
Die SPD will mit den Stimmen der CDU eine Juristin nach Karlsruhe katapultieren, die in bioethischen Fragen Positionen vertritt, die vom bisherigen Konsens weit entfernt sind. Dort soll Frauke Brosius-Gersdorf dann auf Jahrzehnte hinaus am Bundesverfassungsgericht viele linke Entscheidungen treffen und ebensolche Urteile fällen – Urteile, die die Rechtstheorie, aber auch die Rechtsprechung in der Praxis und damit die praktische Rechtsordnung in diesem Land auf Jahrzehnte hinaus verändern würden.
Die SPD spekuliert insbesondere darauf, dass Brosius-Gersdorf, wäre sie erst Verfassungsrichterin, den Ersten Senat dazu bewegen könnte, den § 218 StGB („Abtreibungsparagraph“) komplett zu streichen, wodurch die Abtreibung bis zur 12. Woche entkriminalisiert würde. Denn Frau Brosius-Gersdorf hat genau die Einstellung zur Abtreibung, die das rot-grüne Milieu liebt. Ihre zentrale Aussage zur Abtreibung lautet so: „Menschenwürde (Art. 1 GG) gilt erst ab Geburt.“ Aus dieser Hypothese leitet sie dann sofort eine Folgethese ab, die besagt: Wenn die Menschenwürde erst ab Geburt gilt, dann „hat der ungeborene Fötus zwar grundrechtlichen Lebensschutz (Art. 2 GG), es kommt ihm aber keine Menschenwürde zu.“ Sind diese beiden Prämissen aber wahr – was Brosius-Gersdorf annimmt –, dann ist eine Abtreibung in den ersten zwölf Lebenswochen legitim und kann ergo nicht unter Strafe stehen, da es keinen Konflikt mit der Menschenwürde gibt.
Diese Thesen sorgen in linksgrünen Kreisen für helle Begeisterung und bei der CDU immerhin noch für respektvollen Applaus – aber woher stammen sie? Um das gleich vorwegzunehmen: nicht von Brosius-Gersdorf selbst, denn die ist bislang weder als originelle Denkerin noch als Starjuristin aufgefallen. Nein, diese Thesen stammen von Peter Singer – und da wiederum aus dessen Praktischer Ethik.
Der Philosoph Peter Singer
Wer ist jetzt Peter Singer, was sagt er in seiner Ethik, und warum kommt ausgerechnet eine Frauke Brosius-Gersdorf darauf, sich – wissentlich oder nicht – auf Singers Thesen über Abtreibung zu berufen?
Peter Singer (geb. 1946 in Melbourne, Australien) ist ein australischer Moralphilosoph. Er lehrt seit 1999 an der amerikanischen Princeton University und ist bekannt für seine Arbeiten zur Tierethik, Bioethik und angewandten Ethik. Singer vertritt einen präferenzutilitaristischen Ansatz, bei dem das Abwägen von Interessen im Zentrum moralischer Urteile steht. Mit „Präferenzutilitarismus“ ist eine Ethik gemeint, der zufolge nicht das Streben nach dem maximalen Glück aller (wie im hedonistischen Utilitarismus von Jeremy Bentham oder John Stuart Mill, zwei britischen Philosophen des 19. Jahrhunderts) im Zentrum moralischen Handelns steht, sondern die Erfüllung der individuellen Präferenzen eines jeden Menschen. Einfach ausgedrückt heißt das: Der Mensch soll im Leben nicht maximalen Genuss und Freude für die ganze Gesellschaft anstreben – das wäre Hedonismus –, sondern die Ziele verfolgen, die seinen persönlichen Interessen am meisten entsprechen. Bei Eltern, die ein unheilbar krankes Kind haben (dazu kommen wir gleich), kann das beispielsweise bedeuten, dass sie dieses Kind – da es ihnen lästig ist und vom Leben ohnehin nichts mehr zu erwarten hat – töten wollen, was nach Singer straffrei möglich sein sollte.
International berühmt (und berüchtigt) wurde Singer durch sein Buch Animal Liberation (1975), eine Art von Tierethik, welche die Tierrechtsbewegung maßgeblich beeinflusste, sowie durch Practical Ethics (1979), in dem er kontroverse Positionen zu Abtreibung, Euthanasie und globaler Armut vertritt. In seiner Tierethik geht Singer davon aus, dass Tiere Interessen haben – zum Beispiel das Interesse, nicht zu leiden –, weshalb industrielle Nutztierhaltung und Tierversuche moralisch falsch sind, woraus sich für Menschen die Pflicht ergibt, sich vegetarisch oder vegan zu ernähren.
Animal Liberation wurde eine halbe Million Mal verkauft und vielfach übersetzt
In den angelsächsischen Ländern, insbesondere in den USA und dort wiederum an allen linken Eliteuniversitäten (Harvard, Columbia, Princeton, Yale etc.), ist Singers Practical Ethics weit verbreitet – eine, wie der Name schon sagt, praktische Ethik mit konkreten Handlungsmaximen und keine rein theoretische (wie z. B. Jürgen Habermas’ Diskursethik, die auf kommunikativem Handeln, sprich Diskussionen, beruht). Singers Hauptaussagen in Practical Ethics finden sich in den Kapiteln sechs und sieben, die mit Taking Life: The Embryo and Fetus und Taking Life: Humans überschrieben sind. (Taking Life ist hier mit „Leben beenden“ zu übersetzen).
Singers Aussagen in beiden Kapiteln sind ebenso eindeutig wie grauenhaft: Biologisch ein Mensch zu sein (Kap. 7) verleiht einem kein automatisches moralisches Recht auf Leben. Der Status des Menschen (und sein Unterschied zum Tier) beruht laut Singer auf Eigenschaften wie Rationalität, Selbstvergewisserung, Autonomie und Geschichtsbewusstsein – also dem Wissen, dass er eine Vergangenheit hatte und eine Zukunft haben wird. Ein Mensch, sagt Singer, ist „ein selbstbewusstes Wesen, das sich seiner selbst als eigenständige Entität mit einer Vergangenheit und einer Zukunft bewusst ist. Ein Wesen, das sich in dieser Weise seiner selbst bewusst ist, wird in der Lage sein, Wünsche in Bezug auf seine eigene Zukunft zu haben.“ („A self-conscious being is aware of itself as a distinct entity with a past and a future. A being aware of itself in this way will be capable of having desires about its own future.“ Practical Ethics, Kapitel 6/7, 3. Auflage 2011)
Aus dieser Definition des Menschseins leitet Singer das Recht auf Abtreibung und auch auf die Tötung kranker und behinderter Kinder ab. Seine Argumentation baut logisch folgerichtig auf seiner Definition des Menschseins auf und geht so: Ein Wesen, das nicht rational denkt, kein Bewusstsein von sich selbst und seiner Geschichte hat, ist biologisch wohl ein Mensch, aber keine „Person“ und kann damit nicht dieselbe Würde beanspruchen, die einem „ganzen Menschen“ zusteht. Sowohl ein ungeborener Fötus als auch ein krankes oder schwerbehindertes Kind sind für Singer folglich keine „Person“ und können deshalb entweder bis zum letzten Schwangerschaftsmonat abgetrieben oder – mit Zustimmung der Eltern – getötet werden.
Um diese erstaunlichen philosophischen Positionen, die kaum jemals in der Diskussion auftauchen, in aller Drastik und Deutlichkeit nachzuweisen, erlaube ich mir einmal, etwas ausführlicher zu zitieren. Ich beginne mit Singers Begründung für Abtreibungen: „Da kein Fötus eine Person ist, hat kein Fötus denselben Anspruch auf Leben wie eine Person. Solange ein Fötus keine Fähigkeit zu bewusster Erfahrung hat, beendet eine Abtreibung etwas, das eher einer Pflanze gleicht als einem empfindungsfähigen Tier wie einem Hund oder einer Kuh.“ (Practical Ethics, Kapitel 6/7)
Singers Position zur Tötung schwerkranker Kinder lautet so: „In Kapitel 4 haben wir gesehen, dass die Tatsache, dass ein menschliches Wesen Mitglied der Spezies Homo sapiens ist, für die moralische Bewertung, ob es richtig oder falsch ist, dieses Wesen zu töten, nicht relevant ist. Es sind Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewusstsein, die den Unterschied ausmachen. Säuglinge besitzen diese Eigenschaften nicht. Sie zu töten kann daher nicht mit dem Töten normaler erwachsener Menschen oder anderer selbstbewusster Wesen gleichgesetzt werden.“ Practical Ethics, Kapitel 6/7)
Singers willkürliche Unterscheidung von „Mensch“ im biologischen und „Person“ im moralisch-geistigen Sinne erlaubt es ihm einerseits, die Tötung menschlichen Lebens in Form von Nicht-Personen zu rechtfertigen, auf der anderen Seite aber die industrielle Tierhaltung sowie das Schlachten und Essen von Tieren zu verdammen und seinen Lesern Veganismus zu empfehlen – ein eklatanter Widerspruch, der Singer aber vollkommen entgeht.
Natürlich kann man jetzt sagen, Singer treibt den Präferenzutilitarismus auf die Spitze, das ist vielleicht eine extreme, aber rein theoretische Position der philosophischen Ethik, die mit dem echten Leben, das ja bei solchen Fragen durch Gesetze und Gerichtsurteile geregelt wird, nichts zu tun hat. Aber wer so argumentiert, macht es sich zu leicht, denn neue und veränderte Gesetze entstehen immer aus einem bestimmten Geist heraus – einem Geist, der den Willen und irgendwann auch die Macht hat, bestehendes Recht zu verändern.
Und da sind wir jetzt wieder bei der SPD und Frau Brosius-Gersdorf. SPD, Grüne, Linke und Feministinnen wollen seit Jahrzehnten den § 218 ändern und Abtreibungen entkriminalisieren. Das ist in der Gesamtbevölkerung kein populäres Thema, aber die rot-grünen Vordenker wollen hier unbedingt Fakten und Paragraphen schaffen. Aber dazu braucht man willfährige Verfassungsrichter, die bereit sind, im Ersten Karlsruher Senat linke Positionen endgültig in geltendes Recht zu kodifizieren.
Brosius-Gersdorfs Positionen stimmen, was die Abtreibung angeht, in praktisch allen Punkten mit Singers Practical Ethics überein. Für Brosius-Gersdorf gilt, genau wie für Singer, die Menschenwürde erst ab der Geburt, weil ein Fötus keine Person – und damit im moralischen Sinne kein Mensch ist. Genau wie Singer denkt Brosius-Gersdorf, dass der Fötus keine Menschenwürde hat, und genau wie Singer zieht sie daraus den Schluss, dass Abtreibung mindestens in den ersten zwölf Lebenswochen vollkommen legitim ist, da – wenn der Fötus keine Menschenwürde besitzt – es natürlich auch zu keiner Kollision mit dieser kommen kann.
Wer meinen Vergleich mit Singer für übertrieben hält und nicht glauben mag, dass eine Kandidatin für das höchste deutsche Richteramt philosophische Positionen vertritt, die sich in einer Wohlfühlethik für radikalökologisch-feministische Kreise finden, der muss sich klarmachen, was Brosius-Gersdorf in ihrer Stellungnahme vom 10. Februar 2025 im Bundestag wirklich gesagt hat.
Da verrät sie nämlich die Auffassung, dass es gute Gründe dafür gibt, die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes erst ab der Geburt anzunehmen. Zwar gelte das Grundrecht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 GG bereits pränatal, allerdings mit einer geringeren Schutzintensität bis zur Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibs. In der Frühphase der Schwangerschaft überwiegt nach ihrer Ansicht das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren deutlich gegenüber dem Lebensrecht des Ungeborenen, sodass ein Schwangerschaftsabbruch in dieser Phase nicht nur straffrei, sondern rechtmäßig sein sollte.
Mit fortschreitender Schwangerschaft nehme die Schutzwürdigkeit des Fötus zu, während die Gewichtung der Grundrechte der Schwangeren abnehme. Brosius-Gersdorf befürwortet daher eine Regelung, nach der Abbrüche bis zur 12. Woche auf Verlangen rechtmäßig sind, bei medizinischer Indikation bis zur Geburt und bei kriminologischer Indikation bis zur 15. Woche, wobei die Schwangere stets straffrei bleibt. Zudem betont sie, dass der Gesetzgeber nicht an die früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1975 und 1993 gebunden sei und daher eine verfassungsrechtliche Neubewertung vornehmen könne.
Diese Aussagen, die so harmlos, so typisch juristisch-langweilig, so papieren-unverdächtig daherkommen, sind nichts von alledem. Würde der § 218 nach dieser Façon geändert, dann hätten wir ein neues Abtreibungsrecht, das zum ersten Mal auf einer nicht begründbaren Aberkennung der Menschenwürde für ungeborenes Leben beruhte.
Jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter: Wenn Brosius-Gersdorfs Positionen schon beim Thema Abtreibung sich so sehr mit Peter Singers extremer Ethik decken, könnte es dann nicht bei anderen Fragen auch so sein? Könnte es sein, dass, ist der Damm erst gebrochen und eine neue Abtreibungspraxis juristisch etabliert, auch bei anderen Fragen wie Euthanasie (die Singer selbstverständlich befürwortet) oder – horribile dictu – sogar der Tötung schwerstkranker Kinder das Gesetz irgendwann ebenfalls geändert werden würde?
Das sind Fragen, die man sich mindestens bei der CDU und der CSU stellen sollte. Bei SPD und den Grünen ist beim Thema Abtreibung seit jeher Hopfen und Malz verloren. Aber bei CDU und CSU – da sollte, ja dürfte das nicht der Fall sein. Dort sollte man sich einmal genauer anschauen, mit welchem philosophischen Gepäck Frau Brosius-Gersdorf reist, und sich ernsthaft fragen, ob man auf diese Reise wirklich mitgehen will.
PS: Nachdem ihre Wahl zur Verfassungsrichterin gescheitert war, hat Frau Brosius-Gersdorf am Dienstagmorgen (15.07.2025) über eine Bonner Anwaltskanzlei mit einer Presseerklärung versucht, die Wogen zu glätten und ihr Schiff zu retten. Das wird nicht gelingen, denn im Substanzkern hat sich an ihren Positionen gar nichts geändert.
Frauke Brosius-Gersdorf versucht in ihrer aktuellen Erklärung, die Debatte zu entschärfen, indem sie ihre frühere Aussage als rein verfassungsdogmatische Analyse darstellt. Jetzt betont sie, sie habe nie gefordert, dem ungeborenen Leben jegliche Menschenwürde abzusprechen oder Schwangerschaftsabbrüche bis zur Geburt zu legalisieren. Vielmehr habe sie auf das verfassungsrechtliche Dilemma hingewiesen: Wenn Menschenwürde absolut und pränatal gilt, wäre jeder Abbruch – selbst bei Lebensgefahr für die Frau – unzulässig. Ihre Schlussfolgerung lautet, dass dieses Problem nur durch eine Neubewertung gelöst werden kann: Entweder muss die Menschenwürde abwägungsfähig sein oder sie greift erst ab der Geburt.
Damit aber bleibt der entscheidende Punkt bestehen: Brosius-Gersdorf öffnet die Tür für ein Modell, das den bisherigen Dogmen widerspricht und eine gestufte Schutzlogik einführt. Die Relativierung ihrer Position ist also taktisch motiviert, nicht inhaltlich – der Bruch mit der bisherigen Verfassungsrechtsprechung bleibt Kern ihrer Argumentation.