
Noch vor wenigen Monaten galt Pierre Poilievre nicht nur als der kommende Premierminister Kanadas, sondern auch als ein westlicher Vorzeigepolitiker einer konservativen Partei. Der Franko-Kanadier hatte seine Partei reformiert und ihr wieder ein deutlicheres konservatives Profil gegeben, nachdem seine Vorgänger mit ihrem moderaten Kurs gescheitert waren.
Und Poilievre hatte damit Erfolg: In den Umfragen lagen seine Konservativen seit anderthalb Jahren in jeder einzelnen Erhebung vor den regierenden Liberalen. Im November vergangenen Jahres erreichten die Konservativen in einer Umfrage von Mainstreet Research 47 Prozent; Trudeaus Liberale standen dagegen bei lediglich 17 Prozent: Poilievre hatte die Partei zu einem Vorsprung von 30 Prozentpunkten geführt.
Aufgrund des kanadischen Mehrheitswahlrechts sah alles nach einem historischen Sieg für die oppositionellen Konservativen aus: Vorhersagemodelle sagten der Partei noch Ende Dezember bis zu 253 Parlamentssitze voraus: Das wäre die größte parlamentarische Mehrheit in der modernen Geschichte Kanadas gewesen. Doch daraus wurde nichts: Der Amtsantritt von Trump und der Rücktritt von Trudeau haben das politische Klima im Land schlagartig verändert.
Mit der Wahl am Montag scheint Poilievres politische Karriere schlagartig vorbei zu sein: In seinem eigenen Wahlbezirk, Carleton in Ottawa, hat der Parteivorsitzende gegen seinen liberalen Kontrahenten Bruce Fanjoy mit 46 Prozent zu rund 51 Prozent der Stimmen verloren. Den Sitz hatte Poilievre seit 2004 inne – bis vor wenigen Tagen galt für ihn die Wahl im eigenen Wahlbezirk als sichere Sache.
Durch die Niederlage fliegt der bisherige Oppositionsführer nicht nur aus dem Parlament, sondern verliert wohl bald sein Amt als Parteivorsitzender. In Kanada ist es nämlich üblich, dass der Vorsitzende einer Partei auch im Unterhaus Kanadas sitzt – das ist insbesondere für die öffentlichkeitswirksamen Befragungen des Premierministers wichtig. Überspitzt gesagt, hat Poilievre innerhalb weniger Monate die Wandlung vom nächsten Premierminister zum Politiker in der außerparlamentarischen Opposition durchlebt – eine einmalige Entwicklung in der kanadischen Geschichte.
Schnell stellt sich die Frage, woran diese verblüffende Wandlung gelegen hat. Freilich spielt darin der Rücktritt des unpopulären Trudeau eine Rolle (sein Nachfolger Mark Carney gilt als deutlich moderater); und auch für den „Rally-around-the-flag“-Effekt, der nach den Strafzöllen gegen Kanada durch US-Präsident Donald Trump eingetreten war, kann Poilievre nichts. Dennoch erscheint seine Reaktion im Nachhinein etwas fehlerbehaftet.
So schwieg er tagelang zu Trump. Erst nach Tagen äußerte sich Poilievre – und kritisierte den Staatschef des Nachbarlandes scharf. Er nannte in einer Rede die Zölle „grundlos und ungerechtfertigt“. „Diese Zölle werden seinen Arbeitern und seiner Wirtschaft genauso schaden wie unserer“, führte Poilievre aus. Damit brach er mit der früheren Parteiposition – die Konservativen galten bislang als Amerika-nah. Plötzlich versuchte Poilievre, die wachsenden anti-amerikanischen Ressentiments im Land auszunutzen – am Ende mag ihm das vielleicht sogar noch mehr geschadet als genutzt haben.
Trumps Drohgebärden und Strafzölle hatten geradezu eine patriotische Welle in Kanada zur Folge: Supermärkte riefen ihre Kunden dazu auf, amerikanische Waren zu boykottieren und „kanadisch“ einzukaufen; bei gemeinsamen Sportveranstaltungen wurde die amerikanische Nationalhymne von kanadischen Fans ausgebuht.
Poilievre wird parteiintern zudem für einen falschen Wahlkampf verantwortlich gemacht. Nach fast drei Jahren, in denen er die Wut der Bevölkerung über die wirtschaftsfeindliche Klimapolitik und zunehmend realitätsfremde Gesellschaftspolitik der Trudeau-Regierung öffentlich artikuliert hatte, hielt er sich in den letzten Wochen des Wahlkampfs auffällig zurück – vom „kanadischen Trump“, wie er auch oft von deutschen Medien bezeichnet wird, war wenig zu spüren. Nun scheitert er mit dieser Strategie, mit der auch seine Vorgänger bei den vorherigen Unterhauswahlen in den Jahren 2019 und 2021 gescheitert waren.
Möglicherweise trägt Poilievre auch keine echte Schuld für diesen einmaligen Zusammenbruch einer Partei. Die Liberalen unter ihrem Premierminister Mark Carney haben schon immer die Ängste vor Trump und Amerika geschickt zu nähren gewusst. Das hat sich auch in diesem Wahlkampf bestätigt: Während seiner Siegesfeier am Montagabend sprach Carney etwa von einem „amerikanischen Verrat“, dessen Lehren man „nie vergessen sollte“.
Angesichts dessen scheint Poilievre der richtige Mann zum falschen Zeitpunkt gewesen zu sein. Denn am Ende dieser Wahl triumphiert vor allem der unbändige Amerika-Hass in Kanada, der angesichts der aktuellen Situation besonders hoch ist.