
Polens Ministerpräsident Donald Tusk hat sich mit scharfen Worten gegen die neue Grenzpolitik der Bundesregierung gewandt. Im polnischen Fernsehen (TVP Info) hat er deutlich gemacht, dass Polen nicht mehr bereit ist, Migranten von der westlichen Grenze – insbesondere aus Deutschland – zurückzunehmen. Weiter erklärte er, dass er im äußersten Falle bereit sei, „die Grenze zu schließen“ und berief sich dabei auf Artikel 72 des EU-Vertrags. Dieser gestattet es den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aus Sicherheitsgründen vertragliche Verpflichtungen vorübergehend auszusetzen.
Damit beruft sich Tusk auf eben jene Rechtsgrundlage, mit der Deutschland wiederum das strengere Grenzregime begründet hatte. Eigenen Aussagen zufolge seien diese Drohungen auch auf fruchtbaren Boden gefallen. „Die Deutschen haben das verstanden“, so Tusk im Gespräch mit TVP Info weiter. Eine offizielle Reaktion auf Tusks Ankündigung steht indes aus. Das Bundeskanzleramt verweist gegenüber Focus online lediglich auf die gemeinsame Pressekonferenz von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Donald Tusk anlässlich des Kanzler-Antrittsbesuchs in Warschau. Weitergehende Nachfragen wurden nicht beantwortet.
Artikel 72 über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erlaubt es den Mitgliedstaaten, zum Schutz der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit in Ausnahmefällen vom EU-Recht abzuweichen. Ob dieser Artikel angewendet werden darf, um eine striktere Flüchtlingspolitik zu vollziehen, ist jedoch umstritten. Die Folge ihrer Aktivierung ist, dass das Dublin-Abkommen ausgesetzt wird. Umfassende Grenzkontrollen sowie die Zurückweisung von Migranten sind in der Folge möglich.
Ob dieses Vorgehen rechtlich zulässig ist und vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) akzeptiert wird, ist jedoch fraglich. Der EuGH hat in mehreren Urteilen klargestellt, dass Abweichungen vom EU-Sekundärrecht nur in „ganz bestimmten außergewöhnlichen Fällen“ erlaubt sind, wenn sie unbedingt notwendig sind und keine milderen Mittel zur Verfügung stehen. Die Mitgliedstaaten müssen dafür objektive und belegbare Gründe vorlegen, und die Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein – an diesen Hürden sind Staaten in der Vergangenheit regelmäßig vor dem EuGH gescheitert.