
Im Showdown um die Wahl drei neuer Richter für das Bundesverfassungsgericht überschlugen sich am Vormittag die Ereignisse – und mündeten in einem Debakel für die Union, die nun sogar den wichtigsten Kronzeugen ihrer eigenen Strategie verloren hat.
Die CDU/CSU versuchte zuletzt mit allen Mitteln, die Wahl der von der SPD nominierten Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf zu verhindern. Brosius-Gersdorf hatte in der Vergangenheit mit radikalen Forderungen von sich Reden gemacht, forderte etwa ein AfD-Verbot und sah „gute Gründe“ dafür, dass die Menschenwürde erst nach der Geburt beginne. Vor allem Letzteres brachte die Abgeordneten von CDU und CSU gegen die Kandidatin auf.
Nun ist die Wahl vom Parlament abgesagt worden – aber nicht, weil die Union für ihre Überzeugungen und christlichen Werte einstand. Sondern weil sie Ausflucht in den Enthüllungen des Plagiatsjägers Stefan Weber suchte. Weber hatte „gemeinsame Textpassagen und vollkommen identische Zitierungen“ in der Doktorarbeit von Brosius-Gersdorf und der Habilitationsschrift ihres Mannes gefunden.
Bereits am späten Donnerstagabend schickte man sich in der CDU die von Weber kritisierten Stellen in der Arbeit von Brosius-Gersdorf herum – und beriet, ob die Stellen hinreichend belastbar sind, um die Richter-Kandidatin damit abzusägen. Das Ergebnis: Man wollte die Plagiate für den Notfall in der Hinterhand behalten, zunächst aber versuchen, die Abstimmung durchzuziehen.
Bundeskanzler Friedrich Merz und Unionsfraktionsvorsitzender Jens Spahn kommen am Donnerstagabend nach Beratungen aus der bayerischen Vertretung.
Am Freitagmorgen dann stellt sich heraus: Die Fronten sind zu verhärtet. Zu viele Abgeordnete aus CDU und CSU signalisieren, dass sie gegen Brosius-Gersdorf stimmen wollen. Zuvor hat der einflussreiche Parlamentskreis Mittelstand sich zu einer Sondersitzung getroffen, zu der auch Spahn eingeladen ist. Nach NIUS-Informationen gibt dort nur ein Anwesender an, für Brosius-Gersdorf stimmen zu wollen.
Um eine Klatsche im Parlament zu verhindern, versucht die Union nun doch, die Abstimmung abzublasen. Auf der um 8 Uhr anberaumten Fraktionssitzung präsentiert Fraktionschef Jens Spahn die Vorwürfe von Weber, spricht davon, dass Brosius-Gersdorf die Chance gegeben werden soll, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Außerdem müsse verhindert werden, dass durch die Wahl einer unsauber arbeitenden Wissenschaftlerin die Institution Bundesverfassungsgericht beschädigt werde. Auf Spahns Worte folgt tosender Applaus.
Inhaltlich wird auf der Fraktionssitzung nicht mehr debattiert, eine Diskussion um die Aussagen von Brosius-Gersdorf zum Thema Abtreibung bleiben aus. Dabei ist es vor allem der Vorschlag von Brosius-Gersdorf, die Menschenwürde erst ab der Geburt gelten zu lassen, der viele Unions-Abgeordnete erzürnt hatte. Die SPD wird mit der Unions-Entscheidung vor vollendete Tatsachen gestellt. Karina Moessbauer, Chefreporterin von Pioneer, berichtet, dass die SPD erst unmittelbar vor der Sitzung der Unionsfraktion informiert wurde.
Doch die Plagiats-Karte, die die Union nun gezogen hat, birgt mehrere offensichtliche Risiken:
Nach der Sitzung der Fraktion will die Union schließlich die Wahl von Brosius-Gersdorf von der Tagesordnung absetzen, die anderen beiden Nominierten jedoch weiter zur Wahl stellen: Günter Spinner, von der Union vorgeschlagen, und Ann-Kathrin Kaufhold, eine von der SPD nominierte Juristin, die mit linksaktivistischen Positionen zur Klimapolitik von sich Reden machte. Doch auch hier verkalkuliert sich die Union. Denn natürlich sind die linken Parteien nicht mehr bereit, den CDU-Kandidaten mitzutragen, wenn Brosius-Gersdorf nicht gewählt wird. Die laufende Bundestagssitzung wird unterbrochen, die Fraktionen ziehen sich zu Beratungen zurück.
SPD-Fraktionschef Matthias Miersch, CDU-Mann Armin Lascht und Jens Spahn unterhalten sich im Bundestag.
Derweil meldet sich Plagiatsjäger Weber zu Wort. Auf der Plattform X verkündet er: „Die Sichtweise der CDU, dass Plagiatsvorwürfe gegen Frau Brosius-Gersdorf erhoben wurden, ist falsch.“ Die Arbeiten von Brosius-Gersdorf und ihrem Mann seien fast zeitgleich 1997 fertiggestellt worden. Daraus ergäben sich drei Möglichkeiten:
„1. Herr Gersdorf hat von Frau Brosius-Gersdorf abgeschrieben. Und vielleicht wusste sie das bis gestern gar nicht. 2. Frau Brosius-Gersdorf hat von Herrn Gersdorf abgeschrieben. Und vielleicht wusste er das bis gestern gar nicht. 3. Beide haben zusammengearbeitet, aber dann hätte dies im Vorwort deklariert werden müssen, was nicht der Fall ist. Die Fälle 2 und 3 wären problematisch für Frau Brosius-Gersdorf, zumal WCopyfind einen Übereinstimmungsgrad beider Arbeiten von 17 Prozent ausweist.“ Eine genaue Analyse der Textübereinstimmungen sei in Arbeit, so Weber.
Sogar der von der Union als Kronzeuge angeführte Experte widerspricht also der Unionsdarstellung. Wie sehr die Taktik der Partei nach hinten losgehen könnte, zeichnet sich nun ab. Die SPD ließ bereits über Bild streuen, die Plagiatsvorwürfe seien „an den Haaren herbeigezogen“. Es sei offensichtlich, dass die Union „mit konstruierten Vorwürfen“ übertünchen wolle, dass Spahn seine Fraktion nicht im Griff habe.
Auch die CDU rückt von der eigenen Wortwahl ab: Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Steffen Bilger, sprach am Freitagmittag im Bundestag nur noch davon, dass man davon ausgegangen sei, Brosius-Gersdorf sei „über jeden fachlichen Zweifel erhaben“. Dies sei nun „nicht mehr gegeben“. Das Wort „Plagiat“ nahm er nicht in den Mund.
Der Stern berichtet, dass die Sozialdemokraten zwar die Richterwahl absagen, zugleich jedoch an Brosius-Gersdorf festhalten wollen. Genau dafür hat die Union die perfekte Vorlage geliefert: Sie traute sich nicht, die radikale Richter-Kandidatin für „unwählbar“ zu erklären, sondern suchte Ausflucht bei Plagiatsvorwürfen. Sollten diese ausgeräumt werden, kann die SPD mit Recht darauf pochen, die Kandidatin erneut zur Wahl zu stellen.
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