Der Demokratiesimulant und der Verfassungsrechtler

vor etwa 4 Stunden

Blog Image
Bildquelle: Tichys Einblick

Was der Welt-Journalist Robin Alexander in seinem neuen Buch „Letzte Chance. Der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie“ enthüllt, ist grundstürzend: Es definiert die Dimensionen der politischen Lüge und der Wählerverachtung in der Bundesrepublik Deutschland neu.

Mit seiner Volte, das gigantische Schuldenpaket in Höhe von einer Billion Euro mit dem abgewählten Bundestag zu beschließen, hatte Friedrich Merz der Demokratie, wenngleich nicht dem Rechtsstaat, schweren Schaden zugefügt. Nun kommt heraus: Merz hat nicht – schön wär’s, möchte man nun fast sagen – nur Wortbruch begangen, sondern das ganze Land mit voller Wucht angelogen. Und hat damit die Demokratie einmal mehr schwer geschädigt.

Noch vor der Bundestagswahl hatte Merz bei dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio ein Gutachten beauftragt. Nach Informationen von Nius war dies vergütet. Robin Alexander zufolge führte Di Fabio in dem Gutachten aus, dass eine Grundgesetzänderung mit den Stimmen des bereits abgewählten Bundestages möglich sei, und zwar bis 30 Tage nach der Wahl. (Alexander 2025, S. 12) Selbst die CDU-Führungsgremien ließ Merz, so Alexander, in Unkenntnis über das Gutachten. (ebd., S. 16) Damit war für Merz der Weg frei, dass die neue Koalition in der grundgesetzlich festgelegten Übergangsfrist den abgewählten, aber noch handlungsfähigen Bundestag nutzen können würde, um das Schuldenpaket für Bundeswehr und Infrastruktur zu beschließen, sollte sie in dem neu gewählten Bundestag über keine 2/3-Mehrheit für die Änderung des Grundgesetzes verfügen. Linkspartei und Grüne wurden schließlich dafür an Bord geholt, um die AfD als zweitstärkste Kraft umgehen zu können. Nach der Wahl schwindelte Merz dem Volk dann etwas von der veränderten Weltlage vor, was die Schuldenaufnahme leider unumgänglich machte. Dass Söder, Klingbeil und Esken, die in der „Whatever it takes“-Presskonferenz am 3. März neben Merz standen, nichts von der systematisch vorbereiteten Lüge wussten, ist schwer vorstellbar.

Merz’ Movens: Die Wiederwahl von Donald Trump, dessen möglicher Rückzug aus der Nato und dessen Haltung zur Ukraine-Frage, die mehr auf Diplomatie mit Putin denn auf die Fortführung des Krieges setzt. Nach der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar, so stellt es Alexander dar, kam Merz bereits auf Di Fabio zu (Alexander 2025, S. 12) Europa müsse, so die Vorstellungen von Merz, auch militärisch auf eigenen Beinen stehen können, von den USA unabhängig werden. Am Tag nach der Wahl reagiert Merz auf Nachfragen von Journalisten nach der Sperrminorität ausweichend. „Das ist eine schwierige Lage“, sagte er (ebd., S. 16). Sein Erwägungsgestus, das wissen wir heute, war gespielt.

Bereits der, so schien es damals, Wortbruch war ein Skandal sondergleichen gewesen, hatte Merz doch immer wieder versichert, wie wichtig ihm die Schuldenbremse sei. Im Zuge der nonchalanten Preisgabe eines CDU-Markenkerns, eingeführt von CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble, wurde gleich auch noch den Kern des Parteiprogramms der Grünen – die Klimaneutralität bis 2045 – ins Grundgesetz hineingeschrieben. Und nun ein solch monströser Vertrauensbruch, der in seinen Konsequenzen noch unsere Kinder und Enkel zu Schuldknechten macht? Sonntagsschriften zum schwindenden Vertrauen in die Demokratie können wir, solange Merz regiert, getrost schreddern: Der Vertrauensmissbrauch ist das Fundament seiner Kanzlerschaft. Merz regiert auf der Basis eines Wortbruchs, den er mit einer Lüge ins Werk setzte. Der Kanzler hat von allen Ämtern im Staat die meiste Macht über Polizei, Militär, Behörden, Geheimdienste. Nie war Macht in der Bundesrepublik unverdienter.

Wo mit Merz die Lüge regiert, ist es bei dem ehemaligen Verfassungsrichter und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Lücke. Gewiss, als Jurist ein Gutachten für einen Politiker zu verfassen und dafür Geld zu erhalten, ist nicht ehrenrührig, ja, ein normales Geschäft für einen hoch verdienten Rechtswissenschaftler, der sich bisweilen mit Stellungnahmen, die einen offeneren Diskurs anmahnen, hervortut. Aber von dem Fernsehsender Phoenix am 5. März interviewt zu werden und den Souverän im Unklaren darüber zu lassen, dass sich Merz bereits vor der Wahl über die Rechtslage informierte, um seinen Wortbruch vorzubereiten, verrät einiges: Im Zweifel liegt seine Loyalität, dies hat Di Fabio demonstriert, bei der Macht der professionellen Politik, nicht bei der Macht des Volkes, von dem jene sich erst ableitet. Nach Informationen von Nius informierte Di Fabio die Phoenix-Redaktion über seine Befangenheit – und ließ sich befragen. Dass das Team des penetrant guten öffentlich-rechtlichen Fernsehens die Befangenheit nicht offenlegte? Warum auch sollte man diejenigen, die einem qua Zwangsbeitrag die teilweise luxuriösen Gehälter zahlen müssen, darüber informieren, dass der Kanzler sich ein Gutachten von einem ehemaligen Bundesverfassungsrichter eingeholt hat, um einen systematischen Wählerbetrug vorzubereiten? Für den berufsethisch tief korrumpierten, zu einer reinen Systemstütze mutierten ÖRR hat das offenbar keinen Neuigkeitswert.

Wie himmelschreiend empörend der Merz’sche Lügenkomplex ist, ist der Alltagsmoral des gesunden Menschenverstandes, wie sie in jeder gesunden Familie vermittelt wird, unmittelbar zugänglich. Stellen Sie sich einfach vor, Merz würde Ihrer siebenjährigen Tochter bei einem Besuch im Kindergarten in schonungsloser Offenheit berichten, wie er Kanzler geworden ist: ‚…genau, und dann habe ich allen 59 Millionen Wählern erst über Jahre hinweg erzählt, dass es ganz wichtig ist, dass unser Land nicht mehr Geld ausgibt als all die fleißigen Leute erarbeiten…und durch diesen ganz schlauen Mann von diesem Gericht wusste ich, dass ich das machen kann…nein, der Richter hat das im Fernsehen nicht erzählt, dass ich bei ihm das Gutachten beauftragt habe…nein, auch die Frau im Fernsehen hat das nicht gesagt…und dann habe ich die Hand erhoben und gesagt, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren und Schaden von ihm abwenden werde, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und gegenüber jedem gerecht sein werde…und schau‘, so bin ich jetzt endlich der Kanzler…85 Millionen Menschen verlassen sich auf mich…‘ Sie liefen nach diesem Besuch des Kanzlers mit einem schockierten kleinen Nervenbündel nach Hause, das nachts von Alpträumen geplagt wird und tagsüber asoziales Verhalten zeigt. Merz’ Partei trägt das „C“ im Namen. Seinen Eid legte er mit den Worten ab: „So wahr mir Gott helfe.“ Schauen Sie sich diese Minute blanken Hohns ruhig noch einmal an. Jesus würde Merz aus dem Tempel werfen.

Die Dimension der Merz‘schen Lügenparade rückt allerdings noch schärfer in den Blick, wenn man sie damit kontrastiert, wie eine Demokratie, deren „Schutz“ ja dauernd beschworen wird, eigentlich angelegt ist. Merz‘ Komplex aus Lüge und Wortbruch bedeutet nicht weniger als die maximale Abkehr von dem Prinzip der Demokratie, der Volksherrschaft. Denn dem Demokratieprinzip zufolge müssen sich alle Entscheidungen aus dem Willen des Souveräns ableiten lassen. Ein freier und offener Diskurs über Fragen des Zusammenlebens ist die Voraussetzung dafür, dass politische Entscheidungen als legitim gelten können. Was vorher dem Wähler in dieser Größenordnung nicht durchsichtig gemacht wurde, verkündete Merz nach der Wahl mit einem umso größeren Paukenschlag: Deutschland solle „die stärkste Armee Europas“ bekommen. Das Geld sollte aus dem Schuldenpaket stammen, zu dem der Souverän ebenfalls keine Stellung beziehen können durfte.

Dem 96 Jahre alten Jürgen Habermas hat man bisweilen den Staatsphilosophen der Bundesrepublik genannt. Seine Philosophie ist in der Causa Merz höchst einschlägig. Habermas zufolge können „nur die Normen Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“ (Habermas 1983, S. 103) Das betrifft nicht nur universell gültige moralische Normen, sondern auch rechtliche Regeln, die sich darauf beziehen, wie ein bestimmtes Gemeinwesen seine Belange regeln möchte. „Die Idee der Selbstgesetzgebung fordert (…), daß sich diejenigen, die als Adressaten dem Recht unterworfen sind, zugleich als Autoren des Rechts verstehen können“, so Habermas. (Habermas 1998, S. 153). Genau das bedeutet Demokratie: Diejenigen, die Regeln folgen müssen, machen diese Regeln auch. Und da kein Alleinherrscher und keine Oligarchenclique diese Regeln einfach dekretieren kann, müssen die Menschen darüber reden können, welche Regeln sie wollen.

Die politische Lüge zerreißt diesen für die Demokratie konstitutiven Zusammenhang zwischen den Autoren und den Adressaten der Gesetze. Sie führt mit zwingender Notwendigkeit faktisch in oligarchische Verhältnisse und lässt die Demokratie selbst bei vollständiger rechtlicher Unversehrtheit zur Simulation werden. Denn werde ich belogen, so kann ich prinzipiell nicht zu dem Stellung nehmen, was möglicherweise schon morgen politische Realität werden könnte. Merz trat als Kandidat weder mit dem Vorschlag an, die „stärkste Armee Europas“ aufzubauen noch damit, diese Armee und allerlei anderes aus einem gigantischen Schuldenpaket zu finanzieren. Das Volk hat Merz also für etwas gewählt, was nicht zur Wahl stand. Das ist das exakte Gegenteil von Demokratie.

Und noch etwas folgt aus Merz‘ monströser Lüge. Denn das Recht in liberalen Demokratien hat Jürgen Habermas zufolge stets einen Doppelcharakter: Es ist zum einen unweigerlich mit Zwangsgewalt ausgestattet. An das Recht muss man sich halten, und wer es nicht tut, für den hält der Staat Gerichte, Polizei, Ordnungsämter, Geldstrafen und Gefängnisse bereitet. Mit demokratisch gesatztem Recht ist jedoch stets zugleich der Anspruch verbunden, dass es auch aus Einsicht befolgt werden kann. Denn es leitet sich ja schließlich aus der Souveränität des Volkes selbst her. Wenn die im Diskurs mobilisierten Gründe möglichst inklusiv, in möglichst freien und offenen Verfahren in ein Gesetzesvorhaben einfließen, so ist das Resultat eben auch Ausdruck meines Willens. Und somit kann ich nicht mehr behaupten, dass ich ausschließlich durch das Recht gezwungen würde.

Auch diese Verbindung der Gesetze zu der Möglichkeit, sie aus Einsicht zu befolgen, kappt die politische Lüge. Wenn Merz sein politisches Vorhaben nicht transparent vor der Wahl zur Debatte stellt, so kann der Souverän die resultierenden Gesetze – die Re-Militarisierung Deutschlands, das Schuldenpaket – nur noch als Zwangsmaßnahme verstehen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Opposition den Charakter der Fundamentalopposition annimmt – auf dem üblichen Weg, über Rede und Gegenrede, ist ja eine Auseinandersetzung über Merz‘ Pläne nicht möglich gewesen. Lüge und Volksverachtung im Stile von Friedrich Merz befördern also ausgerechnet jene Polarisierung, die sein Innenminister Dobrindt beklagt, wenn dieser, wie am 25. Juni erneut geschehen, mit einem „Aktionstag“ des Bundeskriminalamts gegen „Hass im Netz“ koordinierte Razzien für mutmaßliche Online-Kriminalität durchführt und so auch Bürger einschüchtern und abschrecken möchte.

Kaum etwas könnte fundamentaler das kommunikative Fundament der liberal-demokratischen Ordnung unterspülen, wie die Merz’sche Wahrheitsverachtung, die in den betreffenden Fragen die Distanz zum Volk auf 100 Prozent schraubt. Und dies ausgerechnet in der Frage, ob Deutschland in großem Stil militarisiert werden sollte. Ob es Schulden in Höhe von einer Billion Euro (!) aufnehmen sollte. Auch ein Diskurs darüber, wofür wir eigentlich unter Einsatz all dieses Geldes kämpfen sollten, war so vor der Wahl, diesem alle vier Jahre stattfindenden Festakt einer ohnehin den Souverän unterfordernden Demokratie, nicht möglich. So fördert das Handeln von Merz und seiner möglichen Mitwisser eine gefährliche Eskalationsdynamik mit einem Teil seiner Bürger. Wenn ein Kanzler in spe bewusst, geplant und mit hoher Systematik das Volk belügt und es damit vor der Wahl eines meinungsbildenden Diskurses zu essentiellen Fragen des Gemeinwesens beraubt, kann er sich zwar nach erfolgter Wahl rechtlich gesehen Bundeskanzler nennen. Das würde ihm gewiss auch Ex-Verfassungsrichter Di Fabio bescheinigen. Gemessen an dem Sinn von Volksherrschaft jedoch agiert er wie ein Demokratiesimulant.

Publisher Logo

Dieser Artikel ist von Tichys Einblick

Klicke den folgenden Button, um den Artikel auf der Website von Tichys Einblick zu lesen.

Weitere Artikel