
In Arizona, dem zweitheißesten US-Bundesstaat nach Florida, gibt es diese Redewendung: „We run on sunshine“. Sie feiert die mehr als 300 Sonnentage im Jahr, doch an diesem Samstag gilt sie ganz besonders: In brütender Hitze strömen Zehntausende vor das Turning-Point-Quartier in Tempe bei Phoenix, um Charlie Kirk zu gedenken. So, als ob die Sonne die Energie spendet, um zu begreifen, was nicht begreifbar ist: die Ermordung des 31-jährigen konservativen Bürgerrechtlers auf offener Bühne vor zehn Tagen.
Unter der Arizona-Sonne, die mit 36 Grad niederbrennt, hat sich an der East Beverly Road ein Meer aus Trauer und Trotz ausgebreitet. Vor dem Hauptsitz von Turning Point USA haben Zehntausende einen improvisierten Schrein errichtet, der sich inzwischen über die Länge eines ganzen Blocks erstreckt: Blumenberge türmen sich auf, dazwischen Notizen, Bibelverse, Fotos und persönliche Botschaften.
Am Samstag reicht die Gedenkstätte mehrere hundert Meter.
Blumen, Kuscheltiere und US-Flaggen: Menschen deponierten aller Hand Gegenstände vor der Turning-Point-Zentrale.
Die Besucher sind so vielfältig wie die Vereinigten Staaten selbst: Junge Studenten mit MAGA-Mützen mischen sich unter ältere Veteranen, Latinos aus der Grenzregion stehen Schulter an Schulter mit afroamerikanischen Familien aus dem Mittleren Westen. Viele sind aus Phoenix angereist, andere haben Hunderte Meilen zurückgelegt, manche sogar Tausende – wie Jake Lee, 21, der aus Delaware an der US-Ostküste angereist ist: „Ich fühlte mich einfach berufen, zu kommen“, sagt er. Er habe Kirk ein gemeinsames Foto mitgebracht, einen Brief geschrieben. „Vielen Dank, dass du mein Leben verändert hast. Ohne dich wäre ich nie die Person, die ich heute bin“, heißt es darin. „Früher hatte ich Angst vor Cancel Culture und Angst, meine Überzeugungen zu äußern. Durch dich habe ich diese Angst verloren.“
Wie Lee geht es vielen; für sie ist Kirk eine Erweckungspersönlichkeit, die Grundsätzliches in ihrem Leben zum Besseren verändert hat. Turning Point USA, die konservative Sammlungsbewegung, die Kirk 2012 als Gegengewicht zu linksprogressiven Universitäten im Land gegründet hatte, hat zahlreiche junge Menschen motiviert, sich für konservative Überzeugungen einzusetzen.
Nun steht der junge Jake mit Flaum und Turning-Point-Siegelring inmitten von Christen, die sich an die Schultern fassen, die Köpfe senken und leise beten. Es ist, als ob der Ort selbst atmet, pulsierend vor einer Energie, die Kirk zu Lebzeiten entfacht hat – eine Einheit, die in Deutschland unter Konservativen kaum denkbar ist, wo Fragmentierung und Isolation die Szene prägen. Hier, in Arizona, kommt hingegen eine Szene zusammen, die sich aus Nationalisten, Libertären, Christen, Patrioten, Anti-Globalisten und Wokeness-Gegnern zusammensetzt. Sie überbrückt Rassen, Altersgruppen, Herkunftsregionen und soziale Schichten. „You can kill the messenger, but you can't kill the message“, steht auf einem Plakat im Hintergrund.
Die Nachricht, die Kirk in die Welt gesetzt hatte, bleibt – auch das ist an den Plakaten ablesbar.
In Tempe kamen Alt und Jung zusammen – mit aller Hand Nachrichten, die Dankbarkeit ausdrücken.
Plötzlich braust es auf: „Amazing Grace“ schwillt an, gesungen von Dutzenden Stimmen, die in der Hitze vibrieren. Die Hymne hallt über den Platz, danach Sprechchöre: „Charlie! Charlie!“.
Diese Momente der Ekstase kontrastieren die Stille dazwischen, wo Individuen vor dem Schrein verharren, Tränen in den Augen haben oder mit ihre Kindern in Kinderwagen vorbeischieben. Stephen, 36, ein schwarzer Familienvater, der mit seinen zwei Söhnen gekommen ist, hat Schweißflecken auf dem Tanktop. „Das war wirklich eine Tragödie“, sagt er, als er sich an die Ermordung am 10. September zurückerinnert. „Und es ist traurig zu sehen, was aus Amerika geworden ist.“ Es sei verrückt, allein daran zu denken, dass man nicht einfach seine Meinung äußern und sein Leben behalten könne. „Es ist fast so, als müsste man sich entscheiden.“
Stephen ist Christ, auf seinem Top ein Bibelvers abgedruckt. Ohnehin fällt auf, dass in Tempe Gläubige zusammenkommen: evangelikale Christen, katholische Latinos, missionierende Osteuropäerinnen. Mehr als für konservative politische Standpunkte und Meinungsfreiheit stand Kirk, so der Eindruck, für eine Wiederbelebung des Christentums, welches demonstrativ nach außen repräsentiert wurde. Jake aus Delaware etwa trägt, wie viele andere hier auch, ein Kreuz um den Hals; immer wieder werden christliche Bücher und Bibeln angeboten. Eine Besucherin namens Rachel sagt: „Alles, wofür Charlie einstand, stammte aus Gottes Wort. Und es war nicht nur eine politische Sache, sondern auch Liebe.“
Eine Frau fotografiert die Szenerie.
Ein Schild legt Zeugnis darüber ab, wie auch andere bemerkten, dass es an US-Universitäten zu Indoktrinierung durch und Radikalisierung von Linken kommt.
Mitunter entwickelt das Gedenken aber nicht nur einen urchristlichen, sondern auch einen zivilreligiösen Charakter, der Grenzen zwischen Trauer, Politik und Glaube verschwimmen lässt. Kirk wirkt hier mitunter nicht mehr wie Familienvater und Debattenfreund, sondern wie Märtyrer, „cult leader“ und Ikone. Sein Tod ist jedenfalls auch Anlass für junge Afroamerikaner aus den Vororten von Phoenix, die in umgangssprachlichem Slang mumblen, MAGA-Merchandise zu verkaufen. Kirks Ermordung macht ihn zu einer Heilsfigur, sein Ableben wird zu einem Verkaufsevent.
Und doch: Wer will es ihnen verübeln? Eine der prominentesten konservativen Stimmen wurde viel zu früh aus seinem Leben gerissen – wohl auch, weil er zu dem Feindbild überzeichnet wurde, was bis heute von linken Journalisten aufrechterhalten wird. Sein Andenken auch mittels T-Shirts und Kappen in die Welt zu tragen, und seine Botschaften im Sinne einer „Jetzt erst Recht“-Attitüde zu verbreiten, erscheint aus dieser Perspektive zumindest nachvollziehbar. Und noch etwas anderes fällt auf: Während Linke nach der Tötung von George Floyd monatelang Innenstädte verwüsteten, Geschäfte plünderten und eine Generalanklage äußerten, erscheinen Charlie Kirks Anhänger geradezu stoisch. Und versöhnend.
Trotz der Ermordung betonten zahlreiche Besucher, dass sie Kirks Beispiel folgen wollen – und keinen Groll hegen.
Eine Frau namens Kendra legte einen Brief an der Gedenkstätte nieder.
Sie verweisen auf Kirks Debattenfreude und Streitlust, und eine Person, die gewollt hätte, dass man auch mit den schlimmsten Widersachern, die sich über den Tod erfreuen, ins Gespräch kommt. Auf Auge und Zahn folgt hier, so scheint es, eher die andere Wange. Und auf einem Schild steht: „Sei wie Charlie. Bete für unsere Feinde, sei nicht böse oder rachsüchtig.“
Dieses Ethos ist der vielleicht größte und vereinende Moment der US-Rechten, der deutlich macht, dass hier eine Massenbewegung initiiert worden sein könnte, die geradezu vorleben will, nicht wie der linke Kontrahent zu sein: Dieses Ethos speist sich aus dem Willen zur Überzeugung von Andersdenkenden, offenen Diskurs und Schlagabtausch und einer ausgestreckten Hand, wo sonst nur Mittelfinger gezeigt werden.
In diesem Sinne zeigt sich in der glühenden Hitze Arizonas auch: Kirk war ein Brückenbauer, den die Linken schon lange nicht mehr gehabt haben – und der die Konservativen nicht nur mobilisierte, sondern sie versöhnte.
Immer wieder kommt es unter Besuchern zu Gebetskreisen, die Trost spenden sollen.
Bei gleisender Hitze kamen am Samstag Zehntausende zusammen.
Am Nachmittag senkt sich die Sonne, die Hitze klebt noch an den Körpern. In kleinen Kreisen teilen Menschen Geschichten: Eine ältere Frau aus dem ländlichen Arizona spricht von Kirks Podcasts, die ihr den Glauben an Amerika zurückgaben. Eine junge Frau aus Tennessee wurde durch ihn, so berichtet sie es NIUS, zur Content-Creatorin.
Spricht man mit den verschiedensten Menschen vor Ort, erscheint es geradezu realitätsfremd, wie deutsche Medien das Bild eines Extremisten, Verschwörungsgläubigen oder Faschisten aufrechterhalten – und sich gleichzeitig nicht schämen. Und auch das Bild der „Deplorables“, des „Make America Great Again“-Abfalls, den Hillary Clinton einst im Wahlkampf beschworen hatte, hält keinem Realitätscheck stand: Die Unterstützer, die Kirk gedenken wollen, sind Studenten und Rentner, aus Suburbia-US und vom College-Campus kommend, aber gewiss nicht der „White Trash“, den deutsche Medien immer wieder mit Trump-Unterstützern assoziieren. Der Vorgarten ist hier präsenter als die Fentanyl-Krise.
Was all dies bedeutet, ist nur schwer zu erahnen. Am heutigen Sonntag werden bis zu 100.000 Teilnehmer an der Trauerfeier erwartet, die im benachbarten Glendale ins State Farm Stadium strömen werden, das eigentlich nur 70.000 Plätze bereithält.
FBI, lokale Polizisten, Security-Dienste werden ab den Morgenstunden im Dienst sein. Es dürfte die größte Abschiedsfeier werden, die die USA seit der Beerdigung von Muhammad Ali im Juni 2016 in Louisville, Kentucky, gesehen hat. Jake aus Delaware, der Brief und Foto vor der Turning-Point-Zentrale niederlegt, ist sich sicher: „This is forever.“