
„Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft.“ – mit diesem Satz hatte Frauke Brosius-Gersdorf am Dienstagabend bei Markus Lanz versucht, die Vorwürfe, sie sei „links-aktivistisch“ zu entkräften. Im Verlauf des Abends würde die Rechtswissenschaftlerin diesen Satz in ähnlichen Ausführungen mehrfach wiederholen. Fast schon gebetsmühlenartig betonte sie diesen Aspekt – es ist für sie eine der wichtigsten Verteidigungslinien, wenn es darum geht, weshalb sie, von der SPD nominiert, einen Stuhl beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erhalten sollte.
Brosius-Gersdorf schien, während sie diesen Satz sinngemäß immer wieder brachte, zu vergessen, dass sie keine Politikerin, sondern eben Rechtswissenschaftlerin ist – ein Fakt, auf den sie währenddes restlichen Abends eigentlich bestand. Da sie eben keine Politikerin ist, hängt ihre Berufung nicht davon ab, ob die Meinungen, die sie als Juristin vertritt, Beliebtheit beim Volk genießen – ihre Positionen müssen nicht „aus der Mitte der Gesellschaft“, sondern aus der Mitte des rechtswissenschaftlichen Diskurses stammen.
Doch Brosius-Gersdorf argumentiert nicht einmal damit: Stattdessen beruft sie sich bei Markus Lanz immer wieder darauf, dass ihre Positionen, etwa zur Abtreibung oder während der Corona-Krise, doch von der Öffentlichkeit unterstützt werden würden.
Als Moderator Lanz etwa die Beliebtheitswerte der Corona-Maßnahmen rezitierte, um Brosius-Gersdorfs Impfpflicht-Forderung zu rechtfertigen, nickte sie zustimmend. In Bezug auf ihre Abtreibungsposition sagte sie derweil: „Ich kann das nicht nachvollziehen, wie man, mit so einer wissenschaftlichen Position, deshalb abgelehnt wird – zumal ja drei Viertel der Bevölkerung hinter dieser Position im Ergebnis auch stehen.“
Nicht nur ist die Aussage faktisch verzerrt – noch im Mai 2023 sprachen sich beispielsweise 54 Prozent der Deutschen in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF gegen eine Legalisierung von Abtreibungen aus – selbst wenn es so ist, dass Brosius-Gersdorfs Position von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird, ist das für ihre Eignung als Verfassungsrichterin völlig irrelevant.
Richter am Bundesverfassungsgericht haben die Macht, Gesetze, die von einer Mehrheit der deutschen Volksvertretung, dem Bundestag, beschlossen wurden, für verfassungswidrig und damit für nichtig zu erklären. Sie hüten nicht die Durchsetzung der Mehrheitsmeinung, sondern das Grundgesetz und die darin festgesetzten Minderheitenrechte – es ist ihre Pflicht, die Verfassung manchmal sogar vor der Mehrheitsmeinung zu beschützen.
Mit ihrer Argumentation öffnet Brosius-Gersdorf die Büchse der Pandora: So kann jede autoritäre und verfassungswidrige Maßnahme der Regierung rechtfertigt werden, solange sie nur von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Bereits während der Corona-Zeit enttäuschte das Bundesverfassungsgericht mit einer Rechtsprechung, die immer wieder den Anschein erweckte, möglichst wenig der Regierung – und der parallel öffentlich mehrheitlich Unterstützung für die Maßnahmen – widersprechen zu wollen.
Ein Kandidat für das Bundesverfassungsgericht sollte in dieser Hinsicht über alle Zweifel erhaben sein – mit ihrer öffentlichen Argumentationslinie gibt Brosius-Gersdorf mehr als genug Stoff für Zweifel. Jedem, der für dieses Amt nominiert wird, sollte dabei auch die historische Verantwortung bewusst sein.
Die Institution des Bundesverfassungsgerichts war nämlich die Reaktion der Bonner Republik der Nachkriegszeit auf einen historischen Fehler der Weimarer Republik, wo es kein Verfassungsgericht gab. Als die Nationalsozialisten und ihre deutschnationalen Verbündeten bei der letzten in Teilen demokratischen Reichstagswahl im März 1933 die absolute Mehrheit der Stimmen und damit Sitze erhielten, konnte sich ihnen und ihrem totalitären Herrschaftsanspruch kein Richter mehr entgegenstellen.
Seit jeher war das Bundesverfassungsgericht immer ein wichtiges Ausgleichsgewicht zur Macht der Regierung – es traf dabei auch möglicherweise unpopuläre Entscheidungen, etwa 1993, als eine Legalisierung von Abtreibungen für verfassungswidrig erklärt wurde. Darauf fußte dann der heutige Abtreibungskompromiss: Verboten, aber straffrei nach Beratung in den ersten Wochen.
Doch den Richtern in Karlsruhe kam es eben selbstverständlich nicht darauf an, sich bei der Bevölkerung oder gar der Regierung beliebt zu machen – wenn sich das heutige Bundesverfassungsgericht unter der Führung von Stephan Harbarth nicht bereits davon verabschiedet hat, wird es ein Gericht mit Richtern wie Brosius-Gersdorf erst recht.