Der schizophrene deutsche „Nie wieder“-Rausch: Nach dem 7. Oktober gingen Millionen auf die Straße – aber nicht gegen die Hamas

vor 7 Monaten

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Bildquelle: NiUS

Das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Gedenkens: Es radierte die Versprechen aus, die sich unser Land gab, als es seine verbrecherische Geschichte aufarbeitete. Deutschland, so zeigte sich in den zwölf Monaten seit dem Massaker, blickt auf das Weltgeschehen wie Narziss auf das Wasser: verzückt über das eigene Bild, das sich in der Oberfläche spiegelt; unfähig zu sehen, was sich in der Tiefe darunter verbirgt.

Die schiere Zahl der Menschen mit deutschem Pass, die am 7. Oktober entführt oder getötet wurden, wird die meisten überraschen: Es handelt sich um 32 Personen, unter ihnen zahlreiche Kinder, Jugendliche und Alte. 14 der deutschen Geiseln konnten im November durch einen Deal befreit werden, laut Jüdische Allgemeine handelte es sich um Aviv Asher, Raz Asher, Raz Ben-Ami, Shoshan Haran, Doron Katz-Asher, Rimon Kirsht-Buchshtab, Margalit Moses, Yarden Roman-Gat, Amit Shani, Adi Shoham, Naveh Shoham, Yael Neri Shoham, Or Yaakov und Yagil Yaakov.

Eine „niedrige zweistellige Anzahl von Personen mit Deutschlandbezug“ soll sich laut Außenministerium noch in Gefangenschaft befinden, darunter etwa die Brüder Kfir und Ariel Bibas, die ihren ersten bzw. fünften Geburtstag in Geiselhaft verbrachten, sowie ihre Mutter Shiri Bibas. Außerdem Ohad Ben-Ami, Gali Berman, Ziv Berman, Gadi Moses, Tamir Nimrodi und Arbel Yehoud.

Die Tante von Kfir Bibas bei einer Pressekonferenz.

Neun weitere Deutsche sind nach israelischen Angaben während des Massakers oder in der Gefangenschaft der Hamas umgekommen: Shani Louk, Carolin Bohl, Ravid Katz, Tamir Adar, Itay Chen, Shay Levinson, Itay Svirsky und Yair Yaakov. Der Bruder der noch immer gefangenen Arbel Yehoud, Dolev Yehoud, den man ebenfalls in Geiselhaft vermutet hatte, wurde im Juni für tot erklärt. Spezielle forensische Untersuchungen hatten ein Dreivierteljahr nach dem Verbrechen ergeben, dass Yehoud bereits am 7. Oktober ermordet worden war. Seine Leiche hatte zuvor nicht identifiziert werden können. Allein dies verdeutlicht die Brutalität, mit der die Hamas vorging.

Ein Land, das sich selbst und der Welt versprochen hat, dass Menschen nie wieder getötet werden sollen, weil sie Juden sind oder in einem jüdischen Staat leben – solch ein Land müsste auf den antisemitischen Mord an über 30 Staatsbürgern eigentlich mit Entsetzen reagieren. Und natürlich gab es nach dem 7. Oktober Mahnwachen, gab es engagierte Journalisten, tief betroffene Politiker, die sich dafür einsetzten, das Massaker und die Geiseln in Erinnerung zu rufen. Eine Massenbewegung aber blieb aus.

Pro-Israel-Kundgebungen, wie hier von Fridays for Israel, zogen vergleichsweise wenige Deutsche an.

So kritisierte auch die Jüdische Allgemeine im April, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich nicht zum Tod der Geisel Itay Chen geäußert hatte, während Joe Biden in einem Statement seine Trauer über die Nachricht ausgedrückt hatte. Chen besaß neben der israelischen auch die amerikanische und die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Zeitung resümierte: „Doch gehören die deutschen Geiseln wirklich zu ‚uns‘? Ein halbes Jahr nach dem 7. Oktober zwingt sich ein anderer Eindruck auf: Deutschland hat verdrängt, wie sehr es von den Folgen dieses Tages betroffen ist.“

Eine Demonstration für die Geiseln am 8. Oktober 2023 in Fort Lauderdale, Florida. In den USA sind die Geiseln präsenter als in Deutschland.

Doch statt einer Anti-Hamas-Bewegung – und nun wird es wirklich schizophren – bildete sich just nach dem antisemitischen Pogrom eine breite Bürgerbewegung, die zwar unter dem Motto „Nie wieder“ die Massen mobilisierte, in der jedoch dieses Pogrom nahezu keine Rolle spielte. Mehrere Millionen Menschen gingen Anfang dieses Jahres „gegen Rechts“ auf die Straße, nachdem das Medienhaus Correctiv (das auch durch Steuermittel finanziert wird) die sogenannte Geheimplan-Recherche veröffentlicht hatte: Ein Text über ein Treffen rechter Akteure in Potsdam, die unter dem Schlagwort der „Remigration“ angeblich die millionenfache Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund planten.

Im Nachhinein stellte ein Gericht fest, dass die vermeintlichen Pläne des Treffens nicht belegt werden konnten und es sich bei diesem Vorwurf lediglich um die Meinung der Correctiv-Journalisten handelte. Diese aber hatten, indem sie gezielt historische Parallelen zur Wannseekonferenz und zu Deportationsplänen der Nationalsozialisten zogen, offenbar die richtigen Knöpfe bei den Deutschen gedrückt: „AfD wählen ist so 1933“, pinselten die Demonstranten auf ihre Demo-Schilder, oder: „Jetzt können wir herausfinden, was wir anstelle unserer Großeltern getan hätten.“

Bei den Deutschen gab es auf einmal kein Halten mehr. Sie entwickelten in den darauffolgenden Monaten eine bemerkenswerte Phantasie, wenn es darum ging, sich einen erneuten Aufstieg des Faschismus in allen Farben auszumalen.

Ein Einhorn im Einsatz „gegen Rechts.“

Das Berliner Ensemble brachte das Potsdamer Geheimtreffen als Schauspiel auf die Bühne. Die Lebensmittel-Kette Edeka illustrierte in einem Werbespot, wie Remigration im Supermarkt aussehen würde: Verwunderte Kunden laufen durch nahezu leere Regalreihen, alle ausländischen Produkte sind verschwunden. Influencer und Journalisten produzierten ein KI-Video, in dem das Land unter der Herrschaft der imaginierten rechten Partei „Die Blauen“ gezeigt wurde: Müll liegt in den menschenleeren Straßen, Schulen und Arztpraxen sind geschlossen. „Es tut mir leid“, erklärt die Arzthelferin den Patienten, „Dr. Jamil wurde heute remigriert.“

In Schulen wurde Kindern mit Migrationshintergrund eingetrichtert, dass die AfD ihre Deportation plane. Die öffentlich-rechtlichen Kinder-Nachrichten logo zeigten eine junge Frau, die über die mögliche Remigration ihres Freundes, eines Halb-Brasilianers, schluchzte. Linke Kommentatoren wähnten Deutschland fünf vor „weißem Ethnostaat“. Spiegel und Stern druckten als Mahnung das Hakenkreuz auf ihr Cover.

Zeitungen wie die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und das Handelsblatt lancierten gemeinsam mit Unternehmen und Verbänden die Kampagne „Zusammenland“: „Dumpfer Populismus? Nein danke! Die sogenannte ‚Remigration‘ unserer Freundinnen und Nachbarn, Kolleginnen? Ganz sicher nicht. Und Faschismus? Nie wieder!“, hieß es in der Kampagne, deren Initiatoren als gut informierte Journalisten eigentlich hätten wissen können, dass die Deportation ihrer migrantischen Nachbarn nicht kurz bevorstand.

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Sie hätten es wissen können und wollten es doch nicht wissen: Deutschland hat sich in den ersten Monaten dieses Jahres in einen kollektiven Rausch gesteigert, in dessen Zentrum die fixe Idee stand, dass die nationalsozialistische Vergangenheit schon bald wiederaufleben könnte. Dieser Rausch ist gerade deshalb beachtlich, weil er jenes erst kurz zurückliegende Ereignis, das seit 1945 dem Holocaust am nächsten kam, nahezu vollständig ausklammerte: das barbarische Massakrieren von Juden durch die Hamas am 7. Oktober.

Lustvoll gaben sich die Deutschen ihren Phantasiegespinsten hin, stellten ihre eigene Angst öffentlich aus. Ignorant aber begegneten sie der tatsächlichen Bedrohung jüdischen Lebens. Ihr leidenschaftlicher Kampf gegen einen neuen Nationalsozialismus speiste sich gerade nicht durch eine reale Angst, denn dann hätte der Hamas ihre größte Sorge gegolten, dann hätte das Massaker die Massen mobilisiert. Es war nicht das Verbrechen, das die Lust der Deutschen am Protest weckte, sondern die Phantasie eines Verbrechens, für dessen Planung es keine fundierten Beweise gab.

Die Deutschen schafften es also, im für Juden gefährlichsten historischen Moment seit 1945 an etwas anderes zu denken: an sich selbst. Sie konnten herausfinden, was sie anstelle ihrer Großeltern getan hätten, und es stellte sich heraus, dass sie exakt dasselbe taten. Anstatt Solidarität mit den Opfern des Pogroms zu zeigen, inszenierten sie sich selbst als heldenhafte Widerstandskämpfer gegen eine Bedrohung, die gar nicht existierte. Anstatt gegen die Mörder der Juden auf die Straßen zu gehen, stärkten sie mit ihren Demonstrationen einer Regierung den Rücken, die auch Monate nach dem Massaker weiter Steuergelder an das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA fließen ließ – eine Organisation, die in Gaza eng mit der Hamas verwoben ist. Anstatt die Migration aus islamischen Ländern und die damit einhergehende Gefahr für Juden auf deutschen Straßen zu problematisieren, erstickten sie mit ihrer Bewegung „gegen Rechts“ die Bemühungen um eine strengere Einwanderungspolitik im Keim.

Seinen Gipfel fand die deutsche Selbstbesoffenheit in der Parole „Free palestine from German guilt“, die linke Demonstranten skandierten, um Israels Militäreinsatz gegen die Hamas zu kritisieren. Die perverse Idee dahinter: Weil die Deutschen Schuldgefühle gegenüber den Juden hätten, würde sie nun Israel dabei unterstützen, die Bevölkerung im Gaza-Streifen zu töten. Die Schuldigen vom 7. Oktober hatten ihre Greueltaten gefilmt, doch nicht einmal der Videobeweis konnte die linken Aktivisten davon überzeugen, dass es ausnahmsweise nicht um deutsche Schuld ging, sondern um die Schuld der Hamas.

Manchmal schien es in diesem Jahr fast, als habe der 7. Oktober dem deutschen Selbstbild eine Kränkung zugefügt. Der Philosoph Hermann Lübbe prägte einst den Begriff des „deutschen Sündenstolzes“, der ein Überlegenheitsgefühl bezeichnet, das die Deutschen aus ihrer Geschichte ziehen: „Den Holocaust soll uns erst mal einer nachmachen! Und seine Bewältigung auch!“ So fasste der jüdische Publizist Henryk M. Broder den Sündenstolz-Gedanken von Lübbe zusammen, auf den er sich bei seiner Kritik an der deutschen Gedenkkultur immer wieder bezog.

Der Philosoph Hermann Lübbe im Jahr 2008 in seinem Haus nahe Münster.

Nach dem Massaker der Hamas stehen beide Pfeiler des deutschen Sündenstolzes zur Disposition: Der Holocaust wurde, wenn auch keineswegs nachgemacht, so zumindest in seiner barbarischen Unmenschlichkeit zu imitieren versucht. Und: Das deutsche Bewältigen hat offensichtlich nichts genutzt, wenn wir noch immer in einer Welt leben, in der jüdische Babys geköpft werden. Die Antwort der Deutschen auf diese Kränkung lautete: „Wenn jemand deportiert, dann sind das immer noch wir!“

Die Deutschen haben über Jahrzehnte hinweg gelernt, sich als eine Nation geläuterter Täter zu identifizieren. Dieses Selbstbild war auch ein Versuch, den enormen zivilisatorischen Kontrollverlust, den der Nationalsozialismus bedeutete, zu bewältigen. Den Satz „Nie wieder“ sprachen die wenigsten Deutschen aus der Perspektive des Opfers aus. Er sollte vielmehr besagen: Ich verspreche, dass ich kein Täter werde – und garantierte dem Sprecher auf diese Weise die Kontrolle. Wer entscheiden kann, ob er zum Täter werden möchte oder nicht, befindet sich in einer Machtposition. Opfer zu sein, bedeutet hingegen, die Kontrolle zu verlieren.

Die Phantasie einer Täterschaft ist darum emotional sehr viel verlockender als die Realität der Opfer. Um das zu erkennen, reicht es, einmal die Fotografie der Geisel Shani Louk auf dem Transporter der Hamas gesehen zu haben. Das Bild ist auch deshalb so verstörend, weil man sich als Betrachter instinktiv wünscht, dass Shani Louk tot oder zumindest bewusstlos ist – so grauenvoll schmerzhaft sieht die verdrehte Position aus, in die die Terroristen ihren Körper verrenkten.

Ricarda Louk bei der Beerdigung ihrer Tochter Shani im Mai in Israel.

Shani Louk ist heute aus dem medialen und politischen Bewusstsein Deutschlands nahezu verschwunden, und dabei ist sie die deutsche Geisel, der noch am meisten Aufmerksamkeit zuteil wurde. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat seit dem 7. Oktober gezeigt, dass sie sich für Opfer nicht sonderlich interessiert. Es bestätigt sich, was man lange ahnen konnte: Wenn die Deutschen über den Holocaust reden, dann geht es ihnen selten wirklich um die Juden. Es geht ihnen vor allem um die Deutschen.

NIUS-Video-Reportage: Morgengrauen – Der Terror-Überfall auf Israel vom 7. Oktober

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