
Das Auswärtige Amt wollte afghanische „Scharia-Richter“ nach Deutschland einfliegen. Das geht aus einem Bericht der Welt über den letzten Aufnahmeflug afghanischer Staatsbürger in der vergangenen Woche hervor. Demnach hatte das Auswärtige Amt über die Botschaft im pakistanischen Islamabad den afghanischen Juristen Einreisezusagen gemacht – im letzten Moment funkte die Bundespolizei dazwischen.
Im Normalfall müssen sich gefährdete Afghanen über eines der verschiedenen Aufnahmeprogramme der Bundesregierung für eine Aufnahme bewerben – dafür müssen sie aber nicht vor Ort in Islamabad sein. Überzeugen sie das Auswärtige Amt, und so war es bei den Scharia-Richtern offensichtlich der Fall, werden sie erst dann für die Ausstellung der Papiere und weitere Sicherheitsüberprüfungen – die es erst seit 2023 und auch nur auf Drängen der Bundespolizei gibt – nach Islamabad beordert.
Die Scharia-Richter konnten offenbar bereits zuvor glaubhaft machen, sie hätten sich mit ihren Urteilen bei den Taliban unbeliebt gemacht und seien deshalb gefährdet. Außerdem entsprachen sie offenbar der laut Welt geltenden Anforderung, als Richter keine Todesstrafe verhängt zu haben. Ihr Anliegen wurde von Nichtregierungsorganisationen an die zuständigen Behörden weitergegeben, das Auswärtige Amt brachte die afghanischen Juristen anschließend in Islamabad unter.
Die Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt – die für die Angelegenheit verantwortlich ist, weil die Bundesregierung ihre diplomatische Vertretung in Afghanistan seit der Machtergreifung der Taliban im August 2021 eingestellt hat – stellte daraufhin die Visa aus. Dennoch verhinderte offenbar die Bundespolizei die Aufnahme der Männer im letzten Moment – Sicherheitsbedenken sollen ausschlaggebend gewesen sein. Das Auswärtige Amt und das Innenministerium hatten zuvor offenbar monatelang keine Probleme mit den Scharia-Richtern gesehen.
Eine betroffene Personalie liegt der Welt am Sonntag vor: Der afghanische Jurist sowie dessen Familie wurden von Bord des Flugzeugs geholt, nachdem sie bereits seit eineinhalb Jahren in Islamabad untergebracht waren, also eine Aufnahmezusage der Bundesregierung erhalten hatten. An dieser Stelle ist auch fraglich, wie der Scharia-Richter so lange in Pakistan bleiben konnte, da hier in der Regel nur dreimonatige Visa ausgegeben werden – der Mann befand sich also vermutlich illegal in Islamabad.
Auch nach seiner Ablehnung tauchten weitere Fragen auf: Dokumentiert ist, dass er wegen eines unscharfen Passfotos seines Sohnes nicht mitfliegen durfte – die Bundespolizei spricht intern jedoch von Sicherheitsbedenken, berichtet die Welt am Sonntag. Dass es weitaus mehr Bedenken bei der Einreise von Afghanen gibt, als es aus den Behörden nach außen dringt, lässt sich auch aus dem Vorgehen der Bundespolizei bei dem letzten Aufnahmeflug, der am 16. April in Leipzig landete, ableiten.
An Bord waren 138 Afghanen, 20 weitere wurden direkt vor dem Abflug in Islamabad von der Bundespolizei abgewiesen, darunter auch der Scharia-Richter. Nachdem das Flugzeug schließlich am Abend in Leipzig gelandet war, dauerte die Überprüfung der Passagiere bis tief in die Nacht – acht weitere Personen mit ungültigen Dokumenten wurden von den Beamten identifiziert und Ermittlungen eingeleitet.
Also keine Einzelfälle. Klar ist, dass Bundespolizisten bei den letzten Kontrollen vor dem Abflug immer wieder feststellen müssen, dass auf der Passagierliste Personen stehen, für die zuvor kein grünes Licht von den Beamten gegeben worden war. Dabei werden die Afghanen meist monatelang und teilweise mehrfach von der Bundespolizei überprüft. Aber: Ob die Betroffenen dann ein Visum für die Reise nach Deutschland erhielten, erfahren die Beamten nicht – und treffen so am Flughafen in Islamabad möglicherweise auf alte Bekannte.
Schon länger ist klar, dass es bei den Behörden in Islamabad teilweise chaotisch zugeht. Immer wieder warnt die Bundespolizei vor ungültigen Dokumenten oder äußert Sicherheitsbedenken. Teilweise setzt sich das Auswärtige Amt darüber hinweg, betrachtet die Einschätzungen der Sicherheitsbeamten offenbar eher als Empfehlung. Eine im vergangenen Sommer veröffentlichte E-Mail eines Referenten verdeutlicht das Vorgehen: „Falscher Pass hin oder her“, hieß es bezüglich einer kritischen Personalie an das Botschaftspersonal.
Im Fall der Scharia-Richter war das Drängen der Bundespolizei dann aber offenbar stärker. „Es kann ja wohl nicht sein, dass wir Scharia-Richter ins Land holen. Diese Menschen waren über viele Jahre sehr stark in extremistisches Gedankengut des Islamismus eingebunden. Wie sollen die sich jemals in Deutschland integrieren?“, monierte ein hochrangiger Sicherheitsbeamter gegenüber der Welt am Sonntag.
Zumindest bis auf Weiteres hat die Bundesregierung jetzt sämtliche Einreiseflüge gestrichen – rund 2.600 befinden sich noch mit einer Aufnahmezusage in Islamabad. Doch die designierte Koalition von Union und SPD möchte das derzeit beliebte Bundesaufnahmeprogramm für Afghanen einstellen. Wie viele Afghanen künftig nach Deutschland kommen, ist also offen. Bereits 36.000 sind in Deutschland – 5.000 kamen über das Ortskräfteverfahren, das besonders bedrohten Personen, die der Bundeswehr während ihres Einsatzes in Afghanistan halfen, evakuieren soll.