
Die Stimmen sind ausgezählt, der Souverän hat gesprochen, aber das letzte Wort hat er nicht, das lassen die Parteien sich nicht nehmen. CDU und SPD haben gemeinsam mehr als 50 Prozent der schließlich verteilten Mandate, also wird man die einzig realistische Koalition auch weiter eine ‚große‘ nennen. Es spielt keine Rolle, dass ein anderes Zweierbündnis deutlich größer wäre.
Die SPD, die bei einer deutschlandweiten Wahl noch nie in ihrer Geschichte so schlecht abgeschnitten hat, muss ihre Mitglieder nach dieser Demütigung von einer erneuten Regierungsbeteiligung trotzdem erst noch überzeugen. Gewichtige Stimmen gibt es bereits, die vor einer ‚Regierung um jeden Preis‘ warnen. Bald dürfte eine Partnerschaft auf Augenhöhe gefordert werden. Schließlich müsse eine Koalitionsvereinbarung von den frustrierten Mitgliedern noch abgesegnet werden.
Wahlen verlieren und die folgenden Koalitionsverhandlungen gewinnen – das hat die SPD zwischen 2005 und 2021 oft und erfolgreich praktiziert, wir werden es wieder erleben.
Olaf Scholz blickt ernst: Trotz Wahldebakel könnte die SPD erneut Regierungsverantwortung übernehmen – zunächst am Verhandlungstisch.
Die Union hat den Führungsanspruch, aber so schlecht abgeschnitten wie noch nie – außer bei der Laschet-Wahl. In den neuen Bundesländern liegt die AfD in vielen Flächenkreisen über 40 Prozent. Die Wähler zeigen deutlich, was sie von der Brandmauer halten. Inhaltliches Streiten ist unverzichtbar und dringend erforderlich. Die Verweigerung der inhaltlichen Auseinandersetzung zementiert und verfestigt die Spaltung.
Die CDU war mal stolz darauf, die Partei der Deutschen Einheit genannt zu werden. Sie sollte versuchen, es wieder zu werden.
Die CDU vor einer Zerreißprobe: Ein historisch schlechtes Wahlergebnis und der fanatische Glaube an die Brandmauer setzen die Partei unter Druck.
Der Wahlkampf war kurz, aber mehrfach gab es Ereignisse, bei denen das Land den Atem anzuhalten schien. Anschläge in Magdeburg und Aschaffenburg, die Reden während der Münchner Sicherheitskonferenz, die neue Positionierung der USA. Die Zeitenwende, von der in Deutschland bisher ohne Konsequenzen nur die Rede war, findet weltweit statt. Sicherheit und Verteidigung werden in Deutschland eine größere Rolle spielen, nicht nur finanziell. Wirtschaftspolitisch muss das Gegenteil dessen geschehen, was Rot-Grün im Wahlkampf vertreten hat.
Die Wettbewerbsfähigkeit des Landes braucht den geschlossenen Einsatz der Regierung auf vielen Feldern. Die finanziellen Spielräume müssen geklärt werden.
Viel Zeit dafür hat Deutschland nicht. Vor den Wahlen ist wenig Klartext gesprochen worden. Die Zeit für Floskeln ist um.
***Peter Kurth (64) war CDU-Finanzsenator von Berlin und zuletzt Präsident eines Wirtschaftsverbandes. Im September 2024 war er im Interview bei „Schuler! Fragen, was ist“ zu Gast.
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