
Zeigen, was ist. Dies ist, in Abwandlung von Rudolf Augsteins journalistischem Diktum „Sagen, was ist“, die Aufgabe eines Pressefotografen. Er soll Bilder eines Geschehens liefern, die einem breiten Publikum einen möglichst realitätsnahen Eindruck eines politischen Vorgangs liefern. Fotografen sind damit, ebenso wie ihre schreibenden Kollegen, Teil der sogenannten Vierten Gewalt. Sie geben den Bürgern die visuellen Mittel zur Hand, um die Handlungen der von ihnen gewählten Amtsträger zu kontrollieren.
Doch in der Pressefotografie ist in den vergangenen Jahren eine ähnliche Entwicklung zu beobachten wie in Zeitungsartikeln und Fernsehberichten: Immer öfter wird nicht das gezeigt, was ist, sondern das, was sein sollte. Die Fotografien bilden nicht mehr die Realität, sondern die Wunschträume der Fotografen ab. Machtkritik verwandelt sich in eine Huldigung der Mächtigen. Was eigentlich ein Abbild der Wirklichkeit sein sollte, erinnert zunehmend an eine zeitgenössische Neuauflage propagandistischer Darstellungen.
Ein Stilmittel fällt dabei besonders ins Auge: Immer öfter werden die Mitglieder der Bundesregierung von unten fotografiert, aus der Untersicht, auch als Froschperspektive bekannt. Tief ist der Blick in die Nasenlöcher von Bundeskanzler Olaf Scholz etwa auf diesem Bild, sein Kinn von unten vollständig einzusehen:
Das Bild wurde von einem Fotografen der Deutschen Presseagentur (dpa) aufgenommen, wie alle anderen Bilder in diesem Text (bis auf zwei, die von externen Fotografen aufgenommen wurden, aber durch die dpa vertrieben werden). Auch Außenministerin Annalena Baerbock geriet während der Olympischen Spiele in Paris einem dpa-Fotografen vor die Linse, der sich sogleich niederkniete, um die Ministerin von unten aufzunehmen:
Während der UN-Generalversammlung im September in New York entstanden Bilder von Baerbock und Scholz, die einer US-Serie wie Succession zu entstammen scheinen – ganz so, als handelte es sich bei den dpa-Fotografen nicht um Journalisten, sondern um Regisseure:
Baerbock, obwohl nur etwa 1,60 Meter groß, überragt hier dank der Untersicht ihre Mitarbeiter und sogar ihre Bodyguards. Eine ausgesprochen schmeichelhafte Perspektive also für eine Regierung, deren wichtigste Mitglieder alle nicht besonders groß sind. Davon profitiert auch Scholz in New York:
Die Untersicht ist ein Stilmittel, um eine Person mächtig, gar bedrohlich erscheinen zu lassen, und zugleich den Betrachter einzuschüchtern, der durch den Blickwinkel zum Untertanen degradiert wird. Diese Perspektive passt also in eine Zeit, in der die Regierung immer häufiger autoritäre Anwandlungen bekommt, kritische Meinungsäußerungen ihrer Bürger vor Gericht bringt und gegen den entschieden artikulierten Willen des Volkes ihre politischen Projekte durchdrückt.
Die Froschperspektive hat in der Geschichte der Propaganda eine lange Tradition. Schon die Filmemacherin Leni Riefenstahl wusste, wie sie ihren Führer optimal in Szene setzte, damit der Zuschauer dessen Übermacht spürte. Im nationalsozialistischen Propagandafilm „Triumph des Willens“, für den sie den Reichsparteitag 1934 in Nürnberg begleitete, zeigte sie Adolf Hitler bei seinen Reden stets von unten:
Quelle: Bundesarchiv
Das Volk hingegen wurde von oben aufgenommen, als gefügige, den Hitlergruß zeigende Masse:
Quelle: Bundesarchiv
Auch die chinesischen Kommunisten zeigten ihren Herrscher Mao Zedong von unten:
Der italienische Faschismus nutzt ebenfalls die Untersicht, hier bei einer Werbung für die faschistischen Kampfverbände:
Natürlich haben wir es bei den dpa-Bildern nicht mit Propaganda im klassischen Sinne zu tun. Weder sind die dpa-Fotografen verpflichtet, vorteilhafte Fotos der Regierung zu machen, noch müssen sie bei unvorteilhaften Bildern mit Sanktionen rechnen. Es handelt sich vielmehr um eine Art freiwillige Selbstzensur, wie sie im Journalismus dieser Tage oft zu beobachten ist.
Dennoch gibt es im Falle der dpa eine besondere Abhängigkeit: Die Agentur bekommt Geld vom Staat. Für mehrere Schulungsprojekte erhielt sie seit 2021 mehr als 1,3 Millionen Euro Steuergeld aus dem Etat von Claudia Roth (Grüne), der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Eine Million Euro floss zudem aus Nancy Faesers (SPD) Innenministerium für das Jugend-Projekt „Jahr der Nachricht“. Über die Finanzierung solcher dpa-Projekte entscheiden also ausgerechnet jene Politiker, über die die dpa eigentlich kritisch berichten soll – keine günstige Grundvoraussetzung für unabhängigen Journalismus.
Welche Mühen die dpa-Fotografen auf sich nehmen, um die Ampel-Politiker auf möglichst ikonische Weise zu porträtieren, zeigte sich im August bei einem Bürgerdialog mit Robert Habeck. Die Aufnahmen, die an diesem Tag entstanden, zeigen Habeck in Heldenpose, aufgenommen von unten, sodass sein grüßender Arm optisch gestreckt wird:
Geradezu in die Länge gezogen erscheint Habeck auf diesem Bild, auf dem ihn der Himmel und die Streben des Dachs wie ein Strahlenkranz umgeben:
Wie solche Bilder entstehen, belegt die Aufnahme eines Teilnehmers des Bürgerdialogs. Habecks Veranstaltung fand auf einer niedrigen Bühne statt, die ihn nur leicht über das Publikum erhob. Womöglich versuchte der Vizekanzler auf diese Weise, Augenhöhe mit dem Publikum herzustellen. Der dpa-Fotograf nahm aber nicht auf einem der Stühle Platz oder fotografierte den Vizekanzler aus der Entfernung, sondern platzierte sich auf dem Rasen direkt vor der Bühne, um Habeck aus einer möglichst ehrfürchtigen Position abbilden zu können. Er wechselte seine Position auch nicht, sondern verharrte während der Veranstaltung zu Habecks Füßen:
Der dpa-Fotograf sitzt vor der Bühne und fotografiert Habeck von unten.
Die Untersicht verändert die Dramaturgie eines Bildes. So wirken die Objekte im Hintergrund in dieser Perspektive kleiner als das Haupt-Objekt des Bildes, zu sehen etwa auf diesem russischen Plakat aus Sowjet-Zeiten. Im Arbeiter- und Bauernstaat zählt vor allem der tüchtige Arbeiter, darum überstrahlt er die Industrie-Anlage:
Auch Annalena Baerbock wurde bei ihrer Sommerreise von einem DPA-Fotografen auf einer Barkasse im Hamburger Hafen aufgenommen. Durch die Untersicht erscheint sie halb so groß wie das gigantische Containerschiff, das mit Handelsgütern voll beladen ist. Entgegen der von den Grünen mitverantworteten, desaströsen wirtschaftlichen Lage suggeriert die Perspektive des Bildes: Diese Frau hat die Wirtschaft im Griff.
Die Untersicht erhebt die abgebildete Person zudem buchstäblich aus dem Mittelmaß. Denn statt Passanten oder Autos, die die Person tatsächlich umgeben, bildet durch die Verschiebung der Ebenen nun der Himmel den Hintergrund:
Dieses Bild entstand während eines Pressestatements von Scholz nach seiner Rede beim UN-Zukunftsgipfel. Die politische Situation für ihn war zu diesem Zeitpunkt keineswegs rosig: Zwar hatte die SPD in Brandenburg soeben knapp die Landtagswahl gewonnen, doch dies nur, weil Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Woidke im Wahlkampf auf Unterstützung von Scholz verzichtet und sich so von der Arbeit der Ampel abgegrenzt hatte. Zugleich saß die FDP der Koalition in Berlin im Nacken und drohte mit dem Bruch des Bündnisses. Die heldenhafte Pose spiegelte also keineswegs die tatsächliche Lage von Scholz wider.
Dafür lieferten die dpa-Fotografen aber genau die Art von Bild, die zur Illustration jener Botschaft taugte, die Scholz aussenden wollte. So titelte die Süddeutsche Zeitung zu dem Foto: „Scholz zufrieden mit Wahlergebnis in Brandenburg.“
Screenshot Süddeutsche Zeitung.
Text und Bild verschränken sich hier zu einer Manipulation, die nicht auf Fälschung beruht, aber die Realität so in Szene setzt, dass sie die Botschaft des Kanzlers untermalt.
Für eine der Aufnahmen positioniert der Fotograf seine Kamera sogar auf der Erde, nimmt den Kanzler zwischen Grashalmen hindurch ins Visier. Die Figur Scholz, nun in einer Größenordnung mit New Yorks Wolkenkratzern, verbindet auf diese Weise symbolisch Himmel und Erde: bodenständig wie eine Graswurzel, göttlich entrückt wie ein Herrscher des Himmelreichs.
Annalena Baerbock kam im Wildnisgebiet Jüterbog in den Genuss einer ähnlichen Aufnahme, die den Besuch bei einem Forschungsprojekt in Brandenburg in eine Safari verwandelte. Die Gräser am Boden erscheinen dank der Froschperspektive wie meterhohes Gestrüpp, durch das sich die Ministerin kämpft. Glücklicherweise konnte Baerbock mit ihrer lässigen Sonnenbrille genau jenen Look bieten, den der dpa-Fotograf für das Wildnis-Shooting offenbar vorgesehen hatte.
Bis ins letzte Detail sind die Bilder der dpa mitunter komponiert – und schmeicheln dadurch ihren Protagonisten. In New York entstand auch die folgende Aufnahme, wieder von unten. Die Linien der Fassaden laufen auf Scholz zu, sein Körper ist Fluchtpunkt und Kraftzentrum des Bildes. So sehr verschmilzt er mit seiner Umgebung, dass das Revers seines Jacketts die Linien der Häuser fortzusetzen scheint. Über seinem Kopf erstrahlt das Licht, als hätte er einen direkten Draht in den Himmel. Hier, so soll der Betrachter spüren, spricht ein Mann von Welt.
Auch als Schattenriss eignet sich die Untersicht. Falls Baerbock eine Schauspielkarriere in Betracht zieht, könnte sie sich mit diesem Bild für eine Neuverfilmung von Mary Poppins bewerben:
Toll in Szene gesetzt: Annalena Baerbock in den USA. Der nachrichtliche Wert des Fotos ist jedoch gering.
Der Schattenriss ist neben der Untersicht ein weiteres beliebtes Stilmittel, um den strauchelnden Regierungsvertretern einen dramatischen, staatstragenden Anstrich zu verleihen. So kam Scholz kam bei seinem Treffen mit Macron in den Genuss einer solchen Aufnahme:
Auch Habeck erscheint, trotz lahmender Wirtschaft, im Schattenriss nahezu wie ein Prophet, wie hier bei der IAA zu sehen:
Fotograf zu sein, bedeutet keineswegs, nur im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken. Ein Pressefotograf ist ein Journalist, ganz genau wie ein Zeitungsautor oder ein Fernsehmoderator. Umso bemerkenswerter ist es, dass Nachrichtenbilder immer öfter Ikonografien gleichen. Zum Journalismus gehört es, die Mächtigen zu zeigen, wie sie sind. Bei der dpa aber zeigt man sie lieber von unten.
Lesen Sie auch: Große Debatte nach NIUS-Bericht: Warum lässt sich die DPA mit Millionen von der Regierung bezahlen?