
Ein Gastbeitrag von Olof Brunninge
Niemand in Schweden möchte in Bullerbü leben. Bullerbü ist vor allem ein Sehnsuchtsort für deutsche Touristen. Den kann man auch weiterhin haben. Man braucht sich nur für den Sommerurlaub ein Häuschen auf dem Land zu mieten und ungestört ein paar Wochen Astrid-Lindgren-Idylle genießen.
Bullerbü-Idylle mit schwedischer Fahne im Vorgarten
Wer dagegen dauerhaft in Schweden wohnt, bekommt mit, dass sich das Land schnell verändert. Vergleichsmaßstab ist hier nicht das Bullerbü der 1920er Jahre, sondern das Schweden der eigenen Kindheit in den 70er, 80er oder 90er Jahren. Immer mehr Schweden haben Erlebnisse, bei denen sie ihr eigenes Land nicht mehr wiedererkennen.
Die schwedisch-jüdische Journalistin Naomi Abramowicz
2022 schrieb die jüdisch-schwedische Journalistin Naomi Abramowicz über einen Besuch in der Kleinstadt Nybro. Vor Jahrzehnten verfasste dort der Zeitungsredakteur Runer Jonsson die Kinderbücher vom Wikingerjungen Wickie. Wer Jonssons Bücher gelesen hat, kann erahnen, dass sich hinter Nybro das Wikingerdorf Flake verbirgt. Inzwischen sind neue Menschen nach Nybro gekommen. In dem industriell geprägten Städtchen sind in den letzten Jahrzehnten viele Arbeitsplätze verloren gegangen. So standen 2015 Wohnungen leer, in die man neuangekommene Flüchtlinge einquartierte. Auch die Migranten haben Probleme, Jobs zu bekommen, aber viele bewiesen Unternehmungsgeist und starteten Geschäfte oder Restaurants.
Als Naomi Abramowicz einen Laden betritt, kommt sie mit dem arabischen Besitzer ins Gespräch. Er wohne schon seit 25 Jahren in Schweden, sagt er. Dann wird er auf den Davidstern an der Halskette der Journalistin aufmerksam und wird wütend: „Ich kann Juden nicht respektieren. Ich werde jeden Juden rausschmeißen, der in mein Geschäft kommt! Die Juden werden gegen die Moslems verlieren. Ihr seid nur sechs Millionen. Wir sind viel mehr.“
Die schwedischen Juden, von ihnen leben nur knapp 20.000 im Land, sind besonders von importiertem Antisemitismus aus Nahost betroffen. Dabei kam der Antisemitismus nicht durch Migranten ins Land. Der israelische Armeesprecher Jonathan Conricus, Sohn eines schwedischen Vaters und einer israelischen Mutter, wuchs in den 1980er-Jahren in Malmö auf. In einem Interview berichtete er, dass es schon damals Probleme mit antisemitischen Pöbeleien gab, wenn auch nicht in dem Ausmaß von heute. Die Täter waren damals oft schwedische Skinheads. 1992 zog die Familie dann nach Israel, nicht wegen des Antisemitismus in Schweden, sondern wegen der Aufbruchstimmung, die in Israel nach dem Oslo-Abkommen mit den Palästinensern herrschte. Heute ist Conricus entsetzt über die Situation in seiner alten Heimatstadt, wo nach dem 7. Oktober von arabischen Migranten der Terror der Hamas gefeiert wurde: „Ich finde das ungeheuer beschämend. Die Leute wissen, dass diese barbarischen Angriffe geschehen sind und trotzdem marschieren sie öffentlich und unterstützen die Hamas. Die müssen vom Hass auf Israel und die Juden verblendet sein.“
Polizeiabsperrung nach einer Schießerei in einem Einkaufszentrum in Göteborg.
Auch nichtjüdische Schweden werden stutzig, wenn sie die Veränderung ihres Landes erleben. Ein Kollege erzählte von seiner Tochter, die in einem Bürohaus in der Nähe des Göteborger Hauptbahnhofs für ein multinationales Unternehmen arbeitete. Wenn sie nach Büroschluss zu ihrem Auto ging, kam ein Wachmann als Eskorte mit. Der Wächter wurde vom Eigentümer des Bürohauses gestellt, der Angst hatte, dass ihm sonst die Mieter weglaufen würden. Das Bahnhofsviertel von Göteborg, am Tag durchaus ein einladender Ort und nicht vergleichbar mit seinen manchmal schmuddeligen deutschen Pendants, ändert am Abend den Charakter. Jugendbanden, hauptsächlich migrantisch geprägt, lungern herum, handeln mit Drogen und begehen auch Gewaltverbrechen. Angehörige der Mehrheitsbevölkerung fühlen sich in der Minderheit und sehen zu, dass sie möglichst schnell zu ihrem Zug oder nach Hause kommen.
Wie Stockholm und Malmö wird auch Göteborg in den letzten Jahren vom schwedischen Bandenkrieg heimgesucht. In den Brennpunktvierteln größerer Städte liefern sich kriminelle Gangs blutige Fehden. 2022 wurden in Schweden 62 Menschen erschossen. Damit nimmt das Land gemessen an der Bevölkerung eine Spitzenstellung in Europa ein. Zwar ist der Trend bei den Schusswaffenmorden zurzeit rückläufig, aber auch die 34 Toten in den ersten drei Quartalen 2024 sind eine Bilanz des Schreckens. Meist sind die Opfer selbst kriminell. Es kommen aber auch Unbeteiligte in die Schusslinie. Am 5. Oktober wurde in Malmö ein junger Familienvater erschossen. Der 16-jährige Killer hatte sich vermutlich in der Tür geirrt und hätte eigentlich einen kriminellen Nachbarn umbringen sollen, der im gleichen Mehrfamilienhaus wohnt.
Polizeieinsatz nach einer Detonation im Zentrum von Malmö.
Die Banden verdienen Geld mit Drogenhandel und Sozialbetrug. Im Kern sind die Gangs oft Familienclans aus dem Nahen Osten. Es gibt allerdings auch noch die traditionellen Rockerbanden, die schon in den 1990-er Jahren Schlagzeilen machten. Ausgerechnet der bioschwedische Boss des mutmaßlich kriminellen Motorradclubs „Comanches“ war kürzlich Gast auf der Hochzeit von Schwedendemokraten-Chef Jimmie Åkesson. Dessen Image als Kämpfer für Gesetz und Ordnung dürfte dadurch nachhaltig Schaden genommen haben.
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Allerdings stellen die Clans aus Nahost die Rocker inzwischen in den Schatten. Bei den neuen Gangs haben teilweise über 90 Prozent der Bandenmitglieder einen Migrationshintergrund. Viele von ihnen sind in Schweden geboren oder leben schon seit Jahren im Land und haben einen schwedischen Pass. Die Bandenproblematik ist also eher auf Jahrzehnte gescheiterter Integration zurückzuführen als auf die Flüchtlingswelle von 2015. Besonders beunruhigend sind Hinweise, dass die Banden Verbindungen zum islamistischen Milieu haben. Das war lange unbekannt.
Im Frühjahr 2024 wies dann der israelische Geheimdienst Mossad darauf hin, dass die berüchtigte schwedische Foxtrot-Bande vermutlich für den Iran arbeitet. Als am 1. Oktober Anschläge auf die israelischen Botschaften in Stockholm und Kopenhagen verübt wurden, liefen die Spuren zu Foxtrot und in den Iran. Die Vorgehensweise bei den Botschafts-Anschlägen, insbesondere der Einsatz minderjähriger, nicht voll strafmündiger Migrantenjungen, deckt sich mit dem Modus Operandi der Clans.
Schießerei kurz vor dem Jahrestag des Überfalls auf Israel an der israelischen Botschaft in Stockholm.
So ist es nicht verwunderlich, dass viele Schweden eine gescheiterte Einwanderungspolitik für die Probleme ihres Landes verantwortlich machen. Im Jahr 2023 hatten 27 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, das heißt, dass entweder sie selbst oder beide Eltern im Ausland geboren waren. Auf dem Höhepunkt der Migrationswelle im Jahr 2015 hielten sich die Befürworter und Gegner einer großzügigen Migrationspolitik noch die Waage. Das änderte sich schlagartig. 2023 wollten 53 Prozent der Schweden die Aufnahme von Flüchtlingen reduzieren. Nur 20 Prozent waren dagegen.
Jimmie Akesson, Spitzenkandidat der Schwedendemokraten.
Bei den Reichstagswahlen im Herbst 2022 waren daher die Themen Migration und innere Sicherheit zentrale Themen. Davon profitierten insbesondere die einwanderungskritischen Schwedendemokraten, die mit 20,5 Prozent zweitstärkste Fraktion wurden und seitdem eine bürgerliche Minderheitsregierung tolerieren. Zulauf fanden die Schwedendemokraten nicht nur bei der alteingesessenen Bevölkerung. Sie kamen unter den Wählern, die außerhalb Europas aufgewachsen sind, immerhin auf 14 Prozent und sind in dieser Wählergruppe die drittgrößte Partei. Auch manchen Schweden, die selbst aus dem Nahen Osten stammen, wird der Zuzug aus der alten Heimat unheimlich. Man fürchtet, dass sich der Islamismus, vor dem die eigenen Eltern oder man selbst geflohen ist, sich auch in Schweden breitmacht.
Das Tolerierungsabkommen zwischen Regierungsparteien und Schwedendemokraten sieht insbesondere eine verschärfte Migrations- und Kriminalpolitik vor. Schon die sozialdemokratische Vorgängerregierung hatte Einwanderungen erschwert. Da Abschiebungen auch in Schweden schwierig durchzuführen sind, setzt das Land vor allem darauf, dass die Migranten gar nicht erst nach Schweden kommen. Die Hürden für den Familiennachzug wurden erhöht. Schon 2021 wurde es schwerer, unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen zu erhalten. Aber auch bei Abschiebungen macht Schweden Fortschritte. Diesen Herbst wurden schon mehrere Abschliebeflüge in den Irak durchgeführt, denen offenbar ein Geheimabkommen mit der irakischen Regierung zugrunde liegt.
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Im August präsentierte Schwedens Regierung dann sensationelle Daten. Während die Zahl der Asylbewerber in der EU weiterhin hoch ist, ist sie in Schweden auf ein sehr niedriges Niveau gesunken. Wurden von 2010 bis 2015 jeweils 11 bis 14 Prozent der Asylanträge in der EU in Schweden gestellt, sind es im 1. Halbjahr 2024 nur noch 1 Prozent. Erstmals in den letzten 50 Jahren verzeichnet Schweden eine Nettoauswanderung. Teilweise mag diese Zahl auf eine Bereinigung der Statistik zurückzuführen sein. Es wurden dieses Frühjahr Personen aus dem Melderegister gestrichen, die schon länger fortgezogen waren, aber auch dieses Ausmisten der Melderegister ist ein Teil der strengeren Migrationspolitik. Wer aus Schweden fortzieht, ohne sich abzumelden, tut dies nämlich in der Regel, um weiterhin schwedische Sozialleistungen zu bekommen.
Bedeutet das nun, dass Schweden keine Migranten mögen? Studien zur Ausländerfeindlichkeit legen nahe, dass Rassismus in Schweden weiterhin seltener vorkommt als in vielen anderen europäischen Ländern. Eine Umfrage unter afrikanischstämmigen Migranten 2022 zeigt, dass 21 Prozent der Befragten in Schweden in den letzten 12 Monaten Diskriminierung erlebt hatten. In Österreich und Deutschland lagen die Zahlen bei jeweils über 60 Prozent. Im Eurobarometer vom Oktober 2017, also als die Stimmung in der Asylfrage längst gekippt war, hatten die Schweden in der ganzen EU die positivste Haltung dazu, Einwanderer als Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen zu haben.
Eritreer Demonstration in Stockholm
Schweden ist kein fremdenfeindliches Land, aber viele Schweden sehen ihr Land mit der Integration von Millionen Einwanderern überfordert. Das gilt besonders in Bezug auf die Migranten, die keine eigene Integrationsleistung vollbringen und selbst nach Jahrzehnten noch nicht die Landessprache erlernt haben, die Anhänger eines gewaltbereiten Islams sind, oder die die sozialen Clanstrukturen ihrer Ursprungsländer für kriminelle Zwecke nutzen.
Darum hat Schweden jetzt die migrationspolitische Notbremse gezogen. Ob das noch rechtzeitig war, werden die nächsten Jahre zeigen.
* Olof Brunninge ist als Sohn eines schwedischen Vaters und einer deutschen Mutter in Ostwestfalen aufgewachsen. Seit 1994 lebt er in Schweden. Er arbeitet als Associate Professor in Betriebswirtschaftslehre an einer schwedischen Hochschule.