
Die jüngsten Umfragen lassen weder einen Scholz- noch einen Habeck-Effekt erkennen. Der sozialdemokratische und der grüne Kanzlerkandidat müssen zur Kenntnis nehmen: Mit aktuell 15 beziehungsweise 11 Prozent Zustimmung hat noch keine Partei eine Bundestagswahl gewonnen.
Dennoch überbieten sich der Amtsinhaber und sein Herausforderer in Optimismus und Ehrgeiz. Sie wollen bis zum voraussichtlichen Wahltermin Ende Februar kommenden Jahres kämpfen, kämpfen, kämpfen. Die SPD stellt ihre Kampagne sogar unter das Motto „Wir kämpfen“. Bei der Parteivorsitzenden Saskia Esken heißt es auf dem entsprechenden Plakat „Wir kämpfen für deine Familie“, bei Olaf Scholz „Wir kämpfen für dich und Deutschland“.
Plakate der aktuellen SPD Wahlkampagne
Womöglich aber entscheidet sich der Wahlkampf an einer ganz anderen Frage: Ist Deutschland bereit, für die Ukraine zu kämpfen? Bis zu welchem Punkt soll der deutsche Steuerzahler den Verteidigungskrieg des überfallenen Landes finanzieren? Sollen deutsche Soldaten für Kiew in den Krieg ziehen?
Annalena Baerbock lässt sich von der Besatzung eines Gepard Panzers die Einsätze in der Ukraine erklären.
CDU, CSU und die Grünen haben ganz andere Vorstellungen als die regierende SPD. Deren gewiefte Wahlkämpfer wollen so das Momentum auf ihre Seite ziehen. Die SPD inszeniert sich als Kraft der Besonnenheit. Mit ihr sollen auf keinen Fall deutsche Marschflugkörper vom Typ Taurus an Kiew geliefert werden. Sie hofft auf den Geist von Hannover, der einst Gerhard Schröder zum Sieg trug.
Schon lange stehen die sozialdemokratischen Schlagworte für den Wahlkampf fest. Fraktionschef Rolf Mützenich sagte im März dieses Jahres: „Zeitenwenden sind nichts für politische Spielernaturen. Gebraucht werden Verstand, Besonnenheit und Klarheit, und das setzt der Bundeskanzler in der Abwägung, die er als Regierungschef zu treffen hat, um.“ Eine solche Abwägung sei „die Voraussetzung für den Umgang mit Taurus“.
Friedrich Merz besuchte im März 2022 die ukrainische Stadt Irpin.
Die Union hingegen forderte erstmals im November 2023 die Bundesregierung auf, „endlich unverzüglich der ukrainischen Bitte nach Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern aus verfügbaren Beständen der Bundeswehr in größtmöglichem Umfang zu entsprechen“. Ukrainische Soldaten seien hierfür auszubilden. Parteichef Friedrich Merz hat diese Forderung unlängst bekräftigt und damit eine Brücke gebaut zum möglichen grünen Koalitionspartner.
Habeck sagte in der ARD-Talkshow „Caren Miosga“, das „Opferland“ Ukraine solle den Taurus bekommen. Damit distanziert er sich vom bisher gemeinsamen Kurs der Bundesregierung, an dem Scholz festhält: „Wir wollen keine Marschflugkörper an die Ukraine liefern, die weit in das russische Territorium hineinschießen können.“ Die Sorge vor einer militärischen Eskalation mit Russland treibe ihn um. Er habe, behauptet Scholz, einen „klaren Kurs in Sachen Ukraine“ gefahren.
Robert Habeck und Kanzler Olaf Scholz sind sich in der Frage von Taurus-Lieferungen in die Ukraine uneinig.
Dieser Kurs ist nicht frei von Zumutungen, setzt aber vor allem die Union erheblich unter Druck. Auch Scholz ist bereit, weiterhin Milliarden deutschen Steuergelds zur Unterstützung der Ukraine und der in Deutschland lebenden Menschen mit ukrainischem Pass auszugeben. Der Hinauswurf von Bundesfinanzminister Lindner soll auch diesen Grund gehabt haben: Der Liberale hat sich laut Scholz widersetzt, als der Kanzler „unsere Unterstützung für die Ukraine“ erhöhen wollte, „die einem schweren Winter entgegengeht“.
Groß ist die Gruppe derer, die Deutschland zu militärischer Zurückhaltung raten. Die Ukraine, heißt es, könne diesen Krieg sowieso nicht mehr gewinnen, jede deutsche Waffenlieferung verlängere das Sterben. Das Bündnis Sahra Wagenknecht und die Alternative für Deutschland geben diesen Stimmen politisches Gewicht. Je nach Umfrage sind mal 51 Prozent dieser Auffassung – und fordern mal 24 Prozent, die „militärische Unterstützung durch den Westen“ zu reduzieren. Auf jeden Fall kann ein derart großer Bevölkerungsanteil eine Wahl entscheiden.
Die SPD ist fest entschlossen, Merz im Wahlkampf als weltpolitischen Hasardeur und unbeherrschten Bellizisten darzustellen. Der CDU-Chef verhält sich durch seine Festlegung auf den Taurus ganz nach dem Geschmack der Sozialdemokraten. Mit Merz am Ruder, so der Vorwurf, steige das Risiko einer weiteren Zuspitzung, wenn nicht des Dritten Weltkriegs.
Auch die Forderung des Kriegsexperten Carlo Masala spielt der SPD in die Karten. Masala regte soeben eine Koalition der Willigen an, die „im Zweifel auch bereit ist, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden“. Merz wird bei dieser Frage Farbe bekennen müssen. Wenn die Souveränität der Ukraine in die Nähe deutscher Staatsräson gerückt ist – und so klingt Merz –, wird Merz ein Nein gut begründen müssen. Und wo verläuft die rote Linie für den CDU-Politiker Roderich Kiesewetter, der oft spricht, als wäre er im Zweitberuf ukrainischer Verteidigungsminister? Im Gegenzug sind jetzt Plakate der SPD mit einem neuen Slogan denkbar: „Wir kämpfen, damit deutsche Soldaten nicht in einen Krieg gegen Russland ziehen.“
Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002.
Die SPD denkt vor diesem Hintergrund gerne an den Geist von Hannover zurück. Dort verkündete Kanzler Gerhard Schröder im August des Jahres 2002, inmitten eines Bundestagswahlkampfes, bei dem die Union in Führung lag: „Dieses Land wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen.“ Schröder hatte damit ausgesprochen, was die Mehrheit der Deutschen dachte: Eine Beteiligung am Irakkrieg der USA wäre unverantwortlich. Sechs Wochen später gewann die SPD die Wahl.
Heute ist die Situation anders, der Rückstand deutlich größer und das Charisma des Olaf Scholz viel kleiner. Eine SPD aber, die mit dem Rücken zur Wand steht, wird die Kampagnenchance ergreifen und auf allen Kanälen gegen den Taurus und für „Besonnenheit“ feuern. Friedrich Merz könnte seine Großsprecherei noch bereuen.