
Mit einem Blick auf den Ton im Internet könnte man annehmen, dass „zivilisierter Diskurs im Internet nur ein Mythos“ sei, beginnt die CBS-Moderatorin Sharyn Alfonsi ihre Dokumentation des Formats 60 Minutes. Besorgt blickt sie auf das World Wide Web, in dem die „Grenzen der Höflichkeit“ immer weiter ausgetestet werden – und auf ihr eigenes Land, in dem die meisten Äußerungen durch die Meinungsfreiheit geschützt sind, selbst wenn sie „hasserfüllt oder toxisch“ sind.
Doch es gibt ein Land, das diese „Höflichkeit“, von der Alfonsi so gerne spricht, noch nicht aufgegeben hat, sondern für die guten Sitten kämpft, wenn es sein muss, auch im wahrsten Sinne des Wortes bewaffnet und mit der ganzen Härte des Staates: Deutschland natürlich. „Policing the Internet“, nennt sie das Vorgehen der deutschen Behörden gegen Internet-Trolle, und so lautet auch der Titel der Doku. Sie ist nach Deutschland gereist, um sich diesen faszinierenden Kampf für den Anstand einmal genauer anzuschauen.
„Wie wir festgestellt haben, beginnt das oft mit einem Weckruf der Polizei vor Tagesanbruch.“ Die deutschen Behörden kooperieren sehr gerne mit der ausländischen Presse, wenn es darum geht, ihre Mission in die Welt zu tragen. Sharyns Kamerateam darf bei einer Hausdurchsuchung in Niedersachsen dabei sein. „Es ist 06:01 Uhr an einem Dienstagmorgen und wir waren bei der Landespolizei dabei, die in dieser Wohnung eine Razzia durchgeführt hat.“
Sechs bewaffnete Polizisten durchsuchen die Wohnung des Verdächtigen. Er soll eine rassistische Karikatur gepostet haben. Die Polizisten finden, was sie gesucht haben: Der Laptop und das Handy des Verdächtigen werden beschlagnahmt. In Tüten zeigen sie ihre Beute stolz in die Kamera. Zur gleichen Zeit, so klärt Alfonsi auf, sollen über Deutschland hinweg über 50 weitere Durchsuchungen dieser Art stattgefunden haben.
Die Begründung für eine solche Durchsuchung ist meist, dass dadurch festgestellt werden soll, ob der Post tatsächlich durch den Verdächtigen abgesetzt wurde. Doch man muss annehmen, dass das nicht die wahre Intention der Staatsanwälte ist, die solche Untersuchungsbeschlüsse beantragen. Jedenfalls nicht die von den drei Staatsanwälten, die Alfonsi interviewt. „Wie reagieren die Menschen, wenn ihr ihnen ihre Handys wegnehmt?“, fragt Alfonsi.
Wenn der deutsche Staat dir morgens um 6 dein Gerät wegnimmt, weil du ein Vizekanzler-Schwachkopf-Meme retweeted hast. pic.twitter.com/yEWv0hwyHW
— Argo Nerd (@argonerd) February 17, 2025
„Sie sind schockiert“, erklärt einer der Staatsanwälte und stimmt mit seinen Kollegen in schadenfrohes Gelächter ein. Alfonsi lacht mit. Geschieht den blöden Internet-Trollen recht. „Es ist eine Art von Strafe, wenn man sein Smartphone verliert, es ist sogar noch schlimmer als die Geldstrafe“, führt der Staatsanwalt fort. „Ja, dein ganzes Leben ist heutzutage typischerweise auf deinem Handy“, ergänzt Alfonsi.
Es ist vielsagend, dass der Staatsanwalt hier von „Strafe“ spricht. Immerhin geht es in dem Stadium der Hausdurchsuchung und der Beschlagnahme von Gegenständen nicht um Straftäter, sondern um Verdächtige. Gerade weil die Maßnahmen der Strafverfolgung aber wie Strafen wirken können und – das stellt der Jurist ja richtig fest – sogar noch schlimmer, muss jedes staatliche Handeln eigentlich verhältnismäßig sein. Ob die Verhältnismäßigkeit gegeben ist, wenn man schon bei Äußerungsdelikten die gesamte Palette der zur Verfügung stehenden Mittel ausreizt, sollte eigentlich fraglich sein. Und ob bei der Schadenfreude der Staatsanwälte nicht eigentlich auch ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt wohl auch.
Dass das Leben in unserer Dauer-Online-Gesellschaft schon zerstört ist, wenn mal das Handy einkassiert wird, kann man noch leichter belächeln. Dass schon das Erlebnis, sechs bewaffnete Polizisten vor der Tür zu haben, die die Wohnung durchsuchen und die Kinder wecken, ein traumatisches Erlebnis ist, lässt man vollkommen außer Acht. Man bekommt den Eindruck, dass solche Folgen nicht als Contra-Argument gegen eine Hausdurchsuchung abgewogen werden, sondern dafür. Um den bösen Internet-Trollen mal ein paar auf die Finger zu geben.
Die Dokumentation bestätigt, was man nach den vielen Berichten über Hausdurchsuchungen wegen Äußerungsdelikten vermutet hatte: Hausdurchsuchungen und grundsätzlich das starke Durchgreifen der Justiz in den Fällen, die sie mit dem nicht-rechtlichen Begriff „hate speech“ betitelt, ist nicht nur Dienst nach Vorschrift. Man wählt diese Mittel bewusst hart und mit allen Konsequenzen, um Lektionen zu erteilen. Auch schon in Stadien, in denen Objektivität geboten wäre.