Von Straßburg bis nach Cottbus, vom Jugendclub bis zur Bezahlkarte: 12 Orte, an denen die Brandmauer bereits gefallen ist

vor 6 Monaten

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Bildquelle: NiUS

Sie ist politisches Unwort und eine schiefe Metapher zugleich: die „Brandmauer“ ist seit Monaten Teil des immer wieder bemühten Vokabulars der politischen Mitte. Je mehr Wahlen die AfD gewinnt und je mehr Gestaltungsanspruch sie damit anmeldet, desto stärker fällt der Bekenntniszwang für die CDU (aber auch SPD) aus, eine Zusammenarbeit mit der Rechtspartei auszuschließen.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz bekräftigte mehrfach, dass die Brandmauer „sehr fest steht“. Generalsekretär Carsten Linnemann „bekräftigte“ gleich mehrere Male, sie wurde von Ricarda Lang und Michael Kellner, von Kevin Kühnert und Lars Klingbeil aufgegriffen. Angesichts des CDU-Parteitags im Mai hieß es sogar selbstreferenziell: „Wir sind die Brandmauer“.

Dass die Brandmauer aber ein antidemokratisches Auslaufmodell ist, welches sinnvolle Mehrheiten verhindert, die gebraucht werden, um das Land zu verändern, wurde unlängst ausgeführt. Weitaus bemerkenswerter erscheint die Tatsache, dass die Brandmauer, aller Bekräftigungen, Unkenrufe und Durchhalteparolen zum Trotz, Risse erhält – und es immer mehr Beispiele gibt, die zeigen, dass es Formen der Kooperation gibt, die sich durchsetzen.

NIUS hat zwölf Beispiele gesammelt, die ein bereits bestehendes Zusammenarbeiten mit der AfD dokumentieren – ohne dass dadurch die Bundesrepublik untergegangen wäre:

Beispiel 1: Oktober 2024, Straßburg (EU-Parlament), AfD / CDU

Das jüngste Beispiel ist vielleicht das prominenteste: Ein Antrag zur „angemessenen Finanzierung“ für Zäune an den EU-Außengrenzen von der Fraktion „Europa der Souveränen Nationen“ (ESN), zu der auch die AfD gehört, wird mit einer breiten rechten Mehrheit angenommen. Auch Abgeordnete der „Europäischen Volkspartei“ (EVP), der EU-Partei der CDU/CSU, stimmen dem Antrag zu. Etliche deutsche CDU-Mitglieder beteiligen sich an der Verabschiedung des Antrags.

Dabei ist es in mehreren europäischen Ländern schon gang und gäbe mit Rechtsparteien zusammenzuarbeiten; anderswo wurden systemkonservative Strömungen marginalisiert und sind gar nicht mehr in der Position, vorzugeben, ob sich Zusammenarbeiten gehören oder nicht. Die Kampagnenplattform Campact, die durch ihre dezidierte Anti-AfD-Haltung bekannt wurde, zeigt sich aber entsetzt – und spricht von einem „Tabubruch“. Man kommt zu dem bemerkenswerten Schluss: „Demokratische Parteien kritisierten: CDU hat ein Abgrenzungsproblem zur AfD“.

Beispiel 2: Oktober 2024, Sachsen, AfD / CDU

Drei Wochen vor der Abstimmung im EU-Parlament sprechen sich sechs CDU-Mitglieder in einem offenen Brief dafür aus, die Brandmauer niederzureißen. In dem Schreiben heißt es: „Wir müssen auch mit der AfD reden!“. Und weiter: „Rund 30 Prozent der Sachsen haben die AfD gewählt und der Respekt vor den Wählern fordert, auch mit den von diesen gewählten Abgeordneten zu reden“, weshalb es eine „neue politische Kultur des Miteinanders“ brauche.

Man sei überzeugt „als Partei der Mitte auf Dauer nicht nur mit links von ihr stehenden Parteien zusammenarbeiten zu können, ohne ihre eigene freiheitliche und marktwirtschaftliche Identität zu riskieren“. Den Initiatoren zufolge darf „der politische Gegner, solange er keine Gewalt anwendet, nicht als Feind gesehen werden“.

Manfred Kolbe (hier im Jahr 2000 als Justizminister Sachsens) plädiert für eine „neue Kultur des politischen Miteinanders“ – und gegen die Brandmauer.

Die politischen Ziele der Christdemokraten in der Wirtschafts-, Migrations- oder Gesellschaftspolitik würden sich, so die Verfasser, zudem nicht mit „Rot-Grün-Dunkelrot“ realisieren lassen. Zu den Unterzeichnern zählen der ehemalige Generalsekretär der CDU Sachsen, Frank Kupfer, der ehemalige Justizminister, Manfred Kolbe, zudem drei einstige Landeräte in Person von Manfred Graetz, Gerhard Gey und Robert Schöpp. Die sechste Unterzeichnerin ist Angelika Pfeiffer, die für die CDU von 1990 bis 2009 im Bundes- und Landtag saß – und sich in einem weiteren offenen Brief jüngst gegen eine Koalition mit dem BSW ausgesprochen hatte.

Beispiel 3: Juli 2024, Boizenburg in Mecklenburg-Vorpommern, AfD / CDU

Im Juli gewann in Boizenburg der CDU-Politiker Dennis Aukstein-Scheuten (CDU) die Wahl zum Bürgervorsteher – dank der Stimmen von AfD und der Wählergruppe Heimat und Identität (HuI). Das Endergebnis lautete 10 zu 9 Stimmen, war also knapp. Aus Sicht der anderen Parteien war die Wahl aber „undemokratisch“, kamen die entscheidenden Stimmen doch von AfD und Heimat und Identität (HuI) – also Rechtsparteien.

Hochwasser an der Eldemündung in die Elbe in Boizenburg.

Der SPD-Ortsverein Boizenburg teilte mit, die CDU habe die Brandmauer einreißen lassen. Ein Stadtvertreter der Linken zeigte sich auf der Plattform Instagram entsetzt, wo er einen „Tag der Schande in Boizenburg“ herbeischrieb.

Beispiel 4: September 2023, Cottbus in Brandenburg, AfD / CDU

AfD und CDU beschließen in Cottbus, dass die Stadt in der Lausitz nur noch ein Minimum an Asylbewerbern aufnehmen wird. Besonders brisant: Die beiden Parteien stimmten nicht nur zusammen ab, sondern brachten einen gemeinsamen Antrag ein. Es kam also schon vor der Abstimmung zu einer Zusammenarbeit. In dem Antrag wird der Status der Stadt Cottbus als „sicherer Hafen“ revidiert. „Das Ziel der AfD, die mit ihrem ursprünglichen Antrag die weitere freiwillige Aufnahme von Geflüchteten verhindern wollten, ist damit erreicht worden“, schreibt der rbb, „– mit Hilfe der Cottbuser CDU“.

Beispiel 5: September 2023, Erfurt in Thüringen, AfD / CDU

Im Landtag von Thüringen setzt die CDU gemeinsam mit der FDP und der AfD aus der Opposition eine Senkung der Grunderwerbsteuer durch. Der von der CDU eingereichte Gesetzentwurf sieht vor, dass der Steuersatz von derzeit 6,5 auf fünf Prozent verringert wird. Außerdem sollen Käufer von Immobilien für den Eigenbedarf künftig bis zu einem Betrag von 25.000 Euro von der Steuer freigestellt werden.

AfD-Abgeordnete heben die Hand zur Abstimmung während der Sitzung des Thüringer Landtags. Auch hier ist die Brandmauer bereits gefallen.

Der CDU-Chef Mario Voigt sah in der Reform eine echte Entlastung für Familien und mittelständische Unternehmen. Die Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion Katja Mast hingegen war außer sich: „Hier wurde von Anfang an mit den Stimmen der AfD geplant. Jede und jeder, der jetzt bei der CDU noch von einer Brandmauer spricht, lügt sich selbst in die Tasche“, so Mast. „Das, was wir hier erleben, ist ein historisches Versagen der CDU. Dafür tragen Friedrich Merz und sein CDU-Vorstand die Verantwortung.“

Beispiel 6: März 2024, Dresden in Sachsen, AfD / CDU

Der Dresdner Stadtrat nimmt einen Antrag der AfD-Fraktion zur Einführung einer Bezahlkarte für Asylbewerber an – auch mit Stimmen der CDU-Fraktion. Die Entscheidung des Stadtrats fällt dabei mit 33 zu 32 Stimmen denkbar knapp aus. Auch die Fraktionen von FDP und Freien Wählern unterstützen den AfD-Antrag. Vor der Abstimmung hatte CDU-Politiker Thomas Lehmann erklärt, dass seine Fraktion dem Antrag auch deshalb positiv gegenüberstehe, weil sie befürchte, dass die Einführung einer bundesweiten Bezahlkarte noch lange auf sich warten lassen könnte – es aber um realistische Lösungen jetzt geht.

CDU-Chef Friedrich Merz zeigte sich hingegen erbost. „Die Entscheidung ist in der Sache richtig, im Verfahren inakzeptabel“, so Merz. „Das war ein Fehler. Und wir werden über alles Weitere mit den Betroffenen sprechen.“ Die ARD tagesschau titelt: „Bröckelt die Brandmauer?“

Friedrich Merz sah in der Abstimmung im Dresdner Stadtrat eine richtige Entscheidung, aber dahinter ein Verfahren, das „inakzeptabel“ sei.

Beispiel 7: Dezember 2022, Bautzen in Sachsen, AfD / CDU

Mitte Dezember 2022 stimmte eine Mehrzahl der CDU-Kreistagsmitglieder in Bautzen, darunter auch Landrat Udo Witschas, einem Antrag der AfD-Fraktion zu, wonach abgelehnte und ausreisepflichtige Asylbewerber keine Sprachkurse oder Integrationsleistungen mehr erhalten sollten. Der Entscheidung zuvorgegangen war bereits ein Eklat, für den Landrat Witschas sorgte. In einer Weihnachtsansprache sagte er, er sei nicht bereit, „den Sport für diese Asylpolitik bluten zu lassen“ – über die mögliche Belegung von Turnhallen und Sportstätten. Gleiches gelte für die Unterbringung von „Menschen, die unsere Kultur nicht kennen“.

Die ARD tagesschau trieb das Thema um. Sie titelte im Dezember 2023, also ein Jahr danach: „Nach dem Tabubruch“.

Der CDU-Landrat Udo Witschas

Beispiel 8: Dezember 2022, Hildburghausen in Thüringen, AfD / SPD

In Hildburghausen entstand zum Jahreswechsel 2022/2023 ein Konflikt in der SPD, nachdem zwei SPD-Stadtratsmitglieder gemeinsam mit den Stadträten der AfD für die Einleitung eines Abwahlverfahrens gegen den Bürgermeister Tilo Kummer von der Linkspartei gestimmt hatten.

Der Antrag war erfolgreich: Der Bürgermeister der südthüringischen Stadt Hildburghausen, Tilo Kummer (Linke), wurde abgewählt. Bei der Abstimmung votierten 2853 Menschen für seine Abwahl, lediglich 1390 dagegen.

Wurde einst durch einen AfD-SPD-Antrag abgewählt – und ist heute Mitglied des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW): Tilo Kummer.

Beispiel 9: Mai 2020, Forst in Brandenburg, AfD / Linke

Im brandenburgischen Forst soll entschieden werden, was mit dem Jugendzentrum vor Ort geschieht. Gegen die Pläne, ein altes Gebäude zu sanieren und zu einem Jugendzentrum auszubauen, regt sich Widerstand: Linke, AfD und das Wählerbündnis favorisieren einen Neubau und schließen sich zu diesem Zweck zusammen. Schnell ist auch hier von einem „Tabubruch“ die Rede.

Im November 2020, ein halbes Jahr später, kommt es erneut zum Eklat: Vertreter der Linksfraktion stellen gemeinsam mit zwei AfD-Lokalpolitikern und zwei Mitgliedern der Fraktion „Gemeinsam für Forst“ einen Antrag auf eine Sondersitzung der Stadtverordnetenversammlung. Schon wieder wird zusammengearbeitet, schon wieder gibt es wegen kommunalpolitischen Nichtigkeiten Empörung.

Beispiel 10: September 2019, Frankenstein in Rheinland-Pfalz, AfD / CDU

In Frankenstein unweit von Kaiserslautern bilden CDU und AfD eine gemeinsame Fraktion. Dieser gehören CDU-Politikerin Monika Schirdewahn und ihr Ehemann Horst Schirdewahn von der AfD an. Als Fraktion nennen sich die Schirdewahns „Fortschritt Frankenstein“. Die CDU-Frau erklärt: „Wir leben in einer Demokratie und nicht in einer Diktatur, und was mein Mann und ich machen, ist gelebte Demokratie“. Zudem verwies sie auf pragmatische Lösungen bei der lokalen Trinkwasserversorgung, die damals Zuarbeit aus der Fraktion benötigen sollte.

Die Gemeinde Frankenstein in Rheinland-Pfalz, idyllisch gelegen im Pfälzer Wald.

Nach scharfer Kritik aus den Reihen der CDU wurde die Frau aus der CDU ausgeschlossen. Die Fraktion gibt es heute, selbstredend, nicht mehr.

Beispiel 11: August 2019, Görlitz in Sachsen, AfD / CDU

In der ersten Sitzung nach der Kommunalwahl wird der von der AfD aufgestellte freiwillige Feuerwehrmann Markus Hartung mit 20 Stimmen in den Ausschuss für Umwelt und Ordnung gewählt, obwohl die AfD nur 13 Sitze im Stadtrat hat. Nach Überzeugung der anderen Fraktionen kamen die überzähligen Stimmen aus der CDU-Fraktion.

Der Chef der AfD-Fraktion erklärte im Anschluss bei Report Mainz, beide Parteien hätten bei der Besetzung der Ausschüsse „weitgehend gemeinsam abgestimmt“.

Beispiel 12: September 2019, Gohrisch in Sachsen, AfD / Grüne / CDU

Im Gemeinderat einer kleinen Stadt bei Pirna bilden zwei von der CDU aufgestellte Ratsmitglieder, ein Grüner und ein AfD-Politiker eine gemeinsame Fraktion. Die Empörung ist groß, die Bundesgrünen distanzieren sich von ihrem Ratsmitglied Uwe Börner.

Dieser kann die Aufregung nicht verstehen. Es gehe doch nur um Spielplätze, um das Grundwasser, um das Wohl der Bürger, sagt der dem Spiegel. „Die letzten Jahre hat es doch niemanden interessiert, was wir hier gemacht haben.“

Auch bei NIUS: „Die Brandmauer-Debatte soll versuchen, die Normalität einer rechten demokratischen Kraft auszuschließen“ – Ex-CDU-Finanzsenator Peter Kurth im Interview bei Ralf Schuler:

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