Mehr arbeiten – aber wofür? Das unehrliche Narrativ vom faulen Deutschen

vor 26 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Die Deutschen arbeiten zu wenig. Dieser Mythos macht immer wieder die Runde, und das in unterschiedlicher Form: Die Deutschen sind zu oft und zu lange krank, zu viele Frauen arbeiten lediglich in Teilzeit – und schließlich ist es die ausufernde Feiertagskultur, der man an den Kragen müsse: Warum nicht Oster- oder Pfingstmontag streichen? Alles fürs Bruttosozialprodukt!

Zur Aufrechterhaltung dieses Mythos werden nicht nur Halbwarheiten verbreitet, bei der Tagesschau erfindet man gar gleich eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft, lässt sich im Netz der Fakenews überführen und begnügt sich bei der Richtigstellung mit einem knappen Satz – dem deutschen Arbeitnehmer soll eingehämmert werden, dass er faul sei.

Dem Thema wieder einmal Auftrieb verschafft hat Friedrich Merz. In seiner Regierungserklärung ließ er verlauten: „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance können wir den Wohlstand nicht erhalten“, behauptet er. Bloß: Warum eigentlich nicht?

Aussagen wie die von Merz sind Ausweis einer eindimensionalen Perspektive, die den deutschen Arbeitnehmer als Material begreift, oder als Produktionsmittel: Ein bisschen ölen, und die Maschine läuft wieder, ein paar Knöpfe drücken und Tempo und Produktivität ziehen an.

Sicherlich ließe sich die Arbeitskraft der Menschen im Land erhöhen. Aber eben nur durch Maßnahmen, die dem Menschen gerecht werden – und der ist eben nicht ein- oder zweidimensional. Wenn die Voraussetzungen nicht stimmen, stimmt auch das Ergebnis nicht.

Rollen wir also die Erzählungen um den arbeitsscheuen Deutschen einmal auf: Da dienen gerne die Arbeitsstunden aus anderen Ländern als Beleg: Polen arbeiten fast 300 Stunden mehr als Deutsche! Zwar wird pflichtschuldigst die Einschränkung nachgeliefert, dass die Anzahl der Stunden nichts über die Produktivität aussage. Warum wird der Vergleich dann dennoch immer wieder gezogen?

Zudem wird vergessen, dass „Produktivität“ für einen Industriearbeiter etwas anderes bedeutet als für eine Büroangestellte, und sich wiederum in der Dienstleistung oder in kreativen Berufen anders äußert.

Eine ähnlich selektive Wahrnehmung zeigt sich in Bezug auf das Teilzeit“problem“, aus dem die im Vergleich niedrigere Stundenzahl pro Kopf resultiert: Teilzeitarbeit bietet Flexibilität. Wer aus irgendeinem Grund nur eingeschränkt leistungsfähig ist, wird dadurch befähigt, in seinem Rahmen am Erwerbsleben teilzuhaben.

In der Praxis bedeutet sie aber auch Belastung: Sie ermöglicht vor allem Müttern zu arbeiten, um aufzufangen, dass ein Alleinverdiener heute kaum noch eine Familie ernähren kann; Alleinerziehenden hilft sie, den Spagat zwischen Kind und Arbeit halbwegs machbar zu gestalten. So bedeutet Teilzeit für einen Großteil derer, die sie in Anspruch nehmen, nicht weniger Arbeit, sondern mehr, nämlich neben der Kindererziehung.

„Neben“ der Kindererziehung: Die ist für Menschen wie Bärbel Bas. die Frauen in die volle Erwerbstätigkeit zwingen wollen, offenbar keine Vollzeitaufgabe. Doch anders als Rousseau-verliebte Sozialisten annehmen, werden Kinder nicht von selbst gesunde, anständige, gebildete, funktionale und produktive Glieder dieser Gesellschaft.

Die Kurzsichtigkeit der Strategie, Mütter und Väter von ihren Kindern möglichst fernzuhalten, ist offensichtlich. Man kann nicht zugleich Disziplin- und Orientierungslosigkeit der Jugend, Verrohung der Sitten oder Bildungsmangel beklagen, Phänomene, die naturgemäß auch die Produktivität beeinträchtigen, dabei aber die Familie sabotieren, die maßgeblicher Teil der Lösung ist.

Freiheit in Bezug auf die Balance zwischen Familie und Beruf besteht für die meisten Menschen in Deutschland ohnehin nur begrenzt. Es ist nicht sinnvoll, sie weiter einschränken zu wollen, weil man komplexe Faktoren wie die Bedeutung der Familie nicht in die Berechnung von Wirtschaftlichkeit einbezieht.

Empirie ist eben nur ein Teil der Realität. Nicht alle für die Rechnung bedeutenden Parameter lassen sich vollumfänglich in Zahlen abbilden. Allerdings ignoriert man teilweise sogar jene Daten, die vorliegen (oder vorliegen könnten), weil sie nicht zur geltenden ideologischen Ausrichtung passen. So bleiben Lösungsansätze wirkungslos, weil sie auf einem defizitären Bild der Wirklichkeit fußen.

Das gilt auch für das leidige Thema Krankenstand: Ist davon auszugehen, dass sich viele Arbeitnehmer zwischendurch ohne ernstliche Erkrankung krankschreiben lassen, oder länger im Krankenstand bleiben als notwendig? Sicherlich. Allerdings kennt auch jeder den Kollegen, der sich selbst von der heftigsten Grippe nicht vom Arbeiten abhalten lässt. Hier ist der Kontrast zwischen den Menschen groß: Manch einer ist schlicht nie krank und immer motiviert, ein anderer schwächelt schnell und ist ebenso schnell überfordert. Dazwischen liegen mannigfaltige Kombinationen und Abstufungen dieser Dispositionen.

Während sich Krankheitstage aber problemlos erfassen lassen, kann man eine motivierende Arbeitsatmosphäre oder das Gefühl, fair behandelt und wertgeschätzt zu werden, nicht so leicht abbilden.

Weshalb es dem Allianz-Chef Oliver Bäte leicht fällt, mit dem unverschämten Vorschlag aufzuwarten, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen: Bestrafen würde das nur die tatsächlich Kranken, während bockige Angestellte die finanziellen Einbußen abschreiben und eben noch ein paar Tage dranhängen würden, damit es sich dann wenigstens lohnt.

Dies führt postwendend zum dritten Punkt: Die Feiertagsallergie deutscher Politiker und Arbeitgeber. Auch hier wird bewusst mit Halbwahrheiten und gezielter Auswahl der dargebotenen Fakten gearbeitet, um den Eindruck zu erwecken, die Deutschen hätten ständig frei – ausgerechnet die Deutschen, die ja bekannt sind für ihre Laissez-Faire-Attitüde: Die Massen entspannter Deutscher, die im Sommer um zehn Uhr früh mit ihrem ersten Aperol Spritz auf dem Marktplatz sitzen und es sich gutgehen lassen, sind doch beinahe sprichwörtlich.

„Ostermontag, Pfingstmontag, 2. Weihnachtsfeiertag, da sind meine Kollegen aus Frankreich und Italien regelmäßig verblüfft, dass wir da freihaben“, meint etwa Bertram Brossardt, Geschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw). Brossardt vergisst dabei, wichtigen Kontext bereitzustellen, und unterschlägt, dass seine ausländischen Kollegen mehr gesetzliche Feiertage haben als zum Beispiel der hessische Arbeitnehmer – nur eben an anderen Tagen. Frankreich hat zwar nur elf gesetzliche Feiertage, der gesetzliche Urlaubsanspruch ist dafür jedoch höher, die Standard-Arbeitswoche umfasst 35 Stunden.

Bayern selbst ist Spitzenreiter in Deutschland mit 12 gesetzlichen Feiertagen, dreizehn, wenn man in Gebieten mit katholischer Bevölkerungsmehrheit, und vierzehn, wenn man in Augsburg wohnt. Damit widerlegt das wirtschaftlich erfolgreiche Bundesland, dass sich aus katholisch-bayerischer Feierlaune zwingend wirtschaftliches Abseits ergeben müsse – auch wenn der preußisch-protestantische Geist an diesem Glaubenssatz eisern festhalten möchte.

Könnte ein gesunder Rhythmus aus Arbeit, Ruhe und Muße womöglich sogar noch förderlicher sein für die Wirtschaft als eine hohe Zahl nominell abzusitzender Arbeitsstunden?

Von Politik, die Wirtschaft stärkt statt sie abzuwickeln, gar nicht zu reden. Denn einen Parameter übersehen Politik und Wirtschaftsbosse mit besonderer Entschlossenheit: Wer feststellen muss, dass er sich für dieselbe Arbeit immer weniger leisten kann; dass er für berufliche Leistung mit höheren Steuern bestraft wird, für Eigeninitiative mit bürokratischen Hürden, dem ist nicht zu verübeln, dass er sich weder von Appellen noch von Schikanen zu höherer Leistungsbereitschaft motivieren lässt.

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