
„Für schnelle Entlastungen um mindestens fünf Cent pro kWh werden wir in einem ersten Schritt die Stromsteuer für alle so schnell wie möglich auf das europäische Mindestmaß senken“ – so steht es im Koalitionsvertrag. Keine drei Monate hat dieses Versprechen gehalten. Der Koalitionsausschuss hat am Mittwochabend in einer Nachtsitzung den Daumen über das Vorhaben gesenkt. Ausgerechnet das einzige Vorhaben, das wirklich alle Menschen gleichermaßen entlastet hätte, soll jetzt nicht kommen.
Für Klientelpolitik aller Art ist Geld da, natürlich zuvorderst über den aufgeblähten Sozialstaat. Das ewige CSU-Projekt der Mütterrente soll vorgezogen werden, die zentral versprochene Entlastung aller Menschen wird auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Das ist „soziale Gerechtigkeit“ in ihrer politisch final entstellten Form – alle haben weniger, damit einige mehr haben.
Die Stromsteuersenkung war im Dickicht genau dieser Klientelpolitik für Rentner, Gastronomen und E-Auto-Fahrer die einzige direkte, umfänglich sinnvolle und auch wirklich gerechte Maßnahme, die die Koalition versprochen hatte. Jetzt heißt es statt Entfesselung mehr Sozialstaat, statt politischer Ehrlichkeit wieder Interessenpolitik aus dem Hinterzimmer.
Friedrich Merz steht düpiert da und begreift das offensichtlich gar nicht so richtig. Am Donnerstag steht er auf der Bankwirtschaftlichen Tagung der Volksbanken und Raiffeisenbanken in Berlin und erzählt ganz beseelt davon, wie toll die „Atmosphäre im Koalitionsausschuss“ und wie „gut“ die Zusammenarbeit in der Koalition überhaupt und insbesondere mit Lars Klingbeil sei. Friedrich Merz ist auch noch begeistert, wenn man die Axt an die Reste seiner politischen Ehrlichkeit legt. Ein geradezu entrückter Auftritt.
Vor allem jener Lars Klingbeil zersägte das Versprechen, mit dem sich die CDU stolz präsentiert hatte, in Rekordzeit. Friedrich Merz und die Union hatten ihm dazu auch die Säge in die Hand gedrückt. Im Koalitionsvertrag heißt es: Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Und diesen Vorbehalt hat eben der SPD-Vorsitzende.
Da ist im Zweifel egal, was die CDU sagt. In einer internen Handreichung zur „Einordnung“ der Verhandlungsergebnisse im April feierten die Christdemokraten noch: „Der Politikwechsel kommt!“ Einer der wichtigsten Punkte: „Entlastung von Unternehmen und Verbrauchern dauerhaft (…) durch Senkung der Stromsteuer“. Das ist jetzt schon gestrichen: Klingbeil hat nein gesagt. So einfach kann Politik manchmal sein. Was das für den „Politikwechsel“ grundsätzlich heißt, sei dahingestellt.
Hendrik Wüst aus Nordrhein-Westfalen war im Vorfeld immerhin klug genug, den Schwarzen Peter dafür Lars Klingbeil zuzuschieben. „Es ist vor allem der Job des Finanzministers, das möglich zu machen – und es gibt eine Menge Möglichkeiten“, sagte der CDU-Ministerpräsident zu Politico. Unions-Fraktionschef Jens Spahn hingegen stellt sich sogar noch mit der dreistesten aller Rechtfertigungen vor die Kapitulation im Koalitionsausschuss. „Alle in der Koalition hätten gerne jetzt noch mehr gemacht“, sagte Spahn zu Bild. „Aber nach drei Jahren Rezession und knappen Kassen geht es nur schrittweise.“
Knappe Kassen – angesichts rund 170 Milliarden Euro geplanter Schulden allein für das laufende und kommende Jahr ein Hohn, überhaupt davon zu sprechen. 5,4 Milliarden Euro im kommenden Jahr sollen nicht finanzierbar sein – gleichzeitig gibt der Bund allein zur Bezahlung der neuen Schulden fast das Vierfache aus. Die ewige Mütterrente der CSU kostet genauso viel wie die Stromsteuersenkung. Sie wird jetzt vorgezogen. Das ist mal eine klare Prioritätensetzung: Wohlfahrtsstaat statt Entlastung und wirtschaftliche Dynamik.
Dieser zentrale Wortbruch ist keinem Bürger mehr vermittelbar. Viele Menschen hatten Umfragen zufolge sogar noch mit Milde und gar Verständnis auf die massiven Sonderschulden und damit den Wortbruch von Friedrich Merz reagiert. Dieses Verständnis dürfte aufgebraucht sein. Denn dass der Staat mit seinem Ausgaben-Marathon mal wieder aus dem Vollen schöpft, während die Bürger insgesamt leer ausgehen, kommt als Botschaft ganz klar an. Dass Politiker wie Jens Spahn der Öffentlichkeit im Nachgang noch mit Erzählungen über „knappe Kassen“ verspotten, auch.
Selbstverständlich wären vergleichsweise läppische Einbußen durch die Umsetzung des Stromsteuer-Versprechens verkraftbar – wenn man denn wollte und wenn man denn tatsächlich bereit wäre, Ausgaben zu priorisieren. Aber Lars Klingbeil will das nicht. Und wenn Lars Klingbeil etwas nicht will, passiert es nicht. Das ist die simple Logik der schwarz-roten Koalition. Und genau das passiert eben, wenn man nicht erst den Kassensturz macht und das Sparen im Haushalt nicht an den Anfang stellt, wie die CDU im Wahlkampf richtigerweise gepredigt hatte.
Mit „Politikwechsel“ hat die Entscheidung vom Mittwochabend gar nichts zu tun – es ist mal wieder eine Nachtsitzung, an deren Ende der Bürger als der Dumme dasteht. Wo Partikularinteressen der Partei- und Klientelpolitik mal wieder das große Ganze schlagen.