Steinmeier. „Von außen kann uns niemand Freiheit schenken, müssen selbst für sie einstehen.“ Man solle man an den für richtig erkannten Prinzipien der liberalen Demokratie im Inneren und der internationalen Staatengemeinschaft im Äußeren festhalten. Der Rest war der übliche Appell an Miteinander, Zusammenhalt und den friedlichen Ausgleich der Interessen, die Aufgabe aller Demokraten seien. Der Zeitgeist schwärme für Disruption, dabei sei Regellosigkeit „nicht für alle eine Verheißung“. Man müsse „Zweifler“ für die Demokratie „zurückgewinnen“.
Hatte Steinmeier zu Beginn seiner Rede noch eindrücklich geschildert, wie Deutschland am Tag der bedingungslosen Kapitulation in Trümmern lag, und festgestellt, dass es Deutsche waren, die diesen Krieg entfesselten und das Menschheitsverbrechen der Shoah begingen, und dass die meisten dem Regime die Treue hielten, bestand ein wenig Hoffnung, Steinmeier könnte der Versuchung widerstehen, ausgerechnet am 8. Mai den moralischen Hochsitz zu erklimmen. Stattdessen verurteilte er Russland und Amerika in einem Atemzug.
Und das, obwohl ihm selbst bewusst und auch unübersehbar ist, dass sich der Antisemitismus „wieder in unserem Land zeigt“. Es sei „unerträglich, wenn sich Juden nicht mehr sicher fühlen, auch für unsere Demokratie“, es dürfe „keinen Raum für Antisemitismus geben“, obwohl sich in der Stadt, in der Steinmeier seine Rede hält, täglich zeigt, dass es eben doch Raum für den Judenhass gibt, weil die Politik zahllose Judenhasser ins Land gelassen hat. Dieses heikle Thema will Steinmeier dann aber lieber nicht vertiefen, das würde die zentrale These, wir hätten aus unserer Geschichte gelernt, doch zu sehr erschüttern.
Auch im Westen unseres Landes, das hatte der Präsident in seiner Rede bemerkt, habe man sich erst spät „quälende Fragen von Schuld und Verantwortung“ gestellt. Das ist richtig. Und es könnte sein, dass er und das gesamte politische Establishment es noch einmal tun müssen – wenn sie es denn schaffen, die eigene Selbstgerechtigkeit zu überwinden.
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