
Frankreich wird immer undemokratischer, und seine Regierenden wundern sich, dass ihnen dabei keiner folgen will. Nun wurde der vierte Premier binnen zehn Monaten zum Rücktritt gedrängt. Unter Emmanuel Macron erlebt Frankreich Regierungswirren, die allenfalls mit den ersten Jahren nach dem Weltkrieg vergleichbar scheinen, als schon einmal die Regierungschefs im Halbjahresrhythmus wechselten. Man könnte es historisch nennen, dass nun auch unter Macron eine ähnliche Premierminister-Dichte erreicht ist.
Auf Élisabeth Borne folgte Anfang 2024 der junge Macronist Gabriel Attal. Nach acht Monaten wurde der vom Republikaner Michel Barnier abgelöst, der das Jahr aber auch nicht zu Ende brachte. Kurz vor Weihnachten übernahm der Zentrist François Bayrou das Amt. 2024 war damit ein Vier-Premierminister-Jahr für Frankreich. Und jetzt, nach nicht einmal zehn Monaten, ist es auch mit dem Premier Bayrou vorbei. Gestürzt ist er, wie seine Vorgänger, vor allem über den Haushalt, die Verschuldung und den Versuch, irgendwo etwas einzusparen und diese Beschlüsse dann ohne eigene Mehrheit im Parlament durchzupeitschen. Das war meist nur per Dekret möglich. Es ging also zugleich immer undemokratischer zu.
Angesichts einer Staatsverschuldung von inzwischen mehr als 3,4 Billionen Euro und einem Haushaltsdefizit von derzeit 5,8 Prozent des BIP war Bayrous Anstrengung zwar notwendig, aber deshalb nicht weniger zum Scheitern verurteilt. Denn die Notwendigkeit allein holt in Frankreich noch nicht die Opposition ins Boot der Regierung. Das ist vielleicht anders als in Deutschland. Selbst die Drohung des Wirtschafts- und Finanzministers, Éric Lombard, dass Frankreich bei Nichthandeln ein IWF-Programm bevorstehen könnte, blieb ohne Erfolg. Die Oppositionsparteien von der radikalen Linken (La France insoumise) über Grüne und Sozialisten bis hin zum Rassemblement national (RN) blieben bei ihrer Ablehnung der Sparpläne.
Dabei würden auch sie das Staatsdefizit nur auf etwa 5,4 Prozent des BIP drücken. Der Maastrichter Vertrag hatte einmal drei Prozent Defizit und 60 Prozent Schuldenstand für alle Euro-Länder gefordert. Das kann schon lange als illusorisch gelten. Frankreich überschreitet gerade die 115-Prozent-Marke was die Gesamtschulden angeht. Der Euro steuert damit weiter munter in Richtung Schuldensozialismus. Allein im ersten Halbjahr 2025 nahm der französische Staat über 100 Milliarden Euro zusätzlicher Schulden auf. Letztes Jahr waren es 170 Milliarden Euro. In der zweiten Hälfte reißt man sich immer etwas zusammen. Aber auch aus deutscher Sicht sind das inzwischen normale Summen, nicht mehr als ein bis zwei kleinere „Sondervermögen“.
Am Montagnachmittag trat der Da-Noch-Premier Bayrou vor die Nationalversammlung, um seine Politik ein letztes Mal zu verteidigen. Er trug eine Art Regierungserklärung vor, auf die in diesem Fall eine Vertrauensfrage folgen sollte. Es war Bayrous solche Frage, die er bis dahin immer vermieden hatte. Er hätte sie ja eh nur verlieren können.
Der scheidende Premier verklärte sich dennoch zur demokratischen Lichtgestalt, die etwas wagt, weil es eben nicht anders geht. Das „größte Risiko“ hätte laut ihm darin bestanden, „nichts zu unternehmen und die Dinge einfach weiterlaufen zu lassen, ohne dass sich etwas ändert“. Das mag aus haushaltspolitischer Sicht richtig sein. Bayrou wollte, wenn er schon nicht regieren kann, zumindest die Franzosen mit einem Bravour-Abgang aufrütteln, sie sozusagen aufwecken aus ihrem fiskalpolitischen Schlaf. Dass das gelingen wird, bleibt mehr als zweifelhaft.
Seine Rede begann Bayrou mit einem historischen Höhenflug: „Frankreich hat seit 51 Jahren keinen ausgeglichenen Haushalt mehr gehabt.“ Die aufgenommenen Schulden aber würden sich immer weiter anhäufen. Das ist Volkswirtschaftslehre auf Grundschulniveau. „Wir produzieren weniger als unsere Nachbarn … Jedes Jahr geben wir mehr aus, als wir produzieren.“ Ein Land versinkt im anstrengungslosen Konsum (vieler) seiner Einwohner.
Zu den grundlegenden Problemen, die Bayrou aufzählte, gehören daneben „ein immenses Problem“ bei der nationalen Bildung, ein „immenses Wohnungsproblem“. Daneben sieht er tatsächlich auch „Herausforderungen in Bezug auf Sicherheit“ und „Gerechtigkeit“, streift dann die „entscheidende Frage“ der Zuwanderung und der Parallelgesellschaften. Aber dass sie die Wurzel vieler Übel ist, dem widerspricht Bayrou auf eine Art. Für ihn bleibt das Hauptproblem die Verschuldung: „Jedes Jahr geben wir mehr aus als unsere Ressourcen und oft sogar noch viel mehr.“
Dagegen warnt Bayrou davor, man dürfe nicht glauben, mit der Bereinigung der Migrations- und Ghetto-Lage im Land würden sich die Haushaltsprobleme in Luft auflösen, wie es das RN nahelegt. Doch das Problem liegt eher darin, dass bisher niemand diese Probleme mit der ethnischen Demographie Frankreichs entschieden genug angegangen ist. Und der junge Parteichef Jordan Bardella übt sich derweil in schon eher wirtschaftsliberalen Tönen, wenn er etwa ein Ende der „Normenlawine“ (auch aus der EU-Fabrik) anmahnt, die die Wirtschaft ersticke. Bardella spricht von „28.000 neuen Vorschriften, die die Europäische Kommission in den letzten 15 Jahren produziert hat“. Daneben soll ein wenig „Frankreich zuerst“ bei Staatsaufträgen dabei helfen, die Wirtschaft wieder anzufachen.
Derweil fordert die politische Linke eine rein linke Regierung ohne jede Spur von Macronie oder Konservativen. Letztlich zeigt sich so der fortgesetzte Wahlkampf, den Frankreich praktisch seit den letzten Wahlen nicht mehr beendet hat. Just an diesem Tag wird bekannt, dass der Berufungsprozess von Marine Le Pen gegen das Urteil, das ihr das passive Wahlrecht entzog, vom 13. Januar bis zum 12. Februar 2026 stattfinden soll. Das wäre wohl noch rechtzeitig für eine erneute Kandidatur um die Präsidentschaft, aber nicht früh genug für eine eventuelle Neuwahl des Parlaments. Le Pen hat auf kämpferische Weise gesagt, dass sie ihren Parlamentssitz in dem Fall opfern würde. Sie fordert trotzdem Neuwahlen.
Für Marine Le Pen ist die Abwahl Bayrous das „Ende der Agonie einer Geisterregierung“, die ohnehin nichts weiter als den Namen einer Regierung trug. Eine Regierung nur dem Namen nach.
Aber was folgt nun konkret aus der Abwahl? Schon vorab gab es im Grunde drei Szenarien: Emmanuel Macron begibt sich auf die komplizierte Suche nach einem neuen Premier. Erste Nachrichten sagen, dass Macron dies tun will, wobei sich die ihm zu Gebote stehenden Parteien im Grunde schon alle gegenseitig ausgeschlossen haben. Denn Macron will nicht mit den Linksradikalen der „France insoumise“ gehen, obwohl er nichts gegen Wahlbündnisse mit ihnen gegen Le Pen hatte. Dagegen will der Chef der Sozialisten, Olivier Faure, nur dann in eine Regierung eintreten, wenn es sich bei dieser nicht um eine „Kohabitation“ mit der Macronie oder der Rechten handelt. Also will er es gar nicht. Der Chef der Republikaner und Innenminister Bruno Retailleau will wiederum jeder sozialistischen Regierung das Vertrauen entziehen. Willkommen im Stillstands-Land Frankreich, wo man eine Art avanciertes Mikado zu spielen scheint. Wer sich zuerst rührt, verliert.
So könnte es am Ende doch auf eine erneute Auflösung der Nationalversammlung hinauslaufen, die allerdings auch gefürchtet wird. Und käme es so überhaupt zu neuen, anderen Mehrheiten? Das ist unsicher. Dann bliebe am Ende nur der Rücktritt von Macron selbst, den der aber erst im August wieder ausgeschlossen hat: Er werde dem Lande präsidieren „bis zur letzten Viertelstunde“. Ob das eine Drohung ist, könnten sich nun viele fragen. Jedenfalls scheint es noch ein bis zwei Jahre Stillstand für Frankreich zu bedeuten. Ob das angesichts der Finanz- und sonstigen Dynamik ratsam ist, müssen sich die Franzosen beantworten. Die Regierenden fürchten als nächstes die allgemeine Mobilisierung der Gewerkschaften, die ab Mitte September erwartet wird. Bis dahin soll es einen neuen Premier geben.