
Das Wall Street Journal ist die wichtigste Wirtschaftszeitung der Welt. Konservativ, gut informiert, mit Korrespondenten in vielen Ländern vertreten und mit einer Fülle von Beiträgen, die von Unternehmens- und Aktienanalysen über Berichte aus dem Immobilienmarkt bis zu Buchkritiken reichen, hat das Blatt 4,3 Millionen zahlende Abonnenten und monatlich 82 Millionen Seitenaufrufe im Internet. Das ist ein Vielfaches der Vergleichszahlen der britischen Financial Times oder des deutschen Handelsblatts.
Früher hat sich das Wall Street Journal kaum jemals mit Deutschland beschäftigt. Ab und zu gab es ein paar fluffig-leichte Schönwetterartikel, die vom deutschen Exportwunder berichteten, den neuesten Siebener-BMW bewunderten oder etwas vom Höhenflug der Porsche-Aktie erzählten. Aus und vorbei. Seit zwei, drei Jahren haben die Deutschland-Spezialisten des Wall Street Journal eine grausame Freude daran, ein Messer nach dem anderen in die Wunden der deutschen Wirtschaft zu stecken – und es dann nochmals kräftig umzudrehen, bis es so richtig wehtut.
Das WSJ hat wie kein anderes Wirtschaftsblatt erkannt, dass es mit der deutschen Ökonomie abwärts geht und keine Rettung in Sicht ist.
So groß ist die Freude an dieser wirtschaftsanalytischen Nekrophilie beim WSJ, dass inzwischen alle paar Wochen ein gut recherchierter, zehn oder zwölf Seiten langer Artikel erscheint, in dem ein deutsches Problem nach dem nächsten regelrecht seziert wird. In dieser Reihe sind nun Audi und Ingolstadt an der Reihe. Bereits der Titel sagt alles: „Germany’s Economic Model Is Broken, and No One Has a Plan B“ („Das Wirtschaftsmodell Deutschlands ist gescheitert, und niemand hat einen Plan B“).
Das Erstaunliche an diesem Beitrag ist aber nicht die – wie immer exzellente – Analyse der Lage von Audi und Ingolstadt, sondern das Kopfschütteln der WSJ-Redakteure darüber, dass Politik, Medien und viele Bürger einfach nicht begreifen wollen, dass das deutsche Industriemodell am Ende ist – aber keiner etwas daran ändern will.
Es ist offensichtlich, dass in diesen Jahren Unternehmen, Marken, Jobs und damit Einkommen und Wohlstand den Bach heruntergehen – Unternehmen, die über Jahre und Jahrzehnte entstanden und aufgebaut wurden. In Stein gemeißelte Uralt-Namen wie Volkswagen, ZF Friedrichshafen, Continental, Thyssenkrupp, Schaeffler, Bosch, Bayer und BASF haben plötzlich Riesenprobleme, schreiben Verluste, entlassen Leute und schließen Standorte. Der industrielle Niedergang Deutschlands zerstört Traditionen, Errungenschaften, Technologien und Zukunftsperspektiven. Er macht Menschen arm und hoffnungslos. Aber keiner tut etwas dagegen. Kein Mensch, keine Partei, keine Institution, kein Verband hat eine Alternative. Niemand besitzt einen Plan B.
Linke, Grüne und SPD, zusammen mit ihren Cheerleadern in den grün-roten Medien – allesamt Feinde von Wirtschaft, Wachstum und Wohlstand –, schauen fröhlich feixend zu, während die wenigen, die begriffen haben, dass wir alle von der Wirtschaft und nur von der Wirtschaft leben, in Schockstarre verharren.
Kein Politiker steht so sehr für den industriellen Niedergang Deutschlands wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).
Die beiden Autoren des WSJ-Artikels haben die riesigen Probleme, welche die deutsche Wirtschaft hat, präzise erfasst. Sie wissen, dass die deutsche Industrieproduktion seit 2018 um 15 Prozent gefallen ist, die Deindustrialisierung längst begonnen hat, seit 2021 300 Milliarden Euro an deutschem Investitionskapital ins Ausland geflossen sind und unser reales Bruttoinlandsprodukt heute auf dem Niveau von 2019 liegt. (Zum Vergleich: EU plus 5,3 Prozent, Spanien plus 6,7 Prozent, Polen plus 13,7 Prozent, USA plus 11,4 Prozent).
Den Journalisten des WSJ ist auch klar, dass die himmelhohen Energiepreise (zehnmal so hoch wie in Texas) Autozulieferern, der Chemie- und der Stahlindustrie, aber auch der Künstlichen Intelligenz, die für ihre riesengroßen Data Center gigantische Strommengen braucht, das Blut abwürgen.
Sie haben längst kapiert (einer von ihnen lebt seit zwölf Jahren in Deutschland), dass nach Jahrzehnten der Vernachlässigung die Deutsche Bahn nie mehr pünktlich ankommt, die Bundeswehr nur noch ein Schatten der Armee des Kalten Krieges ist und die horrende Summe von 600 Milliarden Euro an Investitionen nötig wäre, um Infrastruktur und Streitkräfte auch nur halbwegs modern zu machen.
Und da sie hier leben, wissen die Journalisten selbstverständlich auch, dass die Deutschen die höchsten Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge (48 Prozent bei einem Single) auf der ganzen Welt zahlen und aus lauter „German Angst“ vor Krisen, Katastrophen und Minirenten auch noch 20 Prozent davon sparen. Weshalb kaum noch Geld für Konsum und Investitionen bleibt, während das mühsam gesparte Geld auf Spar- und Tagesgeldkonten zinslos vor sich hindämmert, anstatt in Form von Aktien produktiv als Investitionskapital zu dienen.
Die marode und unpünktliche Deutsche Bahn ist längst zum Gespött der Bürger geworden. Im europäischen Vergleich schneidet die DB nur mittelmäßig ab.
Dass es nicht so weitergehen wird und die Krise enorme – negative – Auswirkungen auf das Leben aller Menschen hat, zeigen die Autoren eindrucksvoll in einem Deep Dive in die Industriestadt Ingolstadt in Bayern.
Ingolstadt hat aktuell 142.308 Einwohner, von denen die arbeitsfähige Hälfte (ca. 40.000) bei Audi arbeitet oder in einem Cluster aus Autozulieferern rund um die Stadt beschäftigt ist. Bis vor wenigen Jahren haben die satten Gewinne von Audi die Stadtkassen von Ingolstadt mit Millionen an Gewerbesteuern sowie anderen Steuern und Abgaben gefüllt. Damit ist es jetzt vorbei. Und das bekommen die Bewohner des Großraums Ingolstadt jetzt hautnah zu spüren. Das beginnt mit den ganzen Handwerkern und Dienstleistern, die bis vor Kurzem für die gutverdienenden Audi-Mitarbeiter Küchen eingebaut, Fliesen gelegt und Hausflure geputzt haben. Es setzt sich fort mit Eltern, die ihre Kinder bislang in günstige städtische Kindergärten brachten, in günstigen Schwimmbädern schwammen und in Museen wenig Eintritt zahlten, und endet bei Geschäftsinhabern, Restaurantbetreibern und Hoteliers, die auf die zahlungskräftige Audi-Kundschaft und die vielen Dienstreisenden von auswärts angewiesen sind.
Ein Beispiel, das die Autoren anführen und das ihre solide Vor-Ort-Recherche belegt, ist ein Hotel, das wir hier „Schmidt“ nennen – ein inhabergeführter Betrieb, seit drei Generationen im Familienbesitz, das vier Kilometer vom Audi-Werk liegt und seit Jahrzehnten Gäste der Audi AG beherbergt hat. Bis vor wenigen Jahren haben die Schmidts gut verdient und sogar einen architektonisch spektakulären Neubau gewagt – aber inzwischen geht das Geschäft zurück, Einnahmen und Renditen sinken, und keiner weiß, ob es je wieder besser wird.
Nun müsste man ja annehmen, dass die Stadträte und Bürgermeister von Ingolstadt in ihrer großen Weisheit schon vor Jahren hätten erkennen müssen, dass die wirtschaftliche Monokultur der Stadt ein Risiko darstellt. Und selbst wenn sie dies nicht gleich erkannt hätten, hätten sie nur nach Detroit schauen müssen, um dort den jahrzehntelangen Niedergang (und inzwischen sanften Wiederaufstieg) einer Autostadt in Technicolor zu sehen und die fatalen Konsequenzen für ihre Bürger zu begreifen. Aber davon ist nichts zu merken. Der zum Jahresende 2023 vom Ingolstädter Bürgermeister eröffnete Technologiepark incampus, in dem sich Software- und IT-Firmen ansiedeln sollten, die die Arbeitsplätze der Zukunft schaffen, hat bislang hauptsächlich zwei Mieter: Audi und Cariad, den notleidenden Software-Arm von VW. Der Rest steht leer.
Mit Kritik kann und muss man leben. Das Niederschmetternde daran aber – und das zeigt dieser Artikel aus dem WSJ sehr deutlich –, ist die Hoffnungslosigkeit, ja der Defätismus, der sich in Deutschland in Wirtschaft und Gesellschaft breitgemacht hat.
Wirtschaft und Politik haben keinen Plan B. Alle reden immer davon, zum Status quo zurückzukehren, die alte Autoindustrie irgendwie wieder in Gang zu bringen. Ihre Parole heißt: bloß keine Stellen abbauen, niemanden entlassen, kein Werk schließen – immer weiter so mit den hohen Löhnen, den dicken Gehältern und den großzügigen Urlaubs- und Krankentagen.
Irgendwie, irgendwann, scheinen sich alle zu sagen, wird die Sonne schon wieder scheinen ...
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