Brasilien – autoritär mit Demokratiefassade

vor etwa 11 Stunden

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Bildquelle: Tichys Einblick

Der größte Staat Südamerikas bewegt sich spätestens seit 2024 in Richtung eines gelenkten Staates mit stark eingeschränkten Bürgerrechten, obwohl verfassungsmäßige Rechte formal weiter existieren, obwohl oppositionelle Parteien arbeiten können – wenn auch unter starken Einschränkungen – und Wahlen stattfinden. In der TE-Artikelserie „Kampf um die Meinungsfreiheit“ geht es um die Ähnlichkeit von parallel in etlichen Staaten verfolgten Strategien zur Grundrechtseinschränkung, die einander in Techniken und Narrativen zu sehr ähneln, als dass sie unabhängig voneinander entstanden sein könnten.

In Brasilien zeigen sich zum einen die Auswirkungen einer sehr stark politisierten Justiz, die in Wahlen eingreift, indem sie Kandidaten ausschließt oder unter Anklage stellt. Das Vorgehen des Obersten Gerichtshofs mit seiner zentralen Figur Alexandre de Moraes erinnert grundsätzlich an Wahlsteuerung per Justiz in Rumänien, Frankreich und Venezuela, für die auch das schwarz-rote Bündnis in Deutschland demnächst formalrechtliche Grundlagen schaffen will.

Auch die Einschränkung sozialer Medien findet sich in Brasilien zwar in einem sehr fortgeschrittenen Stadium – aber eben nicht nur dort. Im August 2024 verfügte Richter de Moraes die Abschaltung von X im gesamten Land, um die Plattform zur massenhafte Löschung ‘rechter‘ Profile zu zwingen. Damit setzte er praktisch um, was EU-Vertreter und deutsche Politiker bis hin zur CDU diskutieren und fordern.

Zudem kommt Europäern auch die Begriffswahl des herrschenden sozialistischen Präsidenten, des Obersten Gerichtshofs und ihrer Anhänger in den Medien bekannt vor: erstens die Formel, die autoritäre Druckausübung auf Oppositionspolitiker und Bürger diene dem Schutz der Gesellschaft und der Demokratie, zweitens die willkürliche Verwendung von Versatzstücken wie „Desinformation“ und „Fake News“ für alle Veröffentlichungen, die der herrschenden Linie zuwider laufen. Der Kampfbegriff „digitale Militante“ für Bürger, die (legal) die Politik des Präsidenten und den Obersten Gerichtshofs kritisieren, weist eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit „Hass und Hetze“ auf.

Die erst allmähliche und dann stark beschleunigte Entwicklung hin zu einer autoritär-formaldemokratischen Gesellschaft begann mit der Konfrontation zwischen der Frontfigur der linkspopulistischen PT Luiz Inácio Lula da Silva und dem Rechtskonservativen Jair Bolsonaro von der Partido Liberal. Im Jahr 2918 verübte ein früheres Mitglied der sozialistischen Partei PSOL ein Messerattentat auf Bolsonaro, der mit ernsthaften Verletzungen überlebte. Gegen seine Kandidatur für das Präsidentenamt fanden 2019 als Frauenproteste deklarierte Demonstrationen statt, die stark dem „Womans March“ gegen Trump im Januar 2027 ähnelten. Hier wie dort handelte es sich um Bewegungen, die sich den Anstrich des Spontanen gaben, in Wirklichkeit aber ohne die konzertierte Unterstützung von linken Parteien, Organisationen und Medien nicht zustande gekommen wären.

Bolsonaro siegte trotzdem, da Lula da Silva – wegen Korruption und Geldwäsche verurteilt – nicht antreten durfte. Die Präsidentschaftswahl 2022, bei der Lula wieder ins Rennen ging, endete in der zweiten Runde äußerst knapp: 51,9 Prozent für den Sozialisten, 49,1 Prozent für den rechten Amtsinhaber. Bolsonaro erklärte, es habe Unregelmäßigkeiten bei einigen elektronischen Wahlmaschinen gegeben und forderte eine Überprüfung. Das Oberste Wahlgericht unter dessen damaligem Präsidenten Alexandre de Moraes wies die Beschwerde nicht nur umgehend ohne nähere Prüfung zurück; Bolsonaros Partei PL erhielt außerdem eine Geldstrafe von umgerechnet 4,12 Millionen Euro wegen „böswilliger und unverantwortlicher“ Inanspruchnahme der Justiz.

Am 30. Juni entschied das Oberste Gericht außerdem, Bolsonaro bis 2030 von der Kandidatur für öffentliche Ämter auszuschließen. Die Begründung lautete damals, er habe „Gerüchte über Wahlbetrug geschürt“. Eine unabhängige Überprüfung der Wahlen fand bis heute nicht statt. Damit endete der juristische Feldzug gegen den frühen Präsidenten übrigens noch nicht. Im März 2025 ließ das Oberste Gericht einstimmig eine Anklage gegen Bolsonaro wegen eines angeblichen Putschversuchs zu. Die Beschuldigung beruht im Wesentlichen auf den Aussagen von zwei Generälen, der Präsident habe in seinen letzten Amtstagen mit ihnen über die Verhängung des Ausnahmezustandes gesprochen.

Da sich Anhänger Bolsonaros durch die strikte Ablehnung jeder Wahlüberprüfung trotz des hauchdünnen Ergebnisses politisch hintergangen fühlten, kam es am 8. Januar 2023 zu einer Demonstration vor und in dem Parlamentsgebäude von Brasilia durch etwa 4000 Anhänger des Ex-Präsidenten. Dabei drangen einige aus der Menge teils gewaltsam in das Gebäude ein, teils aber nach Zeugenberichten auch regulär und ungehindert durch Sicherheitskräfte. Manche der 4000 beschränkten sich aber auch auf die Kundgebung vor dem Parlament.

Bis heute gibt es keine unabhängige Untersuchung zu den Vorgängen. Um einen vorgeblichen Putsch handelte es sich dabei jedenfalls nicht; die Bolsonaro-Anhänger kamen nicht bewaffnet und ihre Aktion dauerte nur wenige Stunden. Trotzdem lieferte der „Sturm auf das Parlament“, der Ähnlichkeiten zu den Ereignissen im Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 aufwies, dem Obersten Gericht und besonders Moraes die Begründung für neue Freiheitsbeschränkungen. Er verlangte Mitte 2024 von X, pauschal eine sehr große Zahl von Konten „rechter“ Nutzer zu löschen beziehungsweise zu blockieren. X-Eigner Musk erklärte daraufhin, sein Unternehmen wolle sich an die nationalen Gesetze halten, hielt aber die Löschungsanweisung durch Moraes für unvereinbar mit brasilianischem Recht.

Der Oberste Richter drohte außerdem, die Vertreter von X in Brasilien festnehmen zu lassen. Darauf schloss X am 17. August 2024 sein brasilianisches Büro und zog seine Mitarbeiter zurück. Damit lieferte Musk Moraes nun ein formales Argument, um gegen seine Plattform vorzugehen – denn das brasilianische Recht verlangt eine Niederlassung eines Medienunternehmens im Land, wenn es dort operieren will. Moraes verfügte deshalb am 30. August 2024 die Abschaltung von X in Brasilien, außerdem setzte er ein allgemeines Verbot durch, die X-Blockade mittels Virtual Private Networks (VPN) zu umgehen. Bei Nichtbefolgung drohte Brasilianern eine Geldstrafe von 50 000 Real, umgerechnet etwa 9 100 Dollar – und zwar pro Tag.

Linksgerichtete Medien in den USA und Europa berichteten über diesen ersten Fall von Massenzensur in einem formal demokratischen Land nicht empört, sondern entweder mit leichter oder sogar ganz offener Sympathie für Lula und Moraes. Die New York Times etwa schrieb, die Situation sei „der bisher bedeutendste Test für Musks Anstrengungen, das soziale Netzwerk (X) in eine Plattform zu verwandeln, auf der alles möglich ist.“ In einem anderen Text fragte die NYT: “What can US-Democracy learn from Brazil?“. In Deutschland lobte der Spiegel Moraes ausdrücklich als „kampferprobt und listig“.

Die brasilianische X-Blockade endete am 8. Oktober 2024, denn Elon Musk akzeptierte schließlich die Forderung, bestimmte Nutzerkonten wie gewünscht zu entfernen. Die monatelange Abschaltung betrachten Technokraten, linke Politiker und Medien in Europa offenbar als gelungenes Experiment. Sie drohen mit einem ähnlichen Schritt in der EU. Die beiden grünen Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz und Andreas Audretsch veröffentlichten im April 2025 in der Wirtschaftswoche eine Art antiliberales Manifest, in dem es unter anderem heißt:

„Wir müssen die Macht der Tech-Oligarchen brechen. Mit dem Digital Services Act (DSA) und dem Digital Markets Act (DMA) liegen mittlerweile EU-Gesetze vor, mit denen die demokratiegefährdende Macht der Tech-Monopole gebrochen werden kann. Die EU-Kommission muss die vorhandenen Hebel der Regulierung großer Plattformen nun effektiv nutzen und laufende Verfahren gegen die Tech-Konzerne zügig abschließen.

Der zweite zentrale Hebel ist der Digital Markets Act (DMA). Er soll für fairen Wettbewerb mit europäischen Unternehmen sorgen. […] Die EU-Kommission kann bei Verstößen Strafen von bis zu 10 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes verhängen, bei wiederholtem Fehlverhalten sogar bis zu 20 Prozent. Europäisches Recht, der DSA und der DMA, müssen entschlossen umgesetzt werden. Sollten sich die Konzerne weiterhin hartnäckig gegen jede Veränderung sperren, sollten wir nicht davor zurückschrecken, die Konzerne, wenn nötig, auch zu zerschlagen“.

Damit stehen die Grünen nicht allein. Auf der Konfrenz „re:publica“ in Berlin erklärte die neue Bundesfamilienministerin Katrin Prien, CDU, im Mai 2025: „Machen wir uns nichts vor. Um Regulierung kommen wir nicht drumherum, wenn wir unser liberales, demokratisches System retten wollen.“ Es existiert also eine breite Front einflussreicher Personen, die das Modell Brasilien nicht so schlecht finden.

Während seiner Amtszeit als Präsident befassten sich konventionelle deutsche und US-Medien hingebungsvoll mit Bolsonaro, sie machten ihn unter anderem persönlich für Brände im Regenwald verantwortlich, die sie in den Amtszeiten von Lula da Silva, also vor und nach Bolsonaro, weitgehend ignorierten. Fast nie kam ein Bericht zu Bolsonaro ohne die Zutat „rechtsextrem“ aus. Zu den Praktiken des Obersten Gerichtshofs in Brasilien gibt es allerdings in den alteingesessenen deutschen und den linken US-Medien so gut wie keine kritischen Berichte. Im Juli 2024 beklagte die ARD-Tagesschau sogar den mangelnden Eifer der brasilianischen Justiz, die „Strippenzieher“ des angeblichen Putsches vom 8. Januar 2023 „zur Verantwortung zu ziehen“.

Publico traf beim Westminster Free Speech Forum in London mehrere kritische Journalisten aus Brasilien – und den brasilianischen Abgeordneten Marcel van Hattem, 39, von der kleinen libertären Oppositionspartei NOVO. Der Politiker steht neuerdings unter Anklage, weil er in einer Parlamentsrede den Chef der Bundespolizei beleidigt haben soll. Eigentlich schützt Brasiliens Verfassung die Immunität seiner Volksvertreter. Für Äußerungen im Repräsentantenhaus dürfte ihn niemand belangen, wenn es nach den Buchstaben des Gesetzes ginge, ganz abgesehen von der Frage, ob es sich bei seiner Rede überhaupt um eine Beleidigung handelte (er hatte eine konkrete Handlung des Polizeichefs als rechtswidrig bezeichnet). Der Oberste Gerichtshof dekretierte nun speziell zu van Hattem, die Immunität eines Parlamentariers sei „nicht absolut“. Bei seiner Rückkehr nach Brasilien muss sich nun zeigen, ob er erstens vor dem Gericht von Moraes landet – denn das wäre hier zuständig –, und ob es zweitens zu einer Verurteilung kommt. Im schlimmsten Fall drohen dem Liberalkonservativen, der 2026 für den Senat antreten will, mehr als zwei Jahre Haft. Trotzdem zeigte sich van Hattem im Gespräch mit Publico kampflustig. In dem Interview ganz in der Nähe der Westminster Abbey ging es um das, was er und andere brasilianische Oppositionelle Judikratie nennen – die Aushebelung von Verfassung und schlimmstenfalls auch Wahlen durch politisierte Gerichte. Und um seine eigene Zukunft.

Im kommenden Jahr erlebt Brasilien ein Superwahljahr, in dem es um Gouverneursposten, Mehrheiten in Regionalparlamenten, im Repräsentantenhaus und den Senat geht. Und um die Präsidentschaft. Vor allem aber um eine ganz spezielle Position im Staat, die überhaupt nicht auf dem Wahlzettel steht. Van Hattems leicht untertourige Vermutung: „Es wird spannend“.

TE-Gespräch mit dem liberal-konservativen brasilianischen Abgeordneten Marcel van Hattem über die Machtübernahme durch eine politische Justiz – und die Frage, ob er demnächst trotz Immunität im Gefängnis sitzt

Tichys Einblick: Herr van Hattem, wie würden Sie die aktuelle Situation in Brasilien beschreiben?

Van Hattem: Ich würde sagen, dass wir die größte Herausforderung seit 1988 erleben, als es in Brasilien eine neue Verfassung gab und definitiv eine der größten Herausforderungen in der brasilianischen Geschichte überhaupt. Denn die individuelle Freiheit ist heute extrem gefährdet. Eigentlich nicht nur gefährdet, sondern es ist tatsächlich so, dass viele Menschen keine Freiheit mehr haben. Zensur ist weit verbreitet, Tausende von Menschen haben ihre Profile in sozialen Medien verloren. Wir haben auch Hunderte von Menschen, die jetzt wegen ihrer Meinungen im Gefängnis sitzen – oder ohne Verurteilung unter Hausarrest stehen, was noch schlimmer ist.

Ohne Verurteilung – wie funktioniert das in einem Staat, der formal eine Demokratie ist?

Es funktioniert, weil wir einen Obersten Gerichtshof haben, der seine Befugnisse überschritten hat. Der Oberste Gerichtshof in Brasilien hat jetzt tatsächlich fast absolute Macht. Und das begann schon vor Bolsonaro. Der Oberste Gerichtshof fing an, seine verfassungsmäßigen Befugnisse zu überschreiten. Aber besonders während Bolsonaros Amtszeit wurde er, der Präsident, als eine – ich setze es in Anführungszeichen – “Bedrohung für die Demokratie“ angesehen, so dass das Oberste Gericht alles für zulässig hielt, selbst wenn es undemokratisch oder verfassungswidrig war, wenn es nur dazu diente, zu verhindern, dass Bolsonaro regiert und die nächste Wahl gewinnt.

Erklären Sie bitte noch etwas genauer, wie es möglich sein soll, Personen ohne Urteil unter Hausarrest zu stellen. Dafür gibt es in Brasilien keine rechtliche Grundlage.

Es passiert, weil der Oberste Gerichtshof das tut. Alles, was von Richter Alexandre de Moraes oder anderen Richtern des Obersten Gerichtshofs, insbesondere von ihm, als antidemokratisch angesehen wird, kann dazu führen, dass Menschen ohne Verurteilung ins Gefängnis kommen, weil er die Verfahren am Obersten Gerichtshof leitet. Normalbürger haben nicht das Privileg, wie wir es auf Portugiesisch nennen, dass ihr Fall vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt wird. Nur Parlamentarier und andere hohe Amtsträger in Brasilien sollten strafrechtlich vor dem Obersten Gerichtshof angeklagt werden. Aber aufgrund einer neuen, rechtswidrigen und verfassungswidrigen Auslegung des Obersten Gerichtshofs, die besagt, dass diejenigen, die die Demokratie angreifen, vor dem Obersten Gerichtshof verurteilt werden sollten, werden diese Menschen verfolgt und strafrechtlich belangt, ohne Möglichkeit, ihren Fall vor einem unteren Gericht verhandeln zu lassen. Und sie werden wegen ihrer Meinungen ins Gefängnis gesteckt.

Es scheint, dass in Brasilien dem Obersten Gerichtshof immer mehr Macht gegeben wurde. Wie würden Sie das System jetzt beschreiben?

Ich würde sagen, es wird dem Obersten Gerichtshof nicht gegeben, sondern der Oberste Gerichtshof hat sich die Macht genommen. Man könnte insofern sagen, sie wurde ihm gegeben, als die brasilianische Gesellschaft auf diese Grenzüberschreitung bisher nicht mit Widerstand reagiert. Die brasilianische Gesellschaft, das bedeutet: Die Gesellschaft insgesamt, aber auch der Kongress, denn es ist der Senat, es sind die Institution, die für die Amtsenthebung von Richtern des Obersten Gerichtshofs zuständig sind. Und der Senat hat nicht genug Mitglieder, die bereit sind, einen Richter des Obersten Gerichtshofs anzuklagen. Auch der Sprecher des Repräsentantenhauses oder die Führung im Repräsentantenhaus reagierte nicht, als das Oberste Gericht anfing, sich selbst Kompetenzen zuzuschreiben. Also begann der Gerichtshof, ständig sein eigenes Mandat zu überschreiten, Dinge zu tun, die verfassungswidrig und illegal sind. Weil die Gesellschaft bisher darauf nicht mit deutlicher Abwehr reagiert hat, gehen sie immer weiter und weiter.

Sie sind Mitglied des Repräsentantenhauses und Sie gerieten unter juristischen Druck. Auf welche Weise?

Van Hattem: Die brasilianische Bundespolizei ermittelt gegen mich. Und zwar, weil ich die Rednertribüne des Repräsentantenhauses genutzt habe, um einen Bundespolizisten anzuprangern, da er sich auf falsche Informationen stützte, oder von denen er zumindest hätte wissen müssen, dass sie falsch sind. Er hat nicht ausreichend geprüft, als er einen brasilianischen Bürger sechs Monate in Haft hielt, weil Alexandre de Moraes vom Obersten Gerichtshof das so entschieden hat. Aber tatsächlich hat dieser Mann, Felipe Martinez, der sechs Monate im Gefängnis war, bereits in den ersten Tagen dem Staatsanwalt beweisen können, dass er das Land nie verlassen hatte, wie es ihm im Bericht dieses Bundespolizisten vorgeworfen wurde. Also ging ich auf die Rednertribüne, prangerte diesen Bundespolizisten an und sagte, dass er rechtswidrig gehandelt habe. Ich habe also meine parlamentarische Immunität für meine Meinungsäußerung genutzt. Und deshalb leitete die Bundespolizei ein Verfahren gegen mich ein – weil ich angeblich diesen Beamten beleidigt hätte.

In demokratischen Staaten genießen Parlamentarier normalerweise Immunität für Äußerungen im Parlament. Eine entsprechende Regel gibt es auch in Brasilien. Wie kann es dann trotzdem Ermittlungen gegen Sie geben?

Ja, wir genießen Immunität gemäß der Verfassung. Aber trotzdem hat die Bundespolizei die Ermittlungen aufgenommen und die Genehmigung des Obersten Gerichtshofs dafür angefordert, weil ich Parlamentarier bin. Also musste der Oberste Gerichtshof das entscheiden. Der Richter, der die Genehmigung erteilte, sagte, dass die parlamentarische Immunität eben „nicht absolut“ gelte. Wenn ein Parlamentarier nicht mehr frei im Parlament sprechen darf, wozu ist er dann überhaupt da? Und was ist das für ein Parlament?

Was erwartet Sie nach Ihrer Rückkehr nach Brasilien? Rechnen Sie mit einer Geldstrafe oder sogar Arrest?

Die Bundespolizei hatte mich bereits vorgeladen. Ich bin nicht erschienen, sondern habe gesagt: Ich gebe keine Erklärungen ab. Ich muss das nicht, denn ich bin Parlamentarier. Eigentlich sollte die Polizei das untersuchen, worauf ich hingewiesen habe, statt meine Äußerung zu untersuchen. Die Polizei hat trotzdem die Ermittlungen gegen mich abgeschlossen und das Ergebnis der Staatsanwaltschaft zugeschickt. Laut Staatsanwalt habe ich dreimal die Straftat der Beleidigung begangen.

Warum dreimal?

Weil ich dreimal dasselbe über diesen Bundespolizisten gesagt habe. Das macht laut Staatsanwaltschaft drei Fälle.

Wie geht es nun weiter?

Die Summe der dreimaligen Beleidigung ergibt eine mögliche Strafe von mehr als zwei Jahren Gefängnis. Jetzt muss der Staatsanwalt entscheiden, ob ich vor den Obersten Gerichtshof gestellt werden soll, oder ob er zu dem Schluss kommt: Ich habe parlamentarische Immunität. Es liegt jetzt also erst einmal in der Verantwortung des Staatsanwalts zu sagen, ob ich strafrechtlich verfolgt werde oder nicht.

Sie sitzen für NOVO im Parlament. Was ist das für eine Partei, welche Positionen vertritt sie?

NOVO ist eine klassisch liberale Partei, gegründet 2011. Sie hat in der Zeit von Bolsonaro unabhängig agiert. Wir haben viele seiner Punkte unterstützt, weil wir grundsätzlich zum rechten Spektrum gehören, manchmal aber auch gegen seine Politik gestimmt, wenn sie nicht zu unserem politischen Programm passte. Jetzt sind wir in der Opposition zur Regierung von Lula, zusammen mit der Partei von Bolsonaro und anderen Mitgliedern des Kongresses, die sich gegen das sozialistische Regime von Lula wenden.

Im Jahr 2024 gab es riesige Demonstrationen in brasilianischen Städten. Mittlerweile hat sich die Wirtschaftslage verschlechtert, die autoritäre Politik dafür zugenommen – siehe das Verbot von X. Trotzdem gehen keine Massen mehr auf die Straße. Warum?

Erstens, weil am 8. Januar 2023 unsere eigene Art von ‘Kapitol-Sturm‘-Geschichte stattfand. Menschen, die nur friedlich auf die Straße gingen, um zu protestieren, wurden in eine Situation gelockt, von der ich keinen Zweifel habe, dass sie von Agents Provocateurs gesteuert wurde. Die Regierung tat damals nichts, um zu verhindern, dass Menschen in die Regierungsgebäude eindrangen. Mehr als 2000 von ihnen wurden sofort nach den Ereignissen vom 8. Januar oder am Tag danach ins Gefängnis gesteckt….

…mit der Begründung, Sie hätten das Parlament gestürmt. Wie ist die Lage heute?

Viele sind entweder immer noch im Gefängnis oder unter Hausarrest, ohne ordentliches Verfahren, ohne Verurteilung, ohne Individualisierung ihrer Fälle. Und das macht natürlich den Rest der Bevölkerung sehr ängstlich, auf die Straße zu gehen. Genau das tun Autoritäre: Sie wollen keine Menschen auf den Straßen, also nehmen sie Hunderte als Beispiel, stecken sie ins Gefängnis, auch wenn es ungerecht ist, um Millionen von Menschen davon abzuhalten, auf die Straße zu gehen.

Es gibt das berühmte Wort von Mao: „Bestrafe einen, erziehe Tausend“. Ich frage das deshalb, weil es Gerüchte gibt, die brasilianische Führung wolle sich in Zukunft stärker an chinesischen Methoden zur Internetkontrolle orientieren.

Traurigerweise ist das nicht nur ein Gerücht, sondern die Wahrheit. Lula war vor einem Monat mit der First Lady in China, und er hat danach öffentlich erklärt, dass die First Lady und er Xi Jinping gebeten haben, jemanden von TikTok nach Brasilien zu schicken, um bei der Zensur zu helfen. In ihren Worten: um „extremistisches Reden einzudämmen“. Außerdem meinte einer der Richter des Obersten Gerichtshofs in Brasilien kürzlich während eines Prozesses über die Internetrechte der Brasilianer, dass alle Richter des Obersten Gerichtshofs Bewunderer von Xi Jinping seien. Das hat er während dieses Prozesses gesagt. Brasilien ist nicht nur wirtschaftlich mit China verbunden, weil China bereits ein großer Partner ist, insbesondere beim Kauf von Sojabohnen und anderen Produkten der brasilianischen Landwirtschaft, sondern mittlerweile auch ein enger politischer Verbündeter der Lula-Regierung. Das sollte die freie Welt sehr beunruhigen, insbesondere die Vereinigten Staaten und Europa. Denn Brasilien hat 220 Millionen Einwohner, es macht 49 Prozent des Territoriums Südamerikas aus und auch etwa 50 Prozent seiner Wirtschaftskraft.

Es gibt zwar nach Ihren Worten einen Einschüchterungseffekt, so dass die Menschen Demonstrationen fernbleiben. Aber in Brasilien finden immer noch Wahlen statt. Was erwarten Sie sich davon?

Die nächsten Wahlen haben wir 2026. Es werden allgemeine Wahlen für fünf verschiedene Ebenen sein: Landesparlamente, Gouverneure, Senatoren, Bundesabgeordnete und Präsidentschaft. Aber das wichtigste dieser fünf Ämter, die umkämpft sein werden, ist der Senat. Heute haben wir etwa 35 Senatoren, die für eine Amtsenthebung des Richters des Obersten Gerichtshofs Moraes sind. 35 von 81 sind fast die Hälfte. Bei der nächsten Wahl werden 54 der 81 Sitze neu vergeben. Das bedeutet, dass wir eine Mehrheit im Senat für eine Amtsenthebung schaffen können. Die größte Herausforderung besteht jetzt darin, die politisch motivierte Verfolgung zu beenden. Ich kandidiere für den Senat.

Die Justiz versucht nicht nur in Ihrem Fall, Sie zu stoppen. Gegen wen geht sie noch vor?

In der Tat, ich bin nicht der einzige Politiker, der in den Umfragen gut abschneidet und juristisch verfolgt wird. Es gibt andere Kandidaten für den Senat, etwa Gustavo Gayer im Bundesstaat Goiás, der ebenfalls gute Umfrageergebnisse hat und gerichtlich verfolgt wird. Auch er sieht sich dem Risiko gegenüber, ins Gefängnis zu kommen. Die andere Seite versucht, Kandidaten für den Senat aus dem Spiel zu nehmen, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Konkret, das Überleben der Obersten Richter im Amt. Es wird also nächstes Jahr sehr spannend.

Bei der Wahl geht es also hauptsächlich darum, ob Moraes im Amt bleibt – obwohl er gar nicht auf dem Wahlzettel steht? Was würde sich durch seine Absetzung ändern?

Seine Amtsenthebung ist das, was wir im Moment am Nötigsten brauchen. Das ist die dringendste Angelegenheit. Lula will wahrscheinlich wieder kandidieren, aber er ist sehr schwach und wird große Schwierigkeiten haben, noch einmal zu gewinnen. Es sei denn, er wird noch mehr als bei den letzten Wahlen vom Obersten Wahlgericht, das mit dem Obersten Gerichtshof verbunden ist, unterstützt. Aber selbst wenn er nicht gewählt wird, sondern jemand anderes, wird der Oberste Gerichtshof immer noch zu viel Macht besitzen. Deshalb müssen wir ihn eindämmen. Und der einzige Weg im Moment, das zu tun, ist die Richter des Obersten Gerichtshofs anzuklagen, weil sie nicht im Rahmen der Gesetze handeln.

Sie betrachten den Obersten Gerichtshof also als das eigentliche Machtzentrum Brasiliens?

Natürlich ist er das. Er ist ein diktatorisches, autoritäres, nicht gewähltes Gremium. Und sie betrachten sich selbst als politische Körperschaft. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Richter Luíz Roberto Barroso, sagte vor ein paar Monaten, dass sich der Oberste Gerichtshof zu einem politischen Gremium entwickelt hat. Das darf ein Gericht aber niemals sein.

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