
In ihrer neuen Ausgabe gibt sich die ZEIT alle Mühe, ihren Lesern den früheren Linkspartei-Fraktionschef Gregor Gysi in einem Interview als Privatmensch nahezubringen – und zwar erwartungsgemäß als sympathische Person. „Der Linkenpolitiker Gregor Gysi über sein Aufwachsen in der DDR, wie er es schaffte, den Wehrdienst zu verweigern – und wie er heute auf die Erziehung seines Sohnes blickt“, lautet die Gesprächszusammenfassung des Wochenblatts.
Damit wirft die ZEIT nicht nur ein mildes Licht auf Gysi, sondern auch auf die DDR insgesamt. Denn erstens trägt „wie er es schaffte, den Wehrdienst zu verweigern“ zu dem Bild bei, das Gysi gern von sich zeichnet, nämlich als trickreicher Vierteldissident, der sich geschickt zwischen den Lücken des SED-Systems hindurchschlängelte. Zweitens erfährt der westdeutsche Leser: In der DDR konnte man den Wehrdienst verweigern, genauso wie in der Bundesrepublik. So hart, so der Subtext der ZEIT-Formulierung, konnte die Diktatur im östlichen Teilstaat also nicht gewesen sein. Die Geschichte passt also gleich doppelt, einerseits zum medial geförderten Aufstieg der Linkspartei, andererseits zur systematischen Weichzeichnung der DDR, die in Zeiten eines Berliner Enteignungsgesetzes und des Meldestellenwesens für manchen Medienschaffende fast wieder Vorbildcharakter besitzt. Nur: an dieser ZEIT-Interviewinszenierung stimmt nichts. In der DDR existierte keine legale Möglichkeit zur Verweigerung des Armeedienstes. Gysi verweigerte ihn demzufolge auch nicht. In seiner Biografie gibt es auch sonst keinerlei kleine Fluchten oder sogar eine Rebellion, im Gegenteil: als Funktionär diente er bis zum Ende der DDR dem SED-System, und zwar mit überdurchschnittlichem Eifer. Selbst die Wendung der ZEIT „sein Aufwachsen in der DDR“ führt den Leser in die Irre: Das erste Lebensjahr verbrachte der 1948 geborene Gregor Gysi wie seinen Eltern im Westteil Berlins, und auch nach ihrem Umzug in den Osten der Stadt lebte die Familie – Mutter Irene Abteilungsleiterin im Kulturministerium, Vater Klaus Gysi, ab 1966 Kulturminister – im idyllischen Berlin-Johannistal in einer Villa mit Hauspersonal. Man empfing Besucher aus Westdeutschland, England, Frankreich und den USA, Zugang zu westlichen Büchern stellte kein Problem dar. Die Atmosphäre zuhause beschrieb Gysi später selbst als „großbürgerlich“.
Auch einen solchen Spatendienst absolvierte Gysi allerdings nicht. Das wäre für den Ministersohn und überzeugten Sozialisten auch seltsam gewesen, der schon in seinem Jura-Studium ab 1966 den Posten des FDJ-Sekretär seines Jahrgangs übernahm, mit 19 Jahren in die SED eintrat, am Ende des Studiums schon in der Parteileitung der Humboldt-Universität saß und anschließend zügig Karriere machte: mit 24 damals jüngster Anwalt der DDR, SED-Parteisekretär des Berliner Kollegiums der Rechtsanwälte, zum Schluss Vorsitzender des gesamten Kollegiums, also oberster Rechtsanwalt im Staat. Gregor Gysi kam nach eigener Erklärung um jeden Dienst in Uniform, weil ihn die Universität zum Zeitpunkt seiner Einberufung schon immatrikuliert hatte. Für männliche und wehrdiensttaugliche Normalbürger galt, dass sie sich in aller Regel erst nach abgeleistetem Dienst zum Studium einschreiben durften. Nur in einigen sehr raren Fällen erlaubte es die NVA in den sechziger Jahren jungen Männern, erst zu studieren, holte die Betreffenden später aber zum Reservistendienst. Auch das blieb Gysi Jr, erspart, der eben anders als andere die Protektion seinen einflussreichen Funktionärsvaters genoss. Klaus Gysi amtierte ab 1966 nicht nur als Kulturminister und damit oberster Zensor der DDR, er saß auch in der Kulturkommission des Politbüros der SED. Im Jahr 1959 ließ er sich von seiner Frau Irene scheiden, der Kontakt zu seinem Sohn blieb aber bis zuletzt sehr eng. Kurzum: Gregor Gysi nutzte schlicht und einfach sein Privileg als Funktionärssohn, um sich vor dem Wehrdienst zu drücken. In der DDR gab es zu jeder Regel auch Ausnahmen – jedenfalls für bestimmte Bürger. Dass die ZEIT daraus eine „Wehrdienstverweigerung“ macht, erfüllt den Tatbestand der dreisten Geschichtsfälschung.
Nicht nur hier arbeitet die ZEIT die Zeit an dem gefällig-gefühligen und vor allem faktenbefreiten Porträt des früheren SED-Spitzenjuristen und heutigen Linkspartei-Paten. Gleich in der Eingangsfrage geht es erkennbar darum, das Bild eines normalen, bodenständigen DDR-Bewohners statt eines salonsozialistischen Kaders aus dem inneren Zirkel zu zeichnen: „Herr Gysi, Sie sind nicht nur Anwalt und Politiker, sondern ausgebildeter Facharbeiter für Rinderzucht. Was kann von Ihnen über Kühe lernen?“ Tatsächlich absolvierte der ZEIT-Gesprächspartner eine Berufsausbildung mit Abitur in der Fachrichtung Rinderzucht. Diesen Bildungsweg durchliefen viele in der DDR; auch für Funktionärskinder stellte er keine Seltenheit dar, denn er erlaubte es gerade denen mit bürgerlicher Herkunft, das passenden Arbeiterklassen-Pedigree zu erwerben. In der DDR hieß die Berufsausbildung mit Abitur auch „Schnellbesohlung“, da die Vermittlung Abiturstoff und die normalerweise zweijährige Berufsausbildung in nur drei Jahren stattfanden, was oft zu Lasten des fachlichen Teils ging. Jedenfalls arbeitete Gysi nie als Rinderzüchter, seine Erfahrung mit Kühen dürften begrenzt sein. Er antwortet entsprechend unkonkret mit launigem Einschlag, Kühe würden „vorn fressen und hinten treten“. Später möchte das Interviewer-Duo wissen, ob ihr Gast denn in der DDR Privilegien genossen habe.
Das heißt, eigentlich wollen sie es überhaupt nicht wissen, denn Gysi kommt mit der Antwort durch: keine, „nur Besucher und Bücher“ – womit er die oben erwähnten Westbesuche und -Bücher meint. Dann folgt der bemerkenswerte Satz, die DDR habe ihn „jahrzehntelang“ nicht in den Westen reisen lassen. Das traf für den allergrößten Teil der DDR-Normalinsassen zu, solange die SED darin herrschte. Aber nicht auf Gregor Gysi. Er durfte im Januar 1988 privat nach Paris. Kurz danach, im Mai des gleichen Jahres, ging es in spezieller Mission nach Westberlin, um den aus dem Oststaat geflohenen Wissenschaftler Gerhard Fiedler zur Rückkehr zu überreden (allerdings erfolglos). Die versuchte Heimholung Fiedlers fand, wie die Akten später zeigten, unter direkter Aufsicht von Generaloberst Rudi Mittig statt, einer der Stellvertreter von Stasi-Chef Erich Mielke. Außerdem fuhr Gysi zum deutschen Anwaltstag nach München, nach London und Istanbul, jeweils mit dem offiziellen Auftrag, dort die Vorzüge der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit anzupreisen. Besonders apart nimmt sich sein Einsatz in Istanbul 1989 aus, wo er unter anderem verfolgten türkischen Anwälten seine Solidarität bezeugte. Fast zur gleichen Zeit, im April 1989, setzte Gysi als Chef des Anwaltskollegiums den Ausschluss seines Kollegen Rolf Henrich und damit dessen Berufsverbot durch. In seinem nur im Westen erschienenen Buch „Der vormundschaftliche Staat. Vom Scheitern des real existierenden Sozialismus“ rechnete Henrich schon Monate vor dem Mauerfall mit der SED ab, die ihn dafür – mit Gysis tatkräftiger Hilfe – zur Unperson machte. Mehrere bei der entscheidenden Sitzung zu Henrichs Ausschluss anwesende sagten später, Gysi habe dort erklärt, wer die Staatssicherheit wie Henrich als Geheimpolizei bezeichne brauche sich über die Konsequenzen nicht zu wundern. Auf Anfrage des SPIEGEL antwortete Gysi 1994, er könnte sich nicht daran erinnern.
Das ZEIT-Gespräch macht ganz nebenbei auch deutlich, dass es aus journalistischer Sicht keinerlei Sinn ergibt, die SED-SED/PDS-Linkspartei-Führungsfigur zu befragen: seine Phrasen stehen seit Jahren fast; seine Legenden in eigener Sache gleichen von Medienaufritt zu Medienauftritt wie ein faules Ei dem anderen. „Mein Privileg war Bildung und tausende Bücher“, hieß es etwa in einem genauso unkritisch-tumb geführten Interview im Deutschlandfunk von 2018. Dort konnte er auch unbelästigt von ernsthaften Nachfragen märchenonkeln: „Eingesperrt war ich genauso wie die anderen Bürgerinnen und Bürger der DDR.“
Die Zeitdokumente erzählen eine völlig andere Geschichte. Als Beispiel für seine Verteidigung von Oppositionellen erwähnt Gysi gern, dass er als Anwalt des Dissidenten Rudolf Bahro fungierte, den die SED 1977 verhaften und 1978 vor Gericht stellen ließ. Dessen Vergehen bestand darin, in seinem im Westen und vorher auszugsweise im SPIEGEL veröffentlichten Buch „Die Alternative“ eine zwar sozialistische, aber nicht mehr von einem Politbüro beherrschte Zukunft gezeichnet zu haben. Selbst nach den DDR-Gesetzen tat er damit nichts Illegales. Die Staatsanwaltschaft erfand deshalb den bizarren Vorwurf der „landesverräterischen Nachrichtenübermittlung“ und des „Geheimnisverrats“. Da die Staatsmacht den nichtöffentlichen Prozess gegen Bahro komplett auf Tonband aufnehmen ließ, existiert davon sowohl eine Audiodatei als Abschrift im Stasiunterlagen-Archiv. Wegen der Existenz der Tonaufnahme kann Gysi hier auch schlecht sein Paradeargument anbringen, in den ihn betreffenden Akten stünden nur von anderen zusammengeflunkerte Dinge.
„Selbstverständlich“, hört so Gysi damals auf Band Magnetband sagen, erkenne er als Bahros Verteidiger „vollständig an, dass sich die Handlungen des Angeklagten gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR richten“. Über das Gericht, das in Wirklichkeit bis ins Kleinste den Vorabfestlegungen von SED und Staatssicherheit folgte, schalmeite der Advokat: „Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen, festzustellen, dass das Gericht unvoreingenommen, allseitig und gründlich die Beweisaufnahme vorgenommen hat, bei der stets der Angeklagte seine Rechte wahrnehmen konnte.“ Ganz zu Beginn stellte er ausweislich der Aufnahme fest: „Während im Kapitalismus oft Menschen als Kriminelle behandelt werden, die aus sozialer Not und Ungerechtigkeit handeln oder einen konsequenten Kampf für Demokratie, sozialen Fortschritt, Frieden und Menschenrecht führen, stehen im Sozialismus jene vor Gericht, die entgegen gebotener Möglichkeiten die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft, insbesondere der Arbeiterklasse, verletzen, und teilweise sogar Handlungen gegen den Frieden, den sozialen Fortschritt, die Demokratie und die Menschenrechte begehen.“ Verfolgte Menschenrechtler im Westen, kriminelle Friedens- und Demokratiefeinde vor Gericht im Osten – Gysi wusste selbst, welchen zynischen Unfug er daherredete, und dazu noch in dem Prozess, in dem es außer beorderten Genossen und einem Stasioffizier gar kein Publikum gab. Stellenweise liest sich sein Plädoyer wie eine Anklage gegen Bahro.
Er forderte für ihn auch nicht, wie er nach 1990 behauptete, Freispruch, sondern lediglich, der Autor und Philosoph möge nicht wegen „nachrichtendienstlichen Übermittlung“, sondern nur wegen Geheimnisverrats verurteilt werden – der als Vorwurf genauso erfunden war. In der Realität kam es auf Gysis Verteidigung gar nicht an. Aus den später erschlossenen Akten geht hervor, dass nicht nur das Drehbuch zum Prozess schon vorher feststand, sondern auch das Strafmaß: 8 Jahre Gefängnis. Wenigstens, erklärte der Anwalt später, habe er beim Zentralkomitee die vorzeitige Entlassung Bahros in den Westen erwirkt. Die entsprach allerdings auch dem Wunsch der SED-Führung. Gegen die Verurteilung Bahros gab es heftigen Protest auch von linken Intellektuellen wie Heinrich Böll und Mikis Theodorakis, eine Reaktion, die Honeckers Wunsch nach Anerkennung im Westen zuwiderlief.
Mehrere ehemalige Klienten Gysis bezeichneten nach 1990 als Zuträger des MfS, der immer auch den Geheimdienst über alles in Kenntnis setzte, was seine Mandanten betraf. Die Oppositionelle Verra Lengsfeld (damals Vera Wollenberger) begegnete Gysi 1988 sogar, ohne ihn je mandatiert zu haben. Sie kam in Haft, nachdem sie im Januar mit einigen anderen Demonstranten während der offiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17. Januar ein Plakat mit dem Luxemburg-Zitat „Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ trug – bis es Stasi-Leute herunterrissen. Die SED-Führung wollte die Frau in den Westen abschieben, Lengsfeld aber nur einwilligen, wenn sie das Sorgerecht für ihr Kind behalten konnte. Aus der Untersuchungshaft in Hohenschönhausen brachten MfS-Mitarbeiter Lengsfeld im Februar 1988 in ein Stasiobjekt bei Berlin, wo sie plötzlich dem Anwalt gegenüberstand, der ohne Begleitung kam, um mit ihr die Modalitäten ihrer Abschiebung zu besprechen. Und der nach ihrer Erinnerung erst einmal kurz verschwand, um ihnen Kaffee zu besorgen. „Gysi kochte dort in der Kaffeeküche erst mal Kaffee, als hätte er dort Hausrecht“, erinnert sich Lengsfeld.
Die MfS-Kader rechneten nicht damit, dass irgendwann die Bespitzelten und recherchierende Journalisten ihre Unterlagen studieren würden. Schuladen fahren außerdem nicht Auto, sie nehmen auch keine Aufträge entgegen und treffen sich nicht mit ihrem Führungsoffizier in einer konspirativen Wohnung (in diesem Fall „Notar“ in der Schillingstraße 30, einem Objekt der Stasi-Abteilung XX/9, die die „Notar“-Akte führte und Gysi ein paar Monate vor dem Mauerfall auch eine so genannte Daueravisierung für den Grenzübertritt in den Westen ausstellte. Die Bürgerrechtlerin und ehemalige Gysi-Mandantin Bärbel Bohley nannte den Anwalt und PDS-Spitzenmann öffentlich einen „Spitzel“. Der ging juristisch gegen sie und zahlreiche Medien vor, die ihn als IM bezeichneten. Dabei hatte er gleich zweifach Glück. Zum einen holte er sich seine Urteile in den Unterlassungsverfahren beim Landgericht Hamburg ab, wo der Vorsitzende Richter der zuständigen Zivilkammer 24 Andreas Buske die Auffassung vertrat, bei Stasi-Unterlagen handle es sich um „Privaturkunden“, die weiter nichts besagten. Ihm genügte die Aussage ehemaliger Stasi-Offiziere, sie hätten sich den Akteninhalt nur ausgedacht, oder ihr Inoffizieller Mitarbeiter hätte nicht geahnt, dass er mit dem MfS sprach. Das genügte dem Richter für die Feststellung: dann wird es wohl so gewesen sein. Nicht nur Gysi, sondern nahezu jeder, der eine Berichterstattung über seine inoffizielle Stasi-Tätigkeit unterdrücken wollte, ging in den neunziger Jahren und danach aus genau diesem Grund nach Hamburg. Faktisch bestimmten damit ein nordwestdeutscher Richter und Stasioffiziere a. D. im Alleingang, was über die inoffiziellen Mitarbeiter geschrieben werden durfte – bis dann sehr viel später der Bundesgerichtshof den Wert von Staatssicherheitsakten doch anders einschätzte. Zweitens scheiterte Bärbel Bohley in Karlsruhe mit einer Verfassungsbeschwerde gegen den juristischen Maulkorb – allerdings aus formalen Gründen. Das Bundesverfassungsgericht entschied nicht in der Sache, sondern wies ihre Klage wegen eines Formfehlers ab. Bohley nannte Gysi fortan einfach „Spritzel“. Das erwies sich als rechtlich unangreifbar, und jeder wusste, was gemeint war.
Dabei hätte sie es sich auch leichter machen können: Der Bundestagsausschuss für Wahlprüfung und Immunität untersuchte die Stasi-Tätigkeit Gysis außerordentlich gründlich, und kam am 8. Mai 1998 zu dem Schluss: „Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuß) hat im Prüfungsverfahren gemäß § 44b Abs. 2 AbgG eine inoffizielle Tätigkeit des Abg. Dr. Gregor Gysi für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik als erwiesen festgestellt.“ Das Dokument unter der Kennung DS 13/10893 kann bis heute jeder nachlesen. Gysi klagte zwar vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen, verlor aber, und das nicht aus Formgründen. Trotzdem schreiben bis heute sie meisten alteingesessenen Medien bestenfalls von „Stasivorwürfen“ gegen Gysi, die „ungeklärt“ seien. Die meisten erwähnen das Thema überhaupt nicht mehr, so, wie sie ihren Lieblings-Linksparteipolitiker generell mit lästigen Nachfragen verschonen.
Bei der Erhebung des willigen SED-Juristen und Zuträgers zur fast schon präsidialen Medienfigur spielte die ZEIT eine herausragende Rolle. Keinen anderen Politiker behandelte das Blatt jemals so wohlwollend, von keinem nahm sie das selbstexkulpierende Legendengeschwätz dermaßen bereitwillig auf. Das Interview mit dem angeblichen Rinderzüchter, Wehrdienstverweigerer, Teildissidenten und Büchermenschen ohne echte Privilegien markiert einen vorläufigen Höhepunkt der Dauerserie: Gysi erklärt westdeutschen Journalisten die DDR.
Mit einer realistischen Lebensbeschreibung ließe sich am Beispiel Gysis – nicht wegen einer individuellen Wichtigkeit, sondern, weil es sich um eine Zeitfigur handelt – durchaus vieles über die DDR erzählen und erklären. Etwa, dass in diesem Staat vieles möglich war, wenn man zu den richtigen Kreisen gehörte, frei nach dem DDR-Bonmot: ‚Arbeiter- und Bauernstaat ist prima, man darf dort nur kein Arbeiter oder Bauer sein.‘ An seiner Person zeigt sich auch, dass die SED-Herrschaft niemals das Jahr 1989 erreicht hätte, wäre der Funktionärstypus eines Honecker oder Mielke ihre einzige Stütze gewesen. Die Diktatur benötigte auch mit allen westlichen Wassern gewaschene, geschmeidige und zungenfertige Helfer wie Gregor Gysi. Vor allem brauchte die SED jemand mit diesem Talent, um sich nach dem Mauerfall in den Westen hinüberzuretten und sich im politischen System der Bundesrepublik dauerhaft festzusetzen.
Diese Operation kann als gelungen gelten.
Wer ohne Verklärungswille auf Gysis Karriere schaut, erkennt auch, wie tief ihn der DDR-Kollaps getroffen haben muss. Die Dauerreiseerlaubnis, ausgestellt kurz vor dem Mauerfall, im Oststaat so etwas wie eine diamantene Kreditkarte – von einem Tag auf den anderen wertlos. Jeder Hinz und Kunz durfte plötzlich über die Grenze. In der DDR gab es bei gut 17 Millionen Einwohnern weniger als 600 Rechtsanwälte. Im vereinten Deutschland tausende, und zwar ohne einen politisch eingesetzten Oberfunktionär. Und mit dem Zugang zu Westzeitschriften und -Büchern konnte man auch nicht mehr renommieren. Zum ersten Mal in seinem Leben machte Dr. Gregor Florian Gysi 1990 die Erfahrung, nichts Besonderes zu sein. Ohne PDS respektive Linkspartei hätte sich Gysis Karriere bei seinem Witzeltalent möglicherweise als Sidekick der ZDF-Heute-Sow ihrem Ende zugeneigt. Dass es anders kam, verdankt er hauptsächlich westlichen Journalisten, für die dreierlei zutrifft: Sie nehmen kopfnickend alles für barste Münze, was ihnen frühere DDR-Funktionäre über den SED-Staat zuraunen, so, wie sie auch alles bedingungslos glauben, was ihnen eine Lamya Kaddor über den Islam und Hamaskader über Gaza erzählen.
Bei „Markus Lanz“ konnte Gysi vor wenigen Tagen sein schon zigmal abgespultes Märlein unterbringen, die SED-PDS habe sich große Verdienste beim Zustandekommen der deutschen Einheit erworben. In Wirklichkeit lag das Hauptaugenmerk der frisch umgetauften SED in diesen Monaten darauf, ihre Milliardenvermögen verschwinden zu lassen. Auch diese Aktion glückte weitgehend. Im „Lanz“-Studio referierte Gysi außerdem: „Die führenden westlichen, kapitalistischen Staaten hatten gegenüber den sozialistischen Ländern immer drei Vorteile: Sie hatten die breitere und bessere Waren- und Dienstleistungsdecke. Sie hatten eine frei konvertierbare Währung und deutlich mehr Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die sozialistischen Länder (..) waren sozial gerechter, nicht politisch, aber sozial gerechter.“ Als ob sich politische und soziale Gerechtigkeit trennen ließen. Aber wer wüsste besser über die soziale Gerechtigkeit in der DDR Bescheid als ein Ministerkind, aufgewachsen in einer Villa mit Kindermädchen? Schön auch die Wendung, der Westen habe „deutlich mehr Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ als der Ostblock gehabt. Also: mehr als die DDR, die davon weniger besaß, aber nach Meinung des Politikers immerhin auch ein gutes Stück.
Selbstredend fragt Markus Lanz hier nicht nach. Und dass irgendein Journalist oder Talkmaster heute noch nach seiner MfS-Spitzelei oder dem weggezauberten SED-Geld bohrt – ausgeschlossen.
Über den Grund gibt eine andere Gysi-Preziose aus der Lanz-Sendung Auskunft: „Die, die Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bewahren wollen, sind nicht in der Lage, sich gemeinsam zu organisieren. Das ist mein Problem.“ Ach, schon lange nicht mehr. Die Linkspartei gehört nach Ansicht des politisch-medialen Betriebs längst und vollwertig zum Kampfbund gegen rechts. Da schaut man über biografische Fußnoten hinweg, bei dem Linkspartei-Welterklärer genauso wie auch bei Maja Wiens, Sprecherin der staatlich bezuschussten „Omas gegen rechts“, zu DDR-Zeiten Stasi-Spitzel von hohen Graden.
Mit 77 weiß Gregor Gysi: Unsere Demokratie braucht jemand wie ihn. Und zwar ganz dringend.