
Vielversprechendes ergänzt viel „weiter so“ im Sondierungspapier, das am Ende der harten Gespräche zwischen Union und SPD steht. Es ist ein Kompromiss – an vielen Ecken ein fauler. Doch es gibt auch Triumphmomente. Beim Themenkomplex Migration ist eindeutig die Handschrift derer erkennbar, die einen „Politikwechsel“ in diesem Bereich versprochen hatten.
Im Endeffekt setzt die Union ihren Fünf-Punkte-Plan durch, den sie noch im Januar zur Kampfabstimmung im Bundestag gestellt und gegen den die SPD stark mobilisiert hatte. Jetzt tragen die Sozialdemokraten ihn mit. Es soll also Zurückweisungen an den Grenzen geben – und zwar ausnahmslos auch bei Asyl-Gesuchen.
Diese zentrale Forderung der Union ist das Herzstück bei jeder ernsthaften Begrenzung und Bekämpfung illegaler Einwanderung. Die Grenzen sollen dafür dauerhaft und umfassend kontrolliert werden. Der Familiennachzug soll „ausgesetzt“ werden, heißt es. Das betrifft allerdings nur subsidiär Schutzberechtigte und reduziert die Zuwanderung per Familiennachzug daher nur bruchstückhaft.
Zudem will Schwarz-Rot eine „Rückführungsoffensive starten“: „Wir erarbeiten umfassende gesetzliche Regelungen, um die Zahl der Rückführungen zu steigern“, verspricht man im Sondierungspapier. Die Bundespolizei soll die Kompetenz erhalten, „für ausreisepflichtige Ausländer vorübergehende Haft oder Ausreisegewahrsam zu beantragen, um ihre Abschiebung sicherzustellen.“ Rückführungen soll es auch nach Syrien und Afghanistan geben: Dorthin „werden wir abschieben“, versprechen Union und SPD – „beginnend mit Straftätern und Gefährdern.“
Auch sollen Möglichkeiten für einen Ausreisearrest für ausreisepflichtige Gefährder und Täterschwerer Straftaten nach Haftverbüßung geschaffen werden. „Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die Kapazitäten für die Abschiebehaft deutlich zu erhöhen. Die Möglichkeiten zur Aberkennung des Schutzstatus bei Straftätern wollen wir konsequenter anwenden.“ Außerdem soll das Konzept der sogenannten Bezahlkarte für Flüchtlinge bundesweit kommen, eine Debitkarte, auf die ein monatlicher Betrag eingezahlt wird. So sollen sie kein Bargeld mehr erhalten.
Alles schafft die CDU bei Migration nicht: Das reformierte Staatsbürgerschaftsrecht der Ampel etwa bleibt erhalten, die Möglichkeit des Passentzuges für Extremisten ist hier das handfesteste, was die Union gewinnen konnte. Die von CDU und CSU als „Turbo-Einbürgerung“ bezeichnete Politik läuft dementsprechend weiter. Und selbst die Begrenzung des Familiennachzuges nur für subsidiär Schutzberechtigte ist zeitlich begrenzt, heißt es im Papier.
Die Formulierung, man werde Zurückweisungen „in Abstimmung mit den europäischen Nachbarn“ vornehmen, die Merz auch in der Pressekonferenz betonte – sie soll wohl die Wogen mit den Nachbarstaaten glätten, die empfindlich auf die Ankündigung von Zurückweisungen reagiert hatten. Wie weit diese Formulierung eine echte Migrationswende am Ende in europäischem Hickhack und Streitigkeiten am Vorankommen hindern wird, ist offen.
Insgesamt ist die Bilanz des Sondierungspapiers für CDU und CSU bei Migration mehr als positiv: Sie haben sich weitreichend durchgesetzt und haben jetzt zumindest formal alle Möglichkeiten, eine versprochene Wende tatsächlich anzustoßen. Das muss die Union auch liefern.
Bei der Wirtschaftspolitik hatte die SPD schon Pflöcke eingeschlagen und mit massiver Neuverschuldung den Kurs gesetzt – eine christdemokratische Wirtschaftspolitik im Sinne Ludwig Erhards hält auch das Sondierungspapier nicht fest. Die Einigung vom Dienstagabend wird bekräftigt: ein „Sondervermögen Infrastruktur“ von 500 Milliarden Euro über zehn Jahre, dazu Sonderschulden für Verteidigung. Das alles soll eilig mit dem alten, abgewählten Bundestag beschlossen werden. Der neue soll jedoch eine grundsätzliche „Reform“ der Schuldenbremse ausarbeiten.
Wirtschafts-, industrie- und energiepolitisch verständigt man sich auf ein weitgehendes Weiter-So entlang eines dirigistischen Klimapfades. Die Koalition bekennt sich: Wir stehen zu den deutschen und europäischen Klimazielen, wohlwissend, dass die Erderwärmung ein globales Problem ist und die Weltgemeinschaft es gemeinsam lösen muss. Wir arbeiten entschlossen daran, diese Klimaziele einzuhalten.“
Grüne Industriepolitik wird fortgesetzt: Die Rede ist unter anderem von „Quoten für klimaneutralen Stahl, eine Grüngasquote oder vergaberechtliche Vorgaben.“ So will man „Leitmärkte für klimaneutrale Produkte schaffen“. Den hohen Strompreisen für die energieintensive Industrie will man mit einer Ausweitung der Subventionierung begegnen: „Wir streben eine Ausweitung der Regelungen der Strompreiskompensation auf weitere energieintensive Branchen an und wollen die Kompensation verlängern.“
Die Stromsteuer soll gesenkt werden. Außerdem will man das Energie-Angebot ausbauen – neben dem Bekenntnis, dass man „alle Potentiale der Erneuerbaren Energien nutzen“ wolle, ist auch die Rede von „bis zu 20 GW an Gaskraftwerksleistung“, die man bis 2030 ans Netz bringen will. Der Weg der Energiewende wird fortgesetzt: Dass im Sondierungspapier ein Satz über den „erste[n] Fusionsreaktor der Welt“festgehalten wird, den man bauen wolle, bedeutet keinesfalls einen ernsthaften Kurswechsel hin zur Atomenergie.
Wichtige Strukturreformen in Wirtschaft und Staat geht man nicht an: Die Frage nach Priorisierung von Ausgaben findet so gut wie nicht statt. Man nimmt radikal Schulden auf und umgeht damit diese Frage einfach, bekennt lediglich lapidar, man werde „auch Einsparungen vornehmen“ wollen. Auf „eine ziel- und wirkungsorientierte“ Haushaltspolitik werde man „schrittweise“ hinarbeiten.
Bürokratieabbau findet formal Platz im Sondierungspapier: Überbordende Bürokratie werden wir zurückbauen, etwa durch die Abschaffung von Berichts-, Dokumentations- und Statistikpflichten“, heißt es. Die Zahl der gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsbeauftragten soll signifikant reduziert werden, die Bürokratiekosten sollen in den nächsten vier Jahren um ein Viertel gesenkt werden. Aber hier ist Vorsicht geboten: Alle Regierungen der letzten Jahre versprachen Bürokratieabbau, keine lieferte ihn ernsthaft.
Bei der Rente wird ein typischer, fauler Kompromiss geschlossen: Das Rentenniveau wird nicht erhöht, aber „stabilisiert“. Auch das Rentenalter wird in Stein gemeißelt, soll also auch nicht erhöht werden, was viele angesichts einer alternden Gesellschaft für notwendig erachten. Das Problem der belasteten und maroden Rentenkassen wird damit nicht aktiv verschlimmert, aber eben auch nicht aktiv angegangen. Die Zeitbombe des zusammenbrechenden Rentensystems – sich mit ihr ernsthaft zu befassen, wird aufgeschoben.
Zudem soll ein flächendeckender Mindestlohn von 15 Euro die Stunde eingeführt werden. Die Mütterrente, ein altes CSU-Projekt, soll „vollendet“ und Müttern, die Kinder erzogen haben statt zu arbeiten, so eine bessere Stellung in der Rentenkasse gesichert werden.
Eine durchaus ernüchternde Bilanz: Dringend notwendige Reformen an der Struktur von Sozialstaat, Staatsausgaben und Regulierungen kommen gar nicht oder nur zaghaft. Zu zaghaft – hier verspielt die Koalition ihre eigentlich historischste und relevanteste Aufgabe, das Land wieder im Kern zu gesunden und auf einen Erfolgs- und Wachstumspfad zu führen. Die schwierigen Strukturreformen will man offensichtlich vermeiden, stattdessen sollen hunderte Milliarden an deren Stelle die Wirtschaft ankurbeln. Das kann aber nur ein kurzer Fix sein – harte, aber notwendiger Fragen bleiben unbeantwortet.
Man schichtet nur um, nominell verschiebt man etwas: Die wahren Probleme geht man nicht an. Das ist Augenwischerei: So schafft man kein nachhaltiges Wachstum, sondern sorgt nur für Show-Effekte. Vermeidet auch der Koalitionsvertrag konsequent eine Beschäftigung mit den strukturellen Leiden der deutschen Wirtschaft, bleibt jedes nominelle Wirtschaftswachstum, das vielleicht erzielt werden kann, nur kurzfristiges Tischfeuerwerk.
Die Einigung ist der Schritt zu Koalitionsverhandlungen: Dort wird es konkret und die Substanz von vielem, was jetzt formal festgeschrieben ist, erst dann ersichtlich. Das Sondierungspapier erscheint jedoch als Kuhhandel – die Union setzt sich beim Diskurs-Thema Nummer eins, der Migration, durch. Sie wahrt so nach der Schulden-Orgie vom Anfang der Woche das Gesicht und hat die Chance, ein gesellschaftliches Kernthema endlich anzugehen. Bei Wirtschaft, Sozialstaat und den großen Fragen von strukturellen Reformen setzt sich jedoch die SPD durch – und erstickt relevante Reformprozesse in einem Weiter-So linker Industrie-, Wohlfahrts und Wirtschaftspolitik. Die „Wirtschaftswende“ wird kassiert, damit die „Migrationswende“ eine Chance hat.