
Die SPD kann das Sondierungsergebnis als Erfolg verbuchen. Sie hat der Union eine elementare Kursverschiebung abgerungen, die historische Folgen haben wird. Friedrich Merz ist seit über einem halben Jahrzehnt der Fixpunkt des wirtschaftlichen, konservativen Flügels der CDU – jetzt wird er als Kanzler ein Jahrzehnt sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik einläuten. Eines, von dem Olaf Scholz nur träumen konnte.
Dieser sah sich mit seiner SPD schon auf den Spuren Helmut Schmidts und dessen Verschuldungspolitik – wobei beiden die FDP am Ende einen Strich durch die Rechnung machte. Auch die Grünen um Robert Habeck redeten stundenlang einer solchen Verschuldungspolitik das Wort, die Liberalen ließen auch sie abtropfen. Merz macht es jetzt einfach. Die FDP ist weg und die eigene Partei vielleicht noch etwas zu beseelt von den vereinbarten Zurückweisungen, um kühl über den Bruch der eigenen Tradition nachzudenken, den ihre Chefs vollzogen haben.
Die Neuverschuldung stellt alles Gekannte in den Schatten, sie ist ein bundesrepublikanischer Epochenbruch. Nach den massiven Corona-Schulden und den nicht minder vollen Ampel-Jahren jetzt ein neuer Rekord. Die Union kauft sich dafür die Chance, etwas bei der Migration zu bewegen. Aber das ist noch alles andere als gewiss.
Genauso ungewiss ist, ob die SPD-Basis den ganzen Deal am Ende nicht in Bausch und Bogen ablehnt – oder, ob die eilig konstruierte Grundgesetzänderung am Ende auch durch beide Kammern des Parlaments kommt. Bundestag und Bundesrat weisen jeweils noch deutliche Hürden auf, und die Zeit ist knapp. Die Koalitionsverhandlungen fangen am Montag erst an. Bisher hat die Union für sehr viel Konjunktiv elementare Grundsätze fiskalkonservativer Verantwortung aufgegeben.
Ein echter Reformwille für das Staatswesen und den Haushalt ist im Sondierungspapier nicht zu erkennen. Die angekündigten Maßnahmen beim Bürgergeld sind ein guter Schritt, aber doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein: An den Grundproblemen, die auch den Merkel-Verschleiß geprägt haben, ändert sich nichts. Die SPD blockiert jede Reform des überwuchernden Sozialstaats. Und mit „Mütterrente“ als altem Wahlkampf-Goodie macht die CSU freudig mit.
In einer Schuldenunion, die der Euro längst ist, argumentieren mittlerweile auch liberale Ökonomen für mehr deutsche Schulden. Aber Schulden für Sozialausgaben sind dann immer noch der schlechteste Weg. Zu handfesten Steuersenkungen gibt das Sondierungspapier derweil nichts wirklich her.
Die SPD wird, was die Unternehmen betrifft, sicher Widerstand leisten. Eine Senkung der Einkommensteuer mit Blick auf den Mittelstand zum Beispiel wird mit Sozialdemokraten an der Regierung ein Ding der Unmöglichkeit. Regulierungsabbau wohl ebenso. Man finanziert lieber umgekehrte Geschenke: linke Tasche, rechte Tasche, seltsame Steuerverschiebungen.
Die soziale Marktwirtschaft prägt das Papier nicht: Man redet stattdessen über „klimaneutralen Stahl“ und über grüne „Leitmärkte“, die man etablieren will. Das ist der grüne Pfad der großen Wirtschaftslenkung. Das Bekenntnis zu „Technologieoffenheit“ in der Autoindustrie ist da eher ein Ibuprofen für die Kopfschmerzen der Branche. Eine Entfesselung der Wirtschaft, die es bräuchte, kommt wohl nicht. Stattdessen mehr Dirigismus, Märkte weiter als Korridore, die im Zweifel ins grüne Nichts führen.
Eine Entfesselung war auch nie der Anspruch von Friedrich Merz, der sich schon vor Monaten öffentlich eher bei Robert Habeck als bei Javier Milei sah. Es macht sie nicht minder notwendig. Aber dass er, einst Fahnenträger der Fiskalkonservativen in der Union, auch noch Rekordverschuldung mitträgt, wird die CDU lange negativ prägen. In Europa sendet Deutschland damit ein Signal des Aufbruchs – vor allem für das Aufbrechen von Verschuldungsdämmen. Und die Frage stellt sich: Wofür haben wir jahrelang die Griechen und Italiener getriezt, wenn das jetzt die deutsche Finanzpolitik ist?
Die besondere Dreistigkeit liegt auch in der Vergangenheit beider Parteien: Union und SPD sind genau die, die das Land über Jahre auf Verschleiß gefahren haben. Seit dem Ende der Schröder-Jahre verprassten CDU, CSU und SPD unter Merkel das Geld für Sozialgeschenke und eine immer weiter, von Wahlinteressen geleitete Expansion des Wohlfahrtsstaates, vernachlässigten dabei Kernaufgaben: So kamen statt eines Infrastrukturfonds Asylausgaben und statt eines Bundeswehrvermögens die Rente mit 63. Was man alles hätte reparieren und kaufen können!
Um den Kater der sinnlosen Ausgabenpartys der letzten Jahre zu kurieren, nimmt Schwarz-Rot nun aber den großen Schluck aus der Schulden-Flasche. Das ist in etwa so sinnvoll wie ein tatsächliches Konter-Bier: Wer immer nur gegen den Kater antrinkt, bleibt betrunken. Mit 900 Milliarden kann man sich Zeit kaufen, um den Haushalt kernzusanieren – oder auf Exzess mit Exzess antworten. Letzteres scheint der Weg zu sein, den Schwarz-Rot gehen möchte. Geld ausgeben ist eine Droge, und die Politik verweigert den Entzug.
Von ernsthaftem Sanierungswillen zeugt das Sondierungspapier nicht: Man spricht feierlich davon, eine „ziel- und wirkungsorientierte“ Haushaltspolitik „schrittweise“ zu erreichen. Damit verabschiedet sich die Union vom fiskalischen Konservatismus, der von Ludwig Erhard bis Wolfgang Schäuble die Partei und mit ihr das Land geprägt hat. Der Wohlfahrtsstaat kann weiter wuchern: statt zu sparen, schafft Schwarz-Rot den Sparzwang ab.
Friedrich Merz ist schon der historische Schuldenkanzler, bevor seine Kanzlerschaft begonnen hat. Es gibt mehr Schulden und damit mehr Bürokratie und mehr Staat. Sonderhaushalte für Ausgaben, die nicht besonders sind, werden zur Regel – dabei sind Verteidigung und Infrastruktur doch die Kernaufgaben eines jeden Staatswesens. Aber der Kernhaushalt gehört längst dem Wohlfahrts- und Schuldenstaat und seiner Bürokratie.
Daran ändert die Union nichts Substanzielles – stattdessen heißt es: volle Kraft voraus auf diesem zersetzenden Kurs. Innerhalb weniger Wochen leitet Friedrich Merz ein Jahrzehnt sozialdemokratischer Wirtschafts- und Ausgabenpolitik ein. Das ist jetzt schon sein Vermächtnis, unabhängig von allem, was er vielleicht noch schafft.