Kann die Bundeswehr wirklich zur stärksten Armee in Europa werden?

vor etwa 7 Stunden

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Da war sie wieder, die berühmte Zeitenwende, dieses Mal in gedecktes Schwarz-Rot gewandet. Olaf Scholz, der sie einst aus der Taufe hob, fiel sie zunächst auf die Füße, denn seine Zeit im Amt war kurz; er war viel schneller als die Zeitenwende. Kaum hatte sie sich zu wenden begonnen, da wandte sich sein Finanzminister ab. Scholz musste sich winden und zeitig verschwinden. Nun hat die Fee einen neuen Herrn: Kanzler Merz hat Scholz die Wende geraubt und den Verteidigungsminister gleich mit.

Bei seiner ersten Regierungserklärung am Mittwoch legte der Neue sein Gelübde gegenüber der Zeitenwende ab, und der Außenminister sekundierte sogleich, am Tag darauf. Er ist der erste Außenminister der CDU seit sechzig Jahren – mit diesem Tempo arbeiten wir hier in Deutschland in etwa. Auch an der Zeitenwende. Zumindest bis jetzt.

Was ein Bundeswehrgeneral vor einigen Wochen müde als „Zeitenlupenwende“ bezeichnete, soll nun endlich Gestalt annehmen.

Denn in den letzten drei Jahren ist nicht viel passiert, zumindest nicht, was die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik angeht. Die Zahl der Soldaten in der Bundeswehr ist bedauerlicherweise etwas kleiner als im Jahr 2022, zur angestrebten Personalstärke klafft eine Lücke von der Größe der belgischen Armee. Zudem ziehen sich Rüstungsplanung und Beschaffung immer noch in Überlänge. Von den fünftausend Mann der Litauen-Brigade sind bis jetzt etwa zehn Prozent vor Ort, dafür brechen Rekruten bei der Bundeswehr immer früher ab. Warum auch immer Boris Pistorius bei den Deutschen so populär ist, in seinen Erfolgen ist der Grund dafür nicht zwangsläufig zu suchen.

Ein Stellenangebot der Bundeswehr auf einem grossen Werbeschild hinter der Theodor Steltzer-Kaserne in Kiel.Doch all das wird sich jetzt ändern! Es wird nicht leicht, eine „gemeinsame Kraftanstrengung“ nennt es der Bundeskanzler. Die Bundeswehr soll die stärkste konventionelle Armee in Europa werden, sodass unsere Verbündeten sich wieder an uns anlehnen, ja geradezu anschmiegen können. Und es ist wahr: Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und der NATO, allen voran die USA und die Länder Mitteleuropas, verlangen seit Jahren einen deutlich gewichtigeren deutschen Beitrag zur militärischen Sicherheit auf dem Kontinent.

Zu den rührenden Eigenarten der ansonsten immer streitlustigeren deutschen Öffentlichkeit gehört plötzlich etwas, das vor Jahren noch als absurder Scherz gegolten hätte: Im Grunde sind sich alle einig, dass es die Truppe braucht und man in den vergangenen Jahrzehnten etwas geizig, hin und wieder auch etwas gemein gewesen ist, wenn es um die Bundeswehr ging. Allein das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Im In- und Ausland wird die Forderung nach einer Bundeswehr, die ausreichend groß und respektabel ist sowie eine ganze Reihe an Fähigkeiten bereithält, mehrheitlich geteilt.

Da entzückt es vermutlich auch die US-Administration, dass Bundesaußenminister Wadephul am gestrigen Tag dem großen Bruder in Washington entgegenkam und signalisierte, an einer Erhöhung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO sei auch Deutschland interessiert. Den Amerikanern dürfte der diplomatische Flirt nicht entgangen sein, und sie werden ihn, inmitten von Handelsstreitigkeiten und strategischer Neuausrichtung, gerade von deutscher Seite zu schätzen wissen. Unabhängig davon, auf welche magische Zahl man sich auf dem NATO-Gipfel im Juni einigen wird, Mehrausgaben für die Sicherung des Kontinents sind allemal zu erwarten.

Wissend, dass das im Raum stehende Fünf-Prozent-Ziel wohl eher eine Metapher als die letztendlich verbindliche Zahl sein wird, fügte der Außenminister sogleich hinzu, dass man bei einer Erhöhung der konventionellen Militärausgaben sicher auch Ausgaben für sicherheitsrelevante Infrastruktur berücksichtigen könne. Das freut südeuropäische EU-Länder, Sozialdemokraten im Bundestag und alle anderen, die ohnehin gerne jeden Euro dreimal ausgeben.

Der neue Verteidigungsminister: Boris Pistorius (SPD).

Merz’ neue außenpolitische Linie bricht in ihrer geradezu hyperaktiven Regsamkeit und dem Bemühen um die Partner mit der lethargischen Zurückhaltung des vormaligen Regierungschefs, dem ein eher lauwarmes Verhältnis zu den Nachbarländern nachgesagt wurde. Doch Wadephul ist Außen- und nicht Verteidigungs- oder Finanzminister. Diese Ressorts liegen in der Hand des kleineren Koalitionspartners. Wird eine ambitionierte und bislang freundlich rezipierte Außenpolitik womöglich, wie der erste Kanzlerwahlgang, an mangelnder Geschlossenheit im Regierungslager scheitern?

Unwahrscheinlich. Die Sozialdemokraten leisten sich – vielleicht aus wahltaktischen, vielleicht auch aus Gründen der Denkmalpflege – zwar noch den Luxus eines militärskeptischen Flügels. Doch in Fragen der Wehrpolitik vertreten sie keine radikal anderen Positionen als die Union. Zu guter Letzt werden sie ihrem eigenen Verteidigungsminister wohl auch nicht zu offensichtlich in die Parade fahren wollen. Mit der Aussetzung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben und einer gewaltigen Kreditermächtigung für „Infrastruktur“ sind auch Geldmangel oder Verteilungskämpfe von Beginn an als Hürden abgeräumt.

Soldaten der Bundeswehr stehen neben einem Eurofighter der Luftwaffe während der Zeremonie zur Übernahme der Nato Air Policing Mission.

Es gibt nun also keinen vernünftigen Grund, warum die Zeitenwende nicht gelingen sollte: Alle wollen sie, Geld steht ohne Ende zur Verfügung, die Vorgängerregierung hatte sie bereits ausgerufen, und nicht einmal die Partei, deren Name nicht genannt werden darf, hegt den leisesten Zweifel daran, dass die Bundeswehr zumindest eine gut ausgerüstete Armee sein muss. Woran könnte dieses Projekt überhaupt noch scheitern?

Dass das Potenzial der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt nun endlich in glaubwürdige militärische Fähigkeiten übersetzt werden soll, ist mehr als begrüßenswert. Dies ist kein Militarismus, sondern ein Akt überfälliger strategischer Selbstachtung. Zudem zählt der Unterhalt einer halbwegs respektablen Armee zu den basalen hoheitlichen Pflichten jedes souveränen Staates und ließe sich wohl in jeder anderen Sprache mit dem Begriff der „Selbstverständlichkeit“ umschreiben. Eine Nation, die nicht nur ihre begründete militärische Zurückhaltung, sondern bereits ihre Zurückhaltung bei den Militärausgaben als noble Tat begreift, während es sich in Wahrheit um astreines geopolitisches Schwarzfahren handelt, verliert ihre strategische Autonomie, wenn sie sich auf das Trittbrett stellt. In Anbetracht bröckelnder Schulgebäude, Rekordsteuerlast und der klammheimlich beerdigten Tatsache, dass dieses Vergnügen überwiegend schuldenfinanziert sein wird, müssen es ja nicht gleich fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts sein.

„Die Bundeswehr“, so heißt es nun, „soll die stärkste konventionelle Armee in Europa werden.“ Die Frage ist längst nicht mehr, ob sie das aus moralischen Gründen überhaupt sein darf, sondern ob sie es sein sollte, kann und, wenn ja, wie die Bürger dieser Republik sich die Erreichung dieses Ziels vorzustellen hätten.

Wer sich in seinem Leben schon einmal mit militärischen Fragestellungen befasst hat, erkennt in der Aussage des Kanzlers den politischen Slogan in seiner ganzen unmilitärischen Pracht. Obwohl ihm etwas Martialisches anhaftet, ist er als strategische Formel in etwa so untauglich wie ein junger Mann bei den Grünen. Sicher, die Deutschen sollen wieder ein bisschen stolz auf ihre Bundeswehr sein dürfen, und das muss zum Repertoire eines CDU-Politikers gehören. Doch was ist eine „starke“ Armee überhaupt? Definiert sie sich über ihre zahlenmäßige Größe, die Rüstungsausgaben oder ein möglichst breites Fähigkeitenprofil?

Eine Straßenbahn mit Werbung der Bundeswehr fährt über den Hauptmarkt von Zwickau.

Berlin sollte keine Zeit verschwenden und nun sehr tief, bestenfalls auf allen Ebenen, in echte strategische Debatten einsteigen. Deutschlands strategische Lage weist eine Kombination diverser geopolitischer Faktoren auf: Für die Handelswege bräuchte es eine starke Marine, für den Cyber- und Weltraum entsprechende Kapazitäten, von der Lage als Landmacht im Herzen Europas ganz zu schweigen. Jeder dieser Faktoren erfordert eine eigene Doktrin und vielseitige Waffensysteme, die zum Teil nicht einmal in Europa, geschweige denn in Deutschland hergestellt werden. Um eine erschütternd ehrliche, weit gefasste Debatte über die geostrategische Lage dieser Nation sowie ihre außen- und sicherheitspolitischen Ziele führt kein Weg vorbei, und es wäre ein kleines Wunder, wenn die Bundesregierung diese nicht scheute. Die stärkste Armee ist jedenfalls diejenige, die ihren Auftrag bestmöglich erfüllen kann.

Sodann muss sich die Regierung fragen, ob sie bereit ist, das wiedergewonnene Vertrauen der internationalen Partner dafür zu nutzen, ein paar der gemeinsamen Rüstungs- und Beschaffungsvorhaben wahlweise zu beschleunigen oder, in Gottes Namen, abzubrechen. Gerade der Regierung in Paris dürfte es nicht gefallen, sollte Deutschland bei dem ein oder anderen Vorhaben auf die Tube drücken – und womöglich doch noch einmal, nur dieses eine, letzte Mal, ein Waffensystem in den USA kaufen, um eine Fähigkeitslücke schnell und unkompliziert zu schließen. Die Wiederbelebung der Bundeswehr als Garant der Wirksamkeit deutscher Diplomatie wird nur gelingen, wenn sie einsatzbereit ist und im Übrigen auch durch eine leistungsfähige Rüstungsindustrie im Hinterland getragen wird.

Soldaten stehen stramm beim Indienststellungsappell des Unterstützungskommandos der Bundeswehr auf der Hardthöhe in BonnDer wichtigste Punkt aber bleiben die Bürger der Res Publica. Große Teile der Deutschen fragen sich, mitunter zurecht, ob sie ihr Leben lassen würden – nicht nur für diesen Staat, sondern auch für seine Ziele. Wenn ausländische Vertreter davon sprechen, „die Deutschen“ müssten mehr für Verteidigung tun, stimmen hierzulande viele zu. Doch damit sind nicht nur Mehrausgaben gemeint. Es wird nicht reichen, die Gewährleistung der Sicherheit zukünftig nicht mehr an Verbündete, sondern an die Soldaten der Bundeswehr zu delegieren – jedenfalls nicht, wenn dort nicht sehr viel mehr Menschen freiwillig ihren Dienst leisten. Ein Teil der wie auch immer gearteten Mehrausgaben sollte also möglicherweise in eine kräftige Erhöhung der Besoldung fließen – gerade für diejenigen, die im Ernstfall an der Kontaktlinie stehen.In welche Richtung diese neue Außenpolitik schlussendlich geht, ist eine andere Frage. Über Details kann man streiten, und das sollte man in diesem Fall auch. Eine gut ausgestattete Bundeswehr muss nicht die größte Streitmacht Europas sein, und – unter uns – sie wird es in der Amtszeit von Boris Pistorius und Friedrich Merz wohl auch nicht werden. Aber sie wird immer das Rückgrat deutscher Sicherheitspolitik sein – egal, wohin oder an wen die Zeit sich gerade wendet.

*Chris Becker ist ehemaliger Offizier der Luftwaffe, Reservist, Berater und als freier Autor für verschiedene Medien tätig.

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