Der Siegeszug der Ökorealisten

vor etwa 5 Stunden

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Bildquelle: Tichys Einblick

Noch vor zehn Jahren galt zumindest für die westliche Welt in der Klimadebatte die eiserne Regel: Die größte Aufmerksamkeit sichert sich derjenige, der es mit der apokalyptischen Wortwahl am weitesten treibt. UN-Generalsekretär António Guterres erklärte bei jeder Gelegenheit, die Welt befinde sich „auf dem Highway zur Hölle“, Greta Thunberg heimste Applaus ein bei Politikern, Journalisten und Kirchenoberen für ihre Botschaft: „Unser Haus steht in Flammen.“ Angela Merkel erklärte 2017 den Klimawandel zur „Schicksalsfrage der Menschheit“.

Dieselbe Politikerin setzte bekanntlich 2011 den Ausstieg Deutschlands aus der Kernkraft, der einzigen CO2-freien, verlässlichen Energieerzeugungstechnik, durch. Aber sie konnte sich darauf verlassen, dass kein Hauptstadtjournalist sie im Interview auf den offensichtlichen Widerspruch aufmerksam machen würde. Es fragte auch niemand nach der fachlichen Kompetenz einer Greta Thunberg oder des früheren sozialistischen Parteifunktionärs António Guterres. Dass selbst das Klimawissenschaftler-Netzwerk IPCC in seinen Berichten nicht behauptete, die Welt stünde kurz vor dem Klimakollaps, ging im politisch-medialen Überbietungswettbewerb schlicht unter. Und die Langfassung der IPCC-Dossiers las sowieso kaum ein Journalist. Es fiel ihnen leichter, Greta Thunbergs „How dare you“-Ansprache vor der UN-Vollversammlung 2019 am Bildschirm zu verfolgen – und für großartig zu halten.

Die Zeiten sind vorbei – fast jedenfalls. Auf ihre Greta-Jubelarien wollen die meisten Politiker und Journalisten jedenfalls nicht mehr angesprochen werden. Gegen den Weltuntergangssound wenden sich immer mehr Forscher – sie begreifen, dass irgendwann niemand mehr auf eine Alarmsirene hört, die pausenlos heult. Selbst in Deutschland, wo Angst eigentlich immer zieht, bringt „Fridays for Future“ heute keine Massen mehr auf die Straße. Das liegt auch an einer kleinen Gruppe von Klimarealisten, die zu den Hochzeiten des apokalyptischen Überbietungswettbewerbs als Außenseiter ein Gegenprogramm zu Thunbergs Forderung zu entwickeln begannen. Die lautete bekanntlich: „Ich will, dass Ihr in Panik geratet.“ Die Botschaft von Bjørn Lomborg, Michael Shellenberger, Steven Koonin, Michael Chu und anderen lässt sich am besten so zusammenfassen: Wir wollen, dass ihr Zahlen und Diagramme lest. Und: Es gibt keinen Grund für Weltuntergangspanik.

Das Gegenteil, zeigen Lomborgs Zahlen, trifft zu: Um die Jahrhundertwende schädigten Feuer noch jährlich etwa 4,5 Prozent der Erdoberfläche – heute noch 2,2 Prozent. Wetterkatastrophen wie Überschwemmungen und Stürme treffen immer mehr Menschen? Nein, im Gegenteil: Die Zahl der Toten durch Elementargewalten fiel von weltweit rund 500 000 in den 1920er-Jahren auf heute etwa 10 000. Ist, wie der frühere US-Präsident Joe Biden behauptete, Hitze „der größte wetterbedingte Killer“? Nein. In Europa sterben jährlich gut 20 500 Menschen an den Folgen hoher Temperaturen – aber 220 000 an den Folgen von Kälte. Für die USA fallen die Zahlen sogar noch deutlicher auseinander.

Anfangs versuchten einige Politiker, Journalisten und Wissenschaftler noch, Lomborg das Etikett des „Klimaleugners“ anzukleben; 2003 leitete das dänische „Komitee für unethisches Verhalten in der Wissenschaft“ ein Verfahren gegen ihn ein. Es endete mit einem Freispruch. Natürlich leugnet Lomborg den Klimawandel nicht. Zu diesem Thema sagt er: „Wenn, dann leugne ich, dass es einen Grund für Panik gibt.“ Er gehört wie Shellenberger und Koonin zu jenen, die sich strikt gegen die vor allem in Deutschland verbreitete Idee des „Degrowth“ wenden, also Klimarettung durch Deindustrialisierung. Ihr Argument: Das werden nicht nur Millionen Amerikaner und Europäer nicht akzeptieren, sondern vor allem nicht die über zwei Milliarden Chinesen und Inder, deren Vorfahren noch vor zwei Generationen meist in bitterer Armut lebten.

Shellenbergers Landsmann Steven Koonin, einer der führenden Physiker des Landes, der lange das Forschungsprogramm am California Institute of Technology (Caltech) leitete, zeigte 2021 mit seinem (noch nicht auf Deutsch erschienenen) Buch „Unsettled“, dass Klimawissenschaftler in sehr vielen Fragen eben nicht, wie oft behauptet, „settled“, also festgelegt sind, sondern im Gegenteil noch nach Antworten suchen. Auch Koonin hält es für überheblich und vor allem realitätsfern, vom Westen aus Ländern wie China und Indien, die erst seit Kurzem dem Wohlstandsklub angehören, Verzicht zu predigen. Den Physiker als „Leugner“ oder „Rechten“ abzutun, dürfte selbst harten Ideologen schwerfallen: Koonin diente in der Administration von Barack Obama als Energie-Unterstaatssekretär unter Staatssekretär Steven Chu, Physik-Nobelpreisträger und ebenfalls Klimarealist. Chu kritisierte 2023 den Weg der deutschen Energiewende, den die Merz-Regierung offenbar fortsetzen will: „Wenn die Grünen vernünftig wären, würden sie Atomenergie vorziehen.“

Die meisten Industrieländer folgen mittlerweile der realistischen Strategie: Ausbau der Atomkraft, technische Innovation statt Schrumpfung, Anpassung an Klimaveränderungen statt Feinjustierung des Weltklimas bis 2100. In Deutschland dringen zwar Stimmen wie die von Lomborg, Shellenberger und anderen stärker durch als noch vor zehn Jahren. Aber eine deutsche Talkshowausgabe, zu der Steven Chu oder Steven Koonin eingeladen würden, muss erst noch stattfinden. Im deutschen Wikipedia- Eintrag zu Lomborg findet sich – anders als im englischen Text – gleich im ersten Absatz das Signalwort „umstritten“. Und inzwischen gibt es zwar eine Bevölkerungsmehrheit für Kernkraft – aber keine entsprechende Mehrheit in der neuen Koalition. Möglicherweise dauert es einfach noch einmal zehn Jahre, bis die Botschaft der Ökorealisten auch im Berliner Regierungsviertel ankommt.

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