Politik und Medien verlieren das Vertrauen – und finden es nicht wieder

vor 24 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Kinder lieben das Spiel „Blinde Kuh“. Einer bekommt die Augen verbunden und muss dann etwas finden. Gesteuert werden die Spieler durch Hinweise wie „kalt“, „warm“ oder „heiß“ – je nachdem, wie Nahe der Sucher dem Gesuchten kommt. SPD-Chef Lars Klingbeil hat bei Maybrit Illner Blinde Kuh gespielt. Die Moderatorin hat ihn gefragt, ob er glaube, dass es der AfD in den Umfragen helfe, wie bedingungslos die CDU in den Koalitionsverhandlungen der SPD nachgibt. Warm. Klingbeil antwortete, nein, das komme von dem Vertrauensverlust, den es in Deutschland gebe. Heiß. Ganz heiß. So nahe kommt dieser Tage nur selten ein Sozialdemokrat einer richtigen Erkenntnis.

Nur stolpert Klingbeil von jetzt an in die falsche Richtung und singt das Lied von der Schuld der anderen. Es gäbe rechte Netzwerke. Die arbeiteten im Geheimen und versauten so die Stimmung in Deutschland und nähmen vertrauenswürdigen Politikern wie ihm das wohl verdiente Vertrauen weg. Kalt. Richtig kalt. Klingbeil argumentiert wie ein Verschwörungstheoretiker. Der mutmaßt gerne, für den eigenen Misserfolg seien unsichtbare fremde Kräfte verantwortlich – sonst bliebe einem ja nur noch die eigene Unzulänglichkeit als Ursache. Und wer will sich die schon eingestehen?

Beim „Blinde Kuh“-Spiel wird gerne geschummelt. Am beliebtesten ist das Linsen. Der Spieler schaut unter der Binde durch, verschafft sich so klare Sicht und gewinnt damit die Partie. Doch an der Stelle muss der Text die Analogie verlassen. Denn bei der Blinden Kuh geht es darum, Übersicht zu gewinnen: durch Tasten, Auswerten der Hinweise oder halt durch Schummeln. Politische Akteure wie Klingbeil wollen gar keine klare Sicht mehr. Das ist ihr Problem. Das führt dazu, dass die Wähler ihnen gegenüber zunehmend das Vertrauen verlieren.

In dieser Woche herrschte freie Sicht auf die Vorgänge, die zu diesem Vertrauensverlust führen: Es begann mit einem Paukenschlag in Frankreich. Ein Gericht befand Marine Le Pen des Betrugs gegenüber dem Europaparlament schuldig und verurteilte sie unter anderem dazu, an der nächsten Präsidentschaftswahl nicht teilnehmen zu dürfen – obwohl sie deren aussichtsreichste Bewerberin war. Das Gericht sah es als bewiesen an, dass die Europa-Abgeordnete Le Pen ihre Mitarbeiter systematisch und verbotenerweise für die Arbeit in der Partei zweckentfremdete. Sie dafür schuldig zu sprechen, geht in Ordnung. Über das Strafmaß lässt sich indes streiten.

Vor allem dann, wenn in Deutschland ein Journalist darüber berichten kann, dass dieser systematische Missbrauch von staatlich bezahlten Mitarbeitern hierzulande üblich ist. Normal kommt das nicht ans Licht. Alle Beteiligten haben ein Interesse daran, es im Dunkeln zu lassen. Um ihre Karriere und damit ihre Existenz abzusichern. Doch in diesem einen Fall handelt es sich um einen Journalisten, der selbst als solcher Mitarbeiter diesen Missbrauch miterlebt hat – unter anderem begangen von der heutigen Vorsitzenden der deutschen Grünen, Franziska Brantner.

TE berichtete über diesen Fall, der durch das französische Urteil an Relevanz massiv gewonnen hat. Es ging auch eine Anfrage an das Büro Brantners, die mittlerweile im Bundestag sitzt. Mehrfach. Doch Brantner ließ diese Anfragen unbeantwortet. Ironischerweise ging es im Wahlkampf von 2011, in dem sie ihre Mitarbeiterin verbotenerweise für Partei-Arbeit abgestellt hat, um das „Informationsfreiheitsgesetz“. Das garantiert Medien ein Auskunftsrecht. Brantner war dafür. Damals.

Achhhh, Thurnes, wird mancher jetzt kommentieren. Kapierst du es nicht? Damals profitierte sie von der Forderung nach einem Auskunftsrecht, heute hätte sie einen Nachteil dadurch. Also ist es nur „Geschwätz von gestern“. Schon klar. Kapiert. Nur genau in dieser üblich gewordenen Reaktion liegt ein Kernproblem dieses Landes. Oder zumindest seiner politischen Führung: Der ehemalige SPD-Chef Franz Müntefering hat einst gefordert, man solle damit aufhören, Politiker an ihren Versprechen im Wahlkampf zu messen. Er hatte Erfolg. Kaum ein Bürger vertraut noch in die Versprechen eines Politikers. Bloß bedeutet das einen Vertrauensverlust in die Politik. Ein Preis, den sie für diesen Erfolg zu zahlen hat. Nur haben CDU, CSU, SPD, Grüne und Linke gemeinsam beschlossen, dass man künftig seine Schulden nicht mehr bezahlen muss – es genügt, Schuldenbremsen abzuschaffen.

Kalt. Die Christgrünsozialisten liegen mit ihrer Vorgehensweise so eiskalt. Kälter geht es gar nicht. Denn klar, kannst du ohne Bremse fahren. Nur fliegst du dann halt aus der ersten Kurve. Klar, kannst du unbegrenzt Schulden machen. Nur bist du dann halt irgendwann überschuldet. Und klar, kannst du den Wähler ermahnen, deinen Versprechen nicht zu vertrauen. Nur genießt du dann halt irgendwann kein Vertrauen mehr. Und dann sitzt du im Staatsfernsehen und musst etwas von einer rechten Verschwörung faseln – als Antwort auf die Frage, warum du nicht mehr gewählt wirst. Würdest du die Hand nur leicht ausstrecken, hättest du die Antwort in der Hand. Heiß. Ganz heiß.

Wobei es in der Geschichte noch etwas zu erwähnen gibt: die Frage Illners nach der Schuld von SPD und CDU. Die war erstaunlich kritisch. Fast schon beängstigend präzise. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein für ein Staatsfernsehen, das der Bürger mit neun Milliarden Euro Zwangsgebühren jedes Jahr finanzieren muss. Doch diese Präzision und Bereitschaft einer Journalistin zur Kritik ist so selten geworden, dass sie eine Schlagzeile wert geworden ist: „AfD-Aufstieg wegen SPD-Taktik? Illners heikle Frage an Klingbeil“, titelt die Bild. Dass eine kritische Journalistin so selten geworden ist, dass es eine gelungene Frage in die Überschrift schafft, ist vernichtend für die mediale Landschaft in Deutschland. Noch vernichtender geht es nicht.

Die deutsche Medienlandschaft hat in ihrem allergrößten Teil ihre Aufgabe als Vierte Gewalt einfach aufgegeben. Deutsche Journalisten verstehen sich als Weggefährten der Herrschenden, mit denen sie im Marsch marschieren. Investigativ arbeiten sie nur noch gegen Oppositionelle oder jeden, der aus dem Tritt kommt. TE hat diesen Journalisten die Meldung von der grünen Vorsitzenden angeboten, die das gleiche „Verbrechen“ begangen hat, für das Le Pen in Frankreich von der Wahl ausgeschlossen hat. Keiner hat es aufgegriffen.

Stattdessen haben sie ihr Schlagzeilen geschenkt wie: „Von Parität weit entfernt: Brantner kritisiert CDU-Frauenbild als von vorgestern“ (n.tv). Nicht nur die Politik, auch die Medien leiden unter Vertrauensverlust. Es gibt nur eins, mit dem diese Medien den Vertrauensverlust erleiden: mit Recht.

Deutschland spielt „Blinde Kuh­“. In der Politik wie in den Medien. Nur haben deren Eliten die Spielregeln geändert. Es geht nicht mehr darum, das Gesuchte zu finden – es ist tabu, das Gesuchte zu finden. Wer es mit Worten begreift, wird von der „Blinde Kuh“-Gesellschaft mit Schmähworten wie „Hass und Hetze“ überzogen, um die wirtschaftliche Existenz gebracht oder wie Michael Ballweg gleich unter fadenscheinigen Vorwänden ins Gefängnis gebracht. Das Gesuchte nicht zu finden, darin ist Lars Klingbeil ein Meister, ein Vorsitzender.

Die allermeisten Journalisten wissen auch, wie das funktioniert – und greift doch einmal einer aus Versehen nach einer richtigen Erkenntnis, ist das so selten, dass es eine Schlagzeile wert ist.

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