
Nachdem die US-Regierung die Verfassungsschutz-Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextrem“ kritisiert hat, setzt Sigmar Gabriel einen Tweet ab: „Vor 70 Jahren gaben Tausende US-Soldaten ihr Leben, um Deutschland von den Nazis zu befreien. Heute unterstützt der US-Außenminister eine Partei, die Neonazis toleriert und fördert. Rubio ist sich offenbar nicht bewusst, wie sehr er die Ehre der US-Veteranen des Zweiten Weltkriegs mit Füßen tritt.“
Diese Sätze zeigen uns gleich drei Dinge, die Deutschland im Umgang mit seiner Geschichte falsch macht. Erstens: Das Kriegsende ist anders als Gabriel sagt, nicht 70, sondern 80 Jahre her, aber auch nur grundlegendes Wissen über den Zweiten Weltkrieg scheint nicht mehr erforderlich zu sein, um große Sprüche darüber zu klopfen. Zweitens: Wie irre muss man sein, um aus der Tatsache, dass US-Soldaten Europa vor den Deutschen retten mussten, abzuleiten, man könne jetzt damit ein moralisches Urteil über das US-Demokratieverständnis begründen? Und drittens: die historische Interpretation, dass die Amerikaner in der Normandie gelandet wären, um „Deutschland von den Nazis zu befreien“ – und nicht etwa Europa von Deutschland – ist nahe der Geschichtsklitterung und einer auf Deutschland bezogenen Täter-Opfer-Umkehr. Das erinnert eher an Sprüche wie „Die Österreicher waren Hitlers erstes Opfer“ oder: „Schlimm, was der Hitler gemacht hat – mit den Deutschen“.
Gabriels Post zeigt beispielhaft die Blindheit der deutschen Linken bei ihrem permanenten Versuch, ihren Kampf gegen die AfD in eine historische Linie mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu stellen. Es geht dabei nicht nur darum, dass man die AfD verteufelt, man steigert sich selbst in eine entgrenzte Opfer-Verklärung hinein, die zu denken geben sollte.
Eigentlich gehörte es mal zum guten Ton, Hitler-Vergleiche nach Möglichkeit zu begrenzen, da wir seit Monaten allerdings in einer fortwährenden Weimar-Psychose leben, in einem Disneyland für Rote Frontkämpfer, müssen wir auch hier einmal über Hitler sprechen. Denn gerade im Nationalsozialismus erkennt man einen paradoxen Wesenskern der totalitären Gefühlslage.
In der Wannseekonferenz ging es genau einmal um Mitleid – und zwar um Mitleid mit den SS-Männern, die beim Erschießen von Juden traumatisiert werden könnten. Als Eichmann das Konzept der Gaskammer vorstellt, war man in der Runde von NS-Bürokraten erleichtert, man sah es geradezu als Akt der Humanität – voll der Sorge um die Gefühle der Schlächter. Als Himmler eine Massenerschießung von Juden besuchte, zeigte er sich tief entsetzt – „krank vor Ekel“. Er spricht über den Auftrag des Holocausts fortan vor allem selbstmitleidig – vom „furchtbarsten Auftrag, den eine Organisation bekommen konnte“. In Hitlers Nero-Befehl kurz vor Kriegsende erklärt Hitler schließlich, das deutsche Volk habe sich als „das schwächere erwiesen“. Die Deutschen hätten ihn sozusagen nicht verdient. Die Schlächter von Millionen suhlten sich Tag ein, Tag aus im grenzenlosen, perversen Selbstmitleid.
Es scheint so zu sein, dass ungehemmtes Selbstmitleid und eine permanente Betrachtung von sich selbst als Opfer notwendig für Grausamkeit und Gnadenlosigkeit ist; dass die Vereinnahmung des eigenen Mitleids für sich selbst eine Enthemmung gegen andere auslöst.
Solche oder irgendwelche weitergehenden Betrachtungen über den Nationalsozialismus sind in der deutschen politischen Landschaft aber nie passiert – die Erinnerungskultur blieb immer erschreckend an der Oberfläche. Deshalb allerdings wird die Debatte über AfD und Nazis so peinlich plump – und die Interpretationen werden beliebig. Ohne tieferes Verständnis ist es schließlich vollkommen willkürlich, welche oberflächliche Konsequenz wir aus der Geschichte ableiten:Sollten wir die AfD verbieten, weil man die NSDAP hätte verbieten sollen – oder ist die Forderung nach einem AfD-Verbot nicht faschistisch, schließlich hat die NSDAP doch auch ihre Opposition verboten? Sollte der Verfassungsschutz die AfD bekämpfen – oder sollten wir nicht politische Geheimdienste verbieten? Putin begründet seinen Krieg in der Ukraine übrigens auch mit dem Kampf gegen Rechts und gegen neue „Nazis“ – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn man über das Schlagwort „Nazi“ nicht hinauskommt.
Die jetzt entfachte Debatte um ein AfD-Verbot ist auch ein trauriger Höhepunkt dieses eindimensionalen „Kampfes gegen Rechts“. Man merkt gar nicht mehr, dass man vor lauter unreflektierter Entschlossenheit selbst zunehmend totalitären Reflexen erliegt.
Nancy Faeser ist dabei die Speerspitze. Wegen Hass im Netz und anderer schlimmer Gemeinheiten mobilisiert sie zunehmend die Staatsmacht gegen harmlose Bürger. Die Schwachkopf-Razzia hat uns ein treffendes Symbol dieser Täter-Opfer-Umkehr gegeben. Mit ihrem Compact-Verbotsversuch hat sie bewiesen, dass sie von der Meinungsfreiheit gar nichts verstanden hat. Und wenn Heidi Reichinnek, nachdem sie seit Monaten schrill über den Gang auf die Barrikaden gegen Rechts redet, bei Lanz sitzt und bei der ersten kritischen Frage patzig-wehleidig darauf verweist, dass sie Migräne gehabt habe – dann liefert sie die perfekte Karikatur.
Es ist eine politische Linke, die nur noch die Dimension des Opfers kennt und permanent damit beschäftigt ist, Opfer zu suchen und sich zum Opfer zu erklären. Im Endkampf gegen Rechts steigert sich dieses Gefühl in immer neue Höhen. Es sollte nicht verwundern, dass in diesem ungebremsten Rausch der Wehleidigkeit schon die Quelle zur politischen Gnadenlosigkeit liegt. Grausamkeit und Selbstmitleid sind die vielleicht am schwersten zu ertragenden menschlichen Eigenschaften und sie sind nur Spiegelbilder voneinander.