
Während der Unmut an der Unionsbasis über die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD täglich wächst, setzen Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) und sein Umfeld auf das große WENN als Hoffnungsparole: Die Umfragen, wonach Union und AfD gleichauf liegen, seien „bitter“, sagte Unionsfraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei (CDU) im Bericht aus Berlin (ARD). Es komme jetzt darauf an, das Vertrauen durch „gute Politik“ zurückzugewinnen.
An der Parteibasis von CDU und CSU wird inzwischen jedes Wort der Spitze verfolgt und gewogen. So habe man nur noch davon gesprochen, dass „Migration kontrolliert und begrenzt“ werden müsse. Dass Frei nicht mehr von „illegaler“ Migration sprach, wird von den skeptischen Teilen der Partei bereits als weiteres Zugeständnis an die SPD gewertet. Als Alarmsignal wurde vor diesem Hintergrund auch ein Interview mit SPD-Chefin Saskia Esken in der ZDF-Sendung Berlin direkt gewertet, bei dem Esken mit Blick auf die von Merz geforderte Asylwende erklärte: „Wir hatten die Wende bereits.“
Thorsten Frei verhandelt für die Union den Koalitionsvertrag mit.
Wörtlich sagte Esken: „Wir hören ja von der Innenministerin, wie stark die Zahlen zurückgegangen sind, wie viele Zurückweisungen im vergangenen Jahr bereits stattgefunden haben, dass wir also durchaus in der Lage sind, mehr Ordnung in die irreguläre Migration zu bringen.“
Außerdem verwies die SPD-Chefin auf die neue Asylpolitik der EU, die im kommenden Jahr in Kraft treten soll, von der Experten allerdings keine messbaren Auswirkungen auf den Zuzug nach Europa erwarten. Einer tiefgreifenden Reform des Asylsystems, wie es der Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Eckhard Sommer, gefordert hatte, erteilte Esken erneut eine klare Absage: „Es ist ganz klar, dass wir das Grundrecht auf Asyl, das in unserer Verfassung auch verankert ist, dort zu Recht verankert ist, auch auf der Grundlage unserer Geschichte, dass wir daran auch festhalten wollen.“
SPD-Chefin Saskia Esken am Montagmorgen
In der Union wird all das mit wachsender Skepsis bis hin zu Verzweiflung registriert. Optimistische Funktionsträger argumentieren, dass ein dauerhafter Rückgang der Migration, eine spürbare Erholung der Konjunktur, Rückbau der EU-Bürokratie und ein nach und nach einsetzender Amtsbonus eines Kanzlers Friedrich Merz die Werte der Union wieder steigen lassen könnte. WENN denn all diese Voraussetzungen einträten. Skeptiker wie der Chef der Jungen Union, Johannes Winkel, haben da offenbar Zweifel. Winkel drohte in der Süddeutschen Zeitung offen damit, dem Koalitionsvertrag die Zustimmung zu verweigern, wenn keine harten Punkte der Union enthalten seien. „Die CDU ist kein Kanzlerwahlverein mehr“, so Winkel. Bemerkenswert ist das Wort „mehr“ in dem Satz. Unklar hingegen ist, ob die Wortmeldung tatsächlich eine offene Drohung an Merz ist, oder lediglich als eine Art Schützenhilfe für die Verhandlungen gedacht ist.
Auch der Brandenburger CDU-Kreisverband Potsdam-Mittelmark schickte einen Brandbrief an Merz, in dem davon die Rede ist, dass sich etliche Mitglieder mit der Absicht trügen, aus der Partei auszutreten. Kreischef Christian Große fordert, die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen auch in der Union einer Mitgliederbefragung vorzulegen. Ein solches Vorgehen ist bei CDU und CSU nicht üblich und würde auch die Frage aufwerfen, wie zu verfahren wäre, wenn die Basis beider Parteien unterschiedlich entscheiden sollte. Rundheraus ablehnen kann Merz eine solche Abstimmung allerdings auch kaum, schließlich kam er selbst mit Hilfe der Mitglieder ins Amt des Parteichefs.
Unabhängig davon, ob diese Vorstöße lediglich Druck machen sollen oder tatsächlich den Ärger der Basis widerspiegeln, es ist in jedem Fall ein Misstrauensvotum gegenüber der Parteispitze und deren Verhandlungskompetenz, das es so noch nicht gegeben hat. Die Junge Union Filder sammelt derweil weiter Stimmen für eine Mitgliederbefragung, mit der analog zum geplanten Entscheid der SPD-Basis Druck für Zugeständnisse an die Union gemacht werden soll.
In der Berliner CDU-Zentrale gehen unterdessen nach NIUS-Informationen weiterhin Protestschreiben und Austritts-Mails ein, die sich frustriert über gebrochene Wahlversprechen und mangelnden Mut der Parteiführung beschweren.
Beispielhaft für die Stimmung an der Basis ist etwa der Brief eines Spenders (liegt NIUS vor) aus dem hessischen Büdingen, der davon berichtet, dass er unlängst von der bisherigen Bundesschatzmeisterin Julia Klöckner einen Dankesbrief mit Spendenquittung und einem „Windlicht“ erhalten habe.
Der promovierte Spender schreibt:
„Ihr Handeln ab Tag eins nach der Bundestagswahl ist das genaue Gegenteil von dem, was Sie vor der Wahl verkündet haben, warum wir Sie gewählt und Ihnen Geld gespendet haben. Sie haben das Ihnen entgegengebrachte Vertrauen in einer Geschwindigkeit zerstört, die beispiellos ist! Dieses Vertrauen haben Sie als Parteiführung, aber auch alle Mitglieder der alten Bundestagsfraktion, die den von Ihnen mit geradezu atemberaubendem Tempo betriebenen Änderungen des Grundgesetzes zugestimmt haben, vollständig und nachhaltig zerstört.“
Die vormaligen Unterstützer der Union zeigen sich aber nicht nur entsetzt vom Bruch der Wahlversprechen, sondern auch von der Stümperhaftigkeit der Verhandlungsführung. „Aber als ob durch die unangekündigte ‚Schuldenorgie‘ noch nicht genug Vertrauen zerstört wurde, haben Sie sich auch noch in die totale Abhängigkeit – zunächst von den Grünen, jetzt von der SPD – begeben. Sie sind brav über die Stöckchen gesprungen, die Ihnen Frau Dröge und Frau Haßelmann hingehalten haben – zu Lasten der nächsten Generationen. Und – oh Wunder – die SPD verhält sich, wie zu erwarten war: nachdem Sie sich mit der ‚Brandmauer‘ jeglichen politischen Spielraum verbaut haben, können die SPD-Verhandler genüsslich ihre Arsenale sozialistischer Folterinstrumente aus dem Archiv holen. Und das tun sie.“
Bemerkenswert ist allerdings nicht nur die Direktheit der Kritik, sondern auch die Detailschärfe, mit der sich nicht nur der Spender aus Hessen Luft macht: „Das heißt im Klartext: wenn von den ca. 370.000 SPD-Mitgliedern ca. 25% über den Koalitionsvertrag abstimmen, dann wird bei einer 50%igen Zustimmung die Politik der Bundesrepublik für die kommenden Jahre von 50.000 Mitgliedern einer 16%-Partei bestimmt! Das wollen Sie allen Ernstes zulassen? Wie war das doch noch mal: erst das Land, dann die Partei?“
Der Brief schließt mit den Zeilen: „Ein Wort noch zum Geschenk von Frau Klöckner: Ich erwarte von der CDU keine Geschenke – weder vor der Wahl noch danach. Ich erwarte die maximale Umsetzung der angekündigten Politik, für die ich und viele andere Menschen im Land Sie gewählt haben. Das ‚Windlicht‘, das mir eher wie ein ‚Grablicht‘ vorkommt, werde ich daher zurückschicken. Mit freundlichen Grüßen ...“
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