
Der schwärzeste Tag des Friedrich Merz war ein Tag, der die politischen Logiken Berlins umkehrte. Die Grünen sind auf einmal die Hüter der finanzpolitischen Vernunft, umjubelt von Anhängern der Markwirtschaft. Merz muss bei den Grünen betteln, um sich die Kanzlerschaft zu sichern – obwohl er mit Ihnen gar nicht koalieren will.
Am Montagmorgen stehen die Karten für Merz längst nicht so gut, wie er seit Tagen der Öffentlichkeit weismachen will. Selbstbewusst war er in den Tagen zuvor vor die Kameras getreten, hatte zunächst ein Milliarden-Sondervermögen und eine Lockerung der Schuldenbremse versprochen, dann – darauf basierend – ein Sondierungspapier mit der SPD präsentiert. Die Leerstelle in der Rechnung: die Grünen, auf deren Zustimmung zu den Milliarden-Schulden Merz angewiesen ist, weil Änderungen im Grundgesetz einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedürfen.
Bereits am Sonntag hatten drei grüne Landesminister aus Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bremen gefordert, den Ländern aus dem Sondervermögen für Infrastruktur statt den versprochenen 100 gleich 200 Milliarden bereitzustellen. Am Montagmorgen wird dann über The Pioneer das Gerücht gestreut, dass die Grünen einen eigenen Gesetzesentwurf zu Verteidigung vorlegen wollen, mit dem Ziel, die Ausnahme für Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse erst ab 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu ermöglichen, statt wie vorgesehen ab einem Prozent.
Die Grünen haben also bereits angedeutet: Unsere Zustimmung hat einen Preis. Am Montagmittag dann der Aufschlag: Die Fraktions- und Parteispitzen treten vor die Presse und erklären, dass sie Merz' Schulden-Plänen nicht zustimmen wollen. Die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit ist also futsch.
Felix Banaszak, Franziska Brantner, Katharina Dröge und Britta Haßelmann geben eine Pressekonferenz auf der Fraktionsebene des Bundestags.
Irgendwo im Hinterkopf hatte Merz die Grünen schon noch. Darum hatte er am Samstag bei der Verkündung der Sondierungs-Ergebnisse erklärt, er habe der grünen Fraktionsvorsitzenden Britta Hasselmann „unmittelbar nach Ende unserer Sondierungsgespräche eine Nachricht hinterlassen“, und ihr gesagt, dass man beim Sondervermögen für Infrastruktur auch Klima- und Umweltprojekte berücksichtigen könne „und dass wir auch natürlich in der nächsten Woche intensive Gespräche mit den Grünen führen werden.“
Daraus konnte man zweierlei lesen: Erstens, dass Haßelmann nicht unbedingt ans Telefon geht, wenn Merz sich herablässt, sie anzurufen und vor vollendete Tatsachen zu stellen. (Sie sei „eine Stunde im Wald“ gewesen, ließ sie später wissen.) Und zweitens, dass sich Merz der grünen Zustimmung wohl zu sicher wähnte. Oder, wie Welt-Journalist Robin Alexander es am Montag auf X beschrieb: „Friedrich Merz geht mit seiner verfassungsändernden Mehrheit um, als hätte er noch eine zweite im Kofferraum.“
Merz' Arroganz gegenüber den Grünen und seine Fehleinschätzung, dass sie ohnehin zustimmen müssten, zeugen von seiner taktischen Kurzsichtigkeit. Er lieferte ihnen eine perfekte Vorlage, um ihn als Chauvinist darzustellen und genüsslich zu demütigen. Grünen-Chefin Franziska Brantner erklärte bei der Pressekonferenz am Montag: „Wenn Herr Friedrich Merz bei Frau Hasselmann auf dem Anrufbeantworter sagt, man kann auch irgendwo das Wort ‚Klima‘ vielleicht noch in einer Begründung nennen, dann hat er, glaube ich, noch nicht verstanden, dass wir das mit den Klimazielen in Deutschland ernst meinen.“
Haßelmanns Co-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge betonte, die Grünen würden „auch den Punkten, die Friedrich Merz auf die Mobilbox meiner Kollegin Britta Haßelmann gesprochen hat, ebenfalls nicht zustimmen.“ Und Grünen-Chef Felix Banaszak ergänzte: „Wir stehen nicht zur Verfügung für einen politischen Stil, der wiederholt darauf setzt, gemeinsam etwas zu vereinbaren, es im Nachgang denen vorzulegen, die man braucht, um es umzusetzen, und dann zu sagen, die Grünen müssen ja am Ende sowieso zustimmen.“
Auch inhaltlich kritisierten die Grünen Merz' Schuldenpläne: Die Investitionen seien in Wahrheit nicht für die Instandhaltung der Infrastruktur gedacht, sondern Spielgeld, um Steuersenkungen zu ermöglichen, etwa beim Agrardiesel und der Pendlerpauschale. Für eine Reform der Schuldenbremse stünden die Grünen bereit, allerdings erst mit dem neu konstituierten Bundestag. Im Übrigen rieten sie der Union, die Linke in eine Reform der Schuldenbremse mit einzubeziehen – was im neuen Parlament aufgrund der veränderten Mehrheitsverhältnisse ohnehin nötig wäre, solange die Union eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließt.
Brantner bemühte gar eine christdemokratische Ikone der Sparsamkeit, um die Union vorzuführen: „Wolfgang Schäuble würde sich im Grabe umdrehen, wenn er sehen würde, wie seine Partei die Schuldenbremse reformieren will, um Steuergeschenke damit zu finanzieren“, erklärte sie vor der Presse und illustrierte damit die sonderbare Umkehrung der Rollen von Grünen und Union.
Die wirtschaftsnahe Denkfabrik Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft kam auf X zu dem Schluss: „Wilde Zeiten, dass unsere wichtigsten Verbündeten gegen die Schuldenorgie einer möglichen unionsgeführten Regierung ausgerechnet die Grünen-Politiker sind.“ Und ergänzte: „Mehr Schulden für Verteidigung sind ja für alle nachvollziehbar, aber bei allem anderen müsste zuerst gespart werden. Und die Grünen wollen wenigstens garantieren, dass die Schulden nicht für Konsum verplempert werden.“
„Ich hätte nie gedacht, dass ich sowas mal poste“, kommentierte der Geschäftsführer des Verbands, Thorsten Alsleben.
Der Journalist Jan Hildebrand vom Handelsblatt resümierte: „Stand der Dinge grob zusammengefasst: Friedrich Merz will nach der Wahl umsetzen, was er im Wahlkampf abgelehnt hatte und was die Grünen gefordert hatten. Die Grünen wollen nach der Wahl nicht umsetzen, was sie im Wahlkampf vorgeschlagen hatten.“
Mit der Zustimmung der Grünen wäre Merz ein Kanzler mit Mehrheit und Milliarden. Ohne die grüne Zustimmung stehen nicht nur die Milliarden, sondern auch seine Kanzlerschaft auf dem Spiel: Ihm würde nicht nur das Geld fehlen, um die teure Einigung von SPD und CDU/CSU zu finanzieren, er würde auch mit einem kolossalen Misserfolg in die Koalitionsgespräche starten.
Carsten Linnemann versuchte darum, das Thema der Schulden bei seiner Pressekonferenz am Montag zu meiden. Direkt im Anschluss an die Grünen trat er vor die Kameras, um zu verkünden, dass seine Partei das Sondierungspapier gebilligt und für die Koalitionsverhandlungen grünes Licht gegeben habe. Auf die Frage, ob die Grünen nur pokerten, erklärte Linnemann: „Es werden heute noch Gespräche stattfinden mit den Grünen.“ Die Ideen der Grünen für die Lockerung der Schuldenbremse bezeichnete Linnemann als „konstruktiv“ und „nicht lebensfremd“.
Linnemann am Rande der Sondierungsgespräche mit Dorothee Bär von der CSU.
Die Union, deren Kanzlerkandidat noch am Tag des Wahlkampfabschlusses gegen „grüne und linke Spinner“ gewettert hatte, muss nun die Politik der Grünen als „nicht lebensfremd“ lobpreisen, um ihre Zustimmung zu Plänen zu erbetteln, für die niemand die Union gewählt hat. Die Grünen haben Merz in der Hand: Sie könnten den Preis für ihre Zustimmung in ungeahnte Höhen treiben, denn ohne Milliarden muss Merz aller Voraussicht nach seine Kanzlerträume an den Nagel hängen.
Auch Lars Klingbeil trat am Montag vor die Presse, betonte: „Ich habe selbst am Wochenende viel geredet, auch mit Vertretern der Grünen. Friedrich Merz und ich werden heute Abend zusammen mit der Grünen-Fraktionsspitze weiter reden.“ Mt den Grünen zu reden, liegt in Berlin auf einmal im Trend. Vom Ergebnis dieser Gespräche wird die Zukunft von Friedrich Merz abhängen.
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