
In dieser Woche hat der scheidende amerikanische Präsident Joe Biden der Ukraine die Nutzung des Army Tactical Missile System (ATACMS) für Angriffe auf Ziele in Russland gestattet. Diese Entscheidung markiert einen Wendepunkt im Ukraine-Konflikt. Und ist brandgefährlich.
Die ATACMS-Raketen ermöglichen es der Ukraine, tief in Russland militärische, aber auch zivile Ziele anzugreifen. Damit ist in diesem Konflikt eine neue Eskalationsstufe erreicht, die schwerwiegende Folgen für diesen Krieg, aber auch für den Frieden in Europa und möglicherweise sogar auf der ganzen Welt haben kann.
Bevor wir uns mit den möglichen Folgen dieser Eskalation befassen, klären wir zuerst einmal, was die ATACMS-Raketen überhaupt sind.
Die ATACMS ist eine taktische Boden-Boden-Rakete, die von mobilen Startplattformen wie dem M270 Multiple Launch Rocket System (MLRS – ein Kettenfahrzeug) oder dem HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System – ein LKW-Dreiachser) abgefeuert wird. Das System hat eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern und nutzt GPS-gestützte Technologie, um Ziele mit hoher Genauigkeit zu treffen. Es ist in der Lage, eine Vielzahl von Sprengköpfen zu tragen, darunter Splittersprengköpfe (um wie früher das Schrapnell möglichst viele Menschen zu töten) oder bunker- und panzerbrechende Gefechtsköpfe. Der Stückpreis liegt bei ca. einer Million Euro für ältere und bei eineinhalb Millionen Euro für neuere Modelle.
Entwickelt wurde das System in den 1980er Jahren während des Kalten Krieges von Lockheed Martin mit dem Ziel, ein Langstreckenwaffensystem zu schaffen, das feindliche Truppenansammlungen, Luftabwehrsysteme und Logistikzentren aus sicherer Entfernung angreifen kann. Eingesetzt wurde die ATACMS im Golfkrieg 1991 und im Irakkrieg 2003, um irakische Luftabwehrsysteme und militärische Infrastruktur zu zerstören, was zur schnellen Luftherrschaft der Alliierten beitrug. Seit seiner Einführung wurden inzwischen neuere Versionen des Systems entwickelt, die längere Reichweiten haben, noch präziser treffen und unterschiedliche Nutzlasten tragen können. Zu den bekanntesten Varianten zählen der Block I, der eine Reichweite von 165 Kilometern hat, und der Block IA, der Ziele bis zu einer Entfernung von 300 Kilometer trifft.
MLRS-Systeme der Südkoreanischen Streitkräfte. (Archiv)
Die Ukraine verwendet bereits HIMARS-Systeme (mit einer Reichweite von 77 Kilometer) für präzise Angriffe auf russische Truppen und Infrastruktur. Mit den ATACMS wird die Reichweite dieser Systeme jedoch erheblich erweitert, was es ermöglicht, Ziele tief im russischen Hinterland anzugreifen. Dadurch können logistische Knotenpunkte, Nachschubwege, Kommandozentralen, aber auch Kasernen getroffen werden. Dass früher oder später die Ukraine mit den ATACMS auch Wohnhäuser, Schulen oder Krankenhäuser in Russland treffen kann und wird, ist wahrscheinlich, erscheint jedoch nach der Doktrin der taktischen Vergeltung, der auch die USA anhängen, vertretbar, wenn nicht sogar erwünscht. Russland greift selbst ständig zivile Ziele in der Ukraine an, was nach Berichten der United Nations Human Rights Monitoring Mission in der Ukraine zu 10.000 toten Zivilisten (darunter 560 Kinder) und 18.500 Verletzten geführt hat – da kann die Ukraine es Russland, so die Logik der NATO, fortan mit gleicher Münze heimzahlen.
Jetzt, da wir wissen, was die ATACMS-Raketen können, stellen sich mehrere Fragen: Was bringt diese Waffe genau? Was in diesem Krieg wird durch ihren Einsatz besser? Welche Ziele wird die Ukraine jetzt erreichen, die sie ohne diese Raketen nicht erreichen hätte? Werden die ATACMS der Ukraine dabei helfen, ihr von Russland besetztes Territorium (ca. 18 Prozent des Staatsgebietes der Ukraine vor 2014) zurückzugewinnen? Oder, sollte das nicht funktionieren, bringt der Einsatz der ATACMS die Ukraine (und auch Russland) wenigsten dem Frieden, mindestens aber einem Waffenstillstand mit darauffolgenden Friedensverhandlungen näher?
Um es vorwegzunehmen: Ich glaube nichts von alledem. Ganz im Gegenteil: Ich bin davon überzeugt, dass der Einsatz der ATACMS-Raketen in diesem Krieg die Situation der Ukraine sowohl taktisch (kurzfristig) als auch strategisch (langfristig) nicht nur nicht verbessern, sondern im Gegenteil verschlechtern wird. Ich glaube, dass dieser folgenschwere Schritt den Krieg verlängern, die Aussicht auf Frieden verdunkeln und einen späteren Friedensvertrag, der irgendwann kommen muss, deutlicher zu Ungunsten der Ukraine wird ausfallen lassen, als es ohne diese militärische Eskalation der Fall gewesen wäre.
Solche Behauptungen müssen begründet werden. Bevor ich das tue, möchte ich zuerst die angeblichen Gründe der Biden-Regierung für die Freigabe der ATACMS-Systeme genau zu diesem Zeitpunkt, wenn schon nicht widerlegen, so doch in Frage stellen.
Einer der Hauptgründe dafür, dass die Biden-Regierung den Einsatz der ATACMS auf Ziele in Russland nach monatelangem Zaudern freigegeben hat, soll der sein, dass seit einigen Wochen ca. 11.000 Soldaten (plus ein Dreisternegeneral und 500 Offiziere) aus Nordkorea im Kursker Kessel Seite an Seite mit den Russen kämpfen.
Dieser Grund überzeugt nicht. Die Präsenz der Nordkoreaner ist durch Satellitenaufnahmen bewiesen – das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass diese Truppen aus einem notorisch unterernährten Land weder über Kampferfahrung verfügen noch die Motivation haben, für ein Land zu kämpfen, mit dem sie nichts verbindet. Das wird ihre Effektivität einschränken. Diese Truppe in Divisionsstärke ist kein Grund für die Ukraine, mit den besten ballistischen Kurzstreckenraketen aus dem Arsenal der Amerikaner Ziele in Russland anzugreifen. Insbesondere, da dies den Krieg in der Ukraine bis nach Nordkorea und mittelbar auch nach China verlängert, weil das kommunistische Steinzeitregime in Pjöngjang nichts anderes als ein Klientelstaat Chinas ist, der ohne den großen Bruder wirtschaftlich, technisch und militärisch längst am Ende wäre.
Nein, das kann nicht der wahre Grund für diese jüngste Eskalation sein. Der liegt woanders, und es gibt nicht nur einen, sondern mehrere.
Der erste echte Grund ist die Absicht der Biden-Regierung jetzt, wenige Wochen vor dem Regierungswechsel im Januar, Versäumnisse aus der Vergangenheit auszugleichen und Positionen zu zementieren.
Biden und sein Verteidigungsminister überlegen seit Monaten, ob sie der Ukraine erlauben sollen, mit den HIMARS (von denen die ATACMS abgeschossen werden) Ziele in Russland anzugreifen. Bislang hat Biden es nicht getan, weil er vermutlich dachte, dass, wenn schon nicht er, dann immerhin Kamala Harris Präsidentin würde und für den Einsatz der ATACMS noch viel Zeit bliebe. Das war eine der vielen Fehleinschätzungen von Biden und Harris.
Jetzt, da Trump der nächste Präsident wird, ist diese Kalkulation Bidens über den Haufen geworfen, weshalb Hetze, Hast und Eile strategisches Denken ersetzen müssen. Das ist eine fatale Kombination, die an den überstürzten und schmachvollen Rückzug Bidens aus Afghanistan im Jahr 2021 erinnert und zeigt, dass Biden unüberlegtes Hasardieren seit jeher über kluges Denken und scharfes Analysieren stellt.
Mit dem ‚Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act of 2022‘ erteilte der US-Kongress Präsident Joe Biden eine Carte blanche für Waffenlieferungen an die Ukraine.
Die Amerikaner sind nicht die einzigen, die über Waffen verfügen, mit denen die Russen tief im eigenen Land angegriffen werden können. Briten und Franzosen haben die gemeinsam entwickelten (und baugleichen) Marschflugkörper Storm Shadow and SCALP-EG an die Ukraine geliefert, bis dato aber deren Einsatz auf Ziele in Russland ebenfalls verboten. Seitdem die Amerikaner ihre NATO-Verbündeten jedoch vor ein Fait accompli stellten, haben Briten und Franzosen Angriffe mit ihren weitreichenden Marschflugkörpern umgehend erlaubt, was den Konflikt sofort verschärft hat: am 20.11. hat Kiew mit Storm Shadows das russische Hauptquartier in Kursk getroffen. Die Biden-Regierung wollte mit ihrer ATACMS-Freigabe aber auch auf Deutschland Druck ausüben, damit Kanzler Scholz endlich Taurus-Mittelstreckenwaffen für den Angriff auf Ziele in Russland freigibt.
Wenn das passiert, und die friedliebenden deutschen Medien befürworten die Freigabe der Taurus-Marschflugkörper ganz massiv, dann wäre eine weitere Eskalationsstufe erreicht, durch welche mehrere NATO-Länder im direkten Konflikt mit Russland stünden, kommen doch die Techniker und Spezialisten für Kalibrierung und Zielfindung dieser Waffen stets aus NATO-Staaten.
Das ist der eigentliche Elefant im Raum, von dem aber kaum einer spricht: Die ATACMS sollen durch die von ihnen verursachten Zerstörungen den Druck auf Russland massiv erhöhen. Soweit, bis Putin die Angriffe auf die Ukraine entweder ganz einstellt oder wenigstens bei Friedensverhandlungen die von Russland besetzten Gebiete an die Ukraine zurückgibt und eventuell sogar akzeptiert, dass die Ukraine Mitglied von NATO und EU wird.
Das Problem mit dieser These ist: Es ist nur eine These. Eine These, die auf der rein psychologischen Annahme beruht, dass ein Diktator wie Putin, der überdies einen erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung genießt, sich durch Drohungen, Macht und Gewalt zu Verhandlungen zwingen ließe. Verhandlungen, die ihn zur Aufgabe der mit hohen russischen Verlusten eroberten und annektierten ukrainischen Gebiete zwängen – und dann auch noch mit der Aussicht, nach Friedensschluss ein NATO-Mitglied vor seiner Haustür zu haben.
Das wird nie und nimmer passieren. Die hundert oder zweihundert ATACMS (in Summe besitzen die Amerikaner ca. 1000 Stück), die die USA der Ukraine geliefert haben, können durchaus schwere Schäden in Russland anrichten. Aber sie können die militärische Überlegenheit der Russen nicht aushebeln, also werden sie Putin weder zum Rückzug aus der Ukraine noch später zu Konzessionen am Verhandlungstisch zwingen. Im Gegenteil: Bidens unüberlegte Last-Minute-Action wird Putin, aber auch das russische Volk verärgern und verhärten. Putin wird seinerseits mit neuen und schlagkräftigeren Waffen reagieren und den Krieg auf das nächste Level heben.
Diese ballistischen Mittelstreckenraketen der USA werden die Lage für die Ukraine nicht besser, sondern schlimmer machen. Mehr Menschen werden sterben (auf beiden Seiten), der Krieg wird länger dauern, und Putin wird, sitzt er irgendwann am Verhandlungstisch, keinen Zentimeter eroberten Bodens mehr preisgeben.
Auf den letzten Metern seiner Amtszeit gestattet Joe Biden ukrainische Schläge auf russischem Staatsterritorium.
Die Biden-Regierung hat in ihren letzten Wochen damit eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt, die, wie historische Vergleiche zeigen, gravierende Konsequenzen haben wird.
Ein Vergleich, der sich förmlich aufdrängt, ist der mit dem Vietnamkrieg (1955-1975). Auch da hat das Engagement der Vereinigten Staaten unter Präsident Dwight Eisenhower 1960 mit wenigen hundert Spezialisten begonnen, bis acht Jahre später unter Präsident Lyndon B. Johnson eine halbe Million US-Soldaten in Vietnam standen. Auch da haben die USA immer wirkungsvollere, immer zerstörerische Waffen eingesetzt – von den Bombenteppichen der B-52-Bomber, die Nordvietnam in die Steinzeit zurückbomben sollte, über den Brandkampfstoff Napalm, der Menschen und Maschinen zu Asche werden lässt, bis zum chemischen Kampfstoff Agent Orange, der die Urwälder Vietnams entlauben sollte, um feindliche Guerillas sichtbar zu machen. Geholfen hat alles freilich nichts: Das von den USA unterstützte Südvietnam hat den Krieg katastrophal verloren.
Genauso sinnlos war der Versuch Präsident Richard Nixons, an Weihnachten 1972 durch Bombenangriffe (Operation Linebacker II – „Christmas Bombing“) von nie dagewesener Stärke den Nordvietnamesen Zugeständnisse bei den laufenden Pariser Friedensverhandlungen abzutrotzen. Nach tausenden Toten in Nordvietnam, 15 abgeschossenen amerikanischen Bombern und 43 toten Besatzungsmitgliedern waren die Auswirkungen auf die Friedensverhandlungen aus Sicht der USA gleich null, ja sogar negativ: Im Januar 1973 unterzeichneten Friedensvertrag bekamen die Nordvietnamesen alles, was sie wollten.
In einer Zeit, in der selbst die seriösesten Zeitungen dazu aufrufen, die NATO müsse die Ukraine dabei unterstützen, hart und wirkungsvoll gegen Russland zurückzuschlagen, muss an eine alte Wahrheit erinnert werden: Kriege werden durch Verhandlungen beendet – und nicht durch immer mehr und immer schrecklichere Waffen, immer mehr Soldaten, immer mehr Terror und Gewalt.
Der einzige Weg zum Frieden in der Ukraine ist der, den Donald Trump seit Monaten skizziert, und den er in seiner zweiten Amtsperiode auch gehen will: Verhandlungen und Deal-Making. Einen anderen gibt es nicht.