
Über Jahrhunderte herrschte finstere Nacht im alten Russland, eine Renaissance hatte es nie gegeben, geschweige denn so etwas wie eine Reformation oder ein Zeitalter der Aufklärung. Das russische Imperium war eine religiöse Gesellschaft, in der die Übermacht der orthodoxen Kirche die Entwicklung weltlicher Künste zu verhindern wusste. Das Ergebnis: Es gab keine nennenswerte Dichtung, kein eigenständiges Verlagswesen, keine öffentlichen Bibliotheken und bis ins 18. Jahrhundert auch keine Universitäten.
Zar Peter wollte sein Reich als kontinentale Militärmacht etablieren, die neuesten Techniken für die Umgestaltung hatte er auf seinen Europareisen kennengelernt. Aber seine Gesellschaftsreformen stießen bei der dünnen Adelsschicht auf Misstrauen und Ablehnung. Die 60 Millionen Bauern waren als rechtlose Leibeigene wie menschliche Tiere der Willkür der Gutsbesitzer ausgesetzt und wurden als „seelenloses Menschenmaterial“ in den Kriegen verheizt. Auch in den 200 Jahren nach Peter dem Großen sollte es weder Parlament noch freie Presse geben. Es herrschte eine strenge Zensur; die zumeist adligen Literaten unterlagen einem Reiseverbot ins europäische Ausland oder wurden gleich auf ihre Landgüter verbannt – auch Alexander Puschkin war davon betroffen.
Anfang des 19. Jahrhunderts jedoch wendete sich das Blatt: Den jungen Offizieren, die dem besiegten Heer Napoleons bis nach Paris gefolgt waren, wurde im Westen vor Augen geführt, wie hoffnungslos rückständig ihre russische Heimat mit dem Fehlen an elementaren Grundrechten war, wie sehr eine russische Sklavenmentalität dominierte. Nach ihrer Rückkehr wollten sie gegen die Rückständigkeit in ihrer Heimat vorgehen. Sie gründeten geheime Zirkel, in denen über demokratische Ideen diskutiert wurde, sie veröffentlichten mutige Texte in literarischen Almanachen, die sie an der Zensur vorbeischmuggelten.
In jenen Jahren setzte eine Entwicklung ein, die an ein Wunder grenzte: Geradezu über Nacht war eine eigenständige russische Literatur entstanden. „Die russische Literatur holte mit einem wahren Löwensprung die Versäumnisse eines Jahrtausends nach und trat in den Familienkreis der Weltliteratur als ebenbürtig ein“, bemerkte Rosa Luxemburg in einem Aufsatz über russische Literatur. Als ein solcher Literat von Weltruf sollte sich der 1818 auf einem Adelssitz in Zentralrussland geborene Iwan Turgenjew erweisen.
Bevor er diesen quittierte, hatte er sich in zwei Grundsatzpapieren der Aufhebung der Leibeigenschaft und demokratischen Reformen verschrieben. Zu dieser Einstellung hatte wesentlich seine Freundschaft mit Wissarion Belinski, dem berühmten Literaturkritiker und Demokraten, beigetragen. Im Gegensatz zu den „Slawophilen“, die eine Umgestaltung Russlands nach westlichem Vorbild ablehnten, auf national-orthodoxe Traditionen und auf die Alleinherrschaft des Zaren pochten und sogar dem russischen Imperium eine Vormachtstellung gegenüber dem westlichen Europa zubilligten, war Belinski ein überzeugter Westler und vertrat die Meinung, dass Russland sich an der westlichen Kultur orientieren müsse, an den Menschenrechten und den Idealen der Aufklärung.
Belinski hatte sich 1847 in einem offenen Brief an Nikolai Gogol scharf über die Verhältnisse im Russischen Reich geäußert: „Russland braucht keine Predigten – es hat ihrer genug gehört, keine Gebete – es hat ihrer genug heruntergeleiert, sondern das Wiedererwachen des Gefühls der Menschenwürde, das so viele Jahrhunderte hindurch in Schlamm und Schmutz verloren war. […] Es braucht Rechte, die dem gesunden Menschenverstand entspringen.“
Auch Turgenjew bekannte sich bis zu seinem Tod bei Paris 1883 als Westler und veröffentlichte sein erstes literarisches Werk, die „Aufzeichnungen eines Jägers“ in Belinskis Journal „Der Zeitgenosse“. Als Thema hatte er das hoffnungslose Schicksal der leibeigenen Bauern gewählt. Dieses Werk war der Zensur entgangen und wurde zu einem Publikumserfolg.
Bevor er 1863 endgültig nach Baden-Baden und Paris übersiedelte und nur noch selten auf sein russisches Landgut reiste, erschien 1862 der Roman „Väter und Söhne“ in der literarischen Zeitschrift „Russischer Bote“.
Er stand sofort im Kreuzfeuer der Kritik wegen seines angeblichen Eintretens für die Generation der Nihilisten. Der Hauptheld des Romans ist der junge Medizinstudent Jewgeni Basarow, ein extrem pragmatisch, geradezu utilitaristisch denkender junger Mann, für den „ein anständiger Chemiker zwanzigmal nützlicher als jeder Dichter“ ist. Und dazu ist er „Nihilist“. Dieser Begriff sollte bald Funken schlagen und für allgemeine Verwirrung sorgen.
Turgenjew schildert hier den Konflikt zwischen der Generation der gemäßigt demokratisch gesinnten Männer der 1840er – wie der Vater Arkadis und sein Onkel – und der rebellierenden, aller Illusionen beraubten Studenten der frühen 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts. Diese lehnten sich gegen die dem Zeitgeist jener Jahre entsprechenden liberalen Einstellungen ihrer Väter auf, die keinerlei gesellschaftliche Veränderungen im Land bewirkt hatten. Sie forderten konkretes Handeln statt bloßem Kritisieren.
Auch nach dem vom Zaren Alexander II. erlassenen Dekret zur Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 rumorte es im Lande. Lautstark gingen die Studenten in Moskau und St. Petersburg auf die Straßen. Das war in jenen Jahren möglich, denn unter der zaristischen Regierung wurden in den 1860ern die Universitäten reformiert. Nach Jahren des stumpfsinnigen Gehorsams trat jetzt kritischer geistiger Austausch auf den Plan, Professoren regten ihre Studenten zur Diskussion über neueste, auch revolutionäre Theorien an. In den folgenden Jahrzehnten sollten diese Auseinandersetzungen in der Praxis zu einer Welle von Terroranschlägen führen. Aus diesem geistigen Umfeld stammt auch der Student Basarow, der als Nihilist jegliche Autorität ablehnt.
Nach Gefühlsverwirrungen aller Figuren, Liebesgeschichten zwischen Adel und ehemaligen Leibeigenen kommt es sogar zu einem geradezu peinlichen Duell: Der konservativ denkende Onkel schießt auf Basarow, den er für einen zerstörerischen Plebejer hält, ohne ihn jedoch zu verletzen.
Der Roman endet mit dem Tod Basarows. Er stirbt an einer Infektion, die er sich als junger Arzt bei einer Obduktion in der Landpraxis seines Vaters zugezogen hat. Zuvor wirft ihn noch die Liebe zu der jung verwitweten Odinzowa aus der Bahn. Basarow, für den alles wissenschaftlich erklärbar sein muss, beginnt an seiner kompromisslosen Einstellung gegenüber allen idealistischen Gefühlen und traditionellen Werten zu zweifeln: „Es war das Gefühl, das Anna Odinzowa in Basarow ausgelöst hatte, ein Gefühl, das ihn peinigte und wütend machte und das er sofort mit verächtlichem Lachen und zynischen Schmähungen geleugnet haben würde, hätte jemand nur entfernt angedeutet, was womöglich in ihm vorging.“ In der ergreifenden Schlussszene ist Anna an das Bett des Sterbenden geeilt, der mit großer Nüchternheit dem Tod entgegensieht.
Die zeitgenössische Kritik warf dem Autor ungebührliche Sympathie mit seinem Helden Basarow vor. Turgenjew gab allerdings zu bedenken, dass er nur aufmerksamer Chronist der sozialen Verhältnisse in seiner russischen Heimat gewesen sei. Sein Held Basarow jedoch wurde zum Vorbild für eine Generation junger Radikaler, die mit Gewalt den Weg in eine bessere Zukunft zu bahnen suchten. Aus ihr ging die terroristische Gruppe Narodnaja Wolja – „Volkswille“ – hervor, der auch Lenins älterer Bruder angehörte. Die Gruppe ermordete den „Reformzaren“ Alexander II. durch ein Bombenattentat. Der Weg in Russlands traumatisches 20. Jahrhundert war gewiesen.
Iwan Turgenjew, Väter und Söhne. Roman. Neu übersetzt von Ganna-Maria Baumgardt, dtv, Taschenbuchausgabe, 336 Seiten, 13,00 €.