Bei Lanz: Deutschlands Sozialstaat droht der Kollaps

vor etwa 10 Stunden

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Selten hat eine neue Bundesregierung so schnell ihren politischen Kredit beim deutschen Wahlvolk verspielt wie die amtierende Regierung mit Friedrich Merz als Kanzler. Mehr als zwei Drittel der deutschen Wähler sieht die aktuelle Regierung kritisch. Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Bundesbürger erst dieses Jahr im späten Winter gewählt haben, sind die Zustimmungswerte ein signifikantes Indiz für einen katastrophalen Fehlstart.

Im frühen Herbst dieses Jahres nun wollen die angeschlagenen Koalitionäre aus Union und SPD das Ruder herumreißen. Es sollen endlich überfällige Reformen des überbordenden Sozialstaats angepackt werden. So zumindest verspricht es der Kanzler vollmundig. Allerdings hat er die Rechnung ohne die SPD und ohne den Koalitionsvertrag gemacht. Dort steht fast gar nichts von größeren Reformen des Sozialstaats. Die bockige SPD will nichts von Einsparungen wissen und deshalb tituliert SPD-Chefin Bas die Einsparpläne des Kanzlers unflätig als “Bullshit”.

Die donnerstägliche Talkrunde bei Lanz legt an diesem Abend den Fokus auf den Sozialstaat. In der Sendung fehlen allerdings hochkarätige Gesprächspartner mit Prokura in der Praxis. Britta Haßelmann hat als Oppositionspolitikerin gar keine Gestaltungsmacht, und Johannes Winkel verfügt als Chef der Jungen Union zwar über Einfluss, aber nur über sehr wenig. Trotzdem ist der Talk interessant. Offenbart die Diskussion doch das politische Kernproblem des Landes. Die konservativen politischen Kräfte möchten Deutschland vor dem finanziellen Kollaps bewahren und pochen auf Reformen des Sozialstaats. Linke Parteien hingegen möchten am liebsten noch mehr Sozialstaat und gar keine Reformen.

Weil sich die Union weigert, eine bürgerliche Mehrheit im Bundestag zu nutzen, kommt es zu einer politischen Blockade von nötigen Reformen durch linke Parteien in der Regierung. Trotzdem kommt niemand in der Runde auf die Idee, dass es eigentlich naheliegend ist, dass es eine andere Koalition in Deutschland braucht, weil es die aktuelle nicht bringt.

Obwohl die Grünen nach der Ampel eigentlich in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwunden sind, werden grüne Funktionäre weiterhin als gern gesehene Dauergäste in die diversen Talkrunden des Landes geladen und medial hofiert. Ein häufiger Gast in den Sendungen von ARD und ZDF ist Fraktionschefin Britta Haßelmann. Diese ist sichtlich erfreut über die in den Seilen hängende Koalition. “Die Regierung steht schon jetzt dort, wo die Ampel gegen Ende stand”, analysiert sie süffisant grinsend.

Haßelmann stellt der aktuellen Regierung ein schlechtes Zeugnis aus. “Die Regierung funktioniert nicht”, meint die Bielefelderin. Mit dieser Einschätzung ist die ehemalige Sozialarbeiterin nicht allein. Teilen doch fast 70 Prozent der Menschen in Deutschland die gleiche Einschätzung.

Wirklich punkten können die Grünen mit ihrer Kritik an der Regierung nicht. Die Ökosozialisten haben sich bei kümmerlichen elf Prozent in den Umfragen eingependelt. Die Tendenz zeigt nach unten. Auf dem gleichen dürftigen Niveau in den Umfragen liegt die SPD. Obergenossin Bärbel Bas nannte bei einer Veranstaltung der Jusos in NRW die Einsparpläne von Kanzler Merz “Bullshit”.

Der Chef der Jungen Union sieht den Auftritt von Bas sehr kritisch. “Es ist kein gutes Benehmen”, kritisiert Johannes Winkel die Bundesarbeitsministerin. “Gerade beim Bürgergeld gibt es großes Einsparpotenzial”, erklärt der Jurist. Britta Haßelmann glaubt nicht an Einsparungen des Bürgergelds. “Niemals wird die Regierung im Bürgergeld große Summen einsparen”, mutmaßt Haßelmann. Damit dürfte sie recht haben. Die derzeitige Rechtsprechung in Deutschland verhindert Kürzungen von Sozialleistungen. Die Koalition müsste erst das Gesetz ändern, um beispielsweise die Regelsätze im üppigen Bürgergeld kürzen zu können.

Aktuell kann die Regierung lediglich eine Nullrunde beschließen. Für den Journalisten Michael Bröcker ist die Blockadehaltung von Bas ein Unding. “Dass Bas Reformen verweigert, ist fast schon unverschämt“, poltert er. Aus seiner Sicht ist das System in Deutschland krank. Es sei einer Marktwirtschaft unwürdig, wenn eine Geringverdiener-Familie nur aufgrund von Sozialleistungen mehr Geld habe als eine Bürgergeld-Familie, beklagt Bröker.

Obwohl man meinen könnte, dass 50 Milliarden für Bürgergeld eine große Belastung für den Sozialstaat sind, sollte man nicht vergessen, dass die eigentliche fiskalische Brandbombe die Renten und Pensionen in Deutschland sind. Johannes Winkel schlägt deswegen Alarm. “2029 kollabiert das System”, prophezeit der Bundestagsabgeordnete.

Auch Britta Haßelmann sieht naturgemäß weniger das Bürgergeld als die Rente als Herausforderung an. “Das Bürgergeld macht nur 4,2 Prozent des Sozialetats aus”, erläutert sie. Reformvorschläge für das Rentensystem hat sie nicht zu bieten.

Ganz anders Winkel. Der Staat würde Frühverrentung subventionieren, beklagt er. “Die Rente mit 63 muss abgeschafft werden”, fordert er. Er spekuliert: “Es kann eine stille Kündigung des Generationenvertrags geben.” Jüngere Arbeitnehmer könnten tatsächlich in den kommenden Jahren Deutschland verlassen, um der erdrückenden Abgabenlast zu entkommen. Reformen in Sachen Rente wird es mit der SPD aber so schnell nicht geben. Die geschrumpften Genossen sind auf ältere Wählerschichten angewiesen und wollen diese nicht vergraulen. Deshalb wird die Union nicht umhinkommen, der SPD im Gegenzug für Reformen etwas zu bieten.

“Die Union wird einzelnen Steuererhöhungen zustimmen”, berichtet Journalist Michael Bröcker. Er glaubt aber nicht an eine schnelle Wandlung zum Besseren. Erst müsse man buchstäblich in der Scheiße sitzen, bevor gehandelt werde, glaubt Bröcker. “Proaktiv sollten Reformen angegangen werden”, ist sein Ratschlag an die Politik.

Die Quintessenz der politischen Plauderrunde an diesem Donnerstag ist aber, dass die politische Kaste in Deutschland nicht dazu bereit ist, proaktiv zu handeln. Weite Teile der etablierten Parteien verteidigen lieber einen nicht zu haltenden Status Quo und verweigern sich den Gegebenheiten der Zeit. Die Angst um das eigene politische Fortkommen hindert Politiker daran, mutige Entscheidungen zu treffen. Von einer Regierung unter einem Kanzler, der so ziemlich jedes Versprechen bricht, um seine Position abzusichern, ist ohnehin nicht viel Positives zu erwarten.

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