
Deutschland ist neben Österreich der einzige westliche Staat, in dem der Geheimdienst Parteien beobachten darf. In anderen westlichen Demokratien ist es undenkbar, dass ein Geheimdienst, der der Regierung untersteht, oppositionelle Parteien ausforscht und beobachtet. Meine früheren Kollegen aus Großbritannien, Frankreich und den USA hatten ungläubig den Kopf geschüttelt, als ich ihnen in Gesprächen sagte, dass der deutsche Verfassungsschutz Parteien beobachtet und dies mit der Folge einer Stigmatisierung auch noch öffentlich bekannt macht. Deutschland ist in dieser Hinsicht im Vergleich mit anderen westlichen Demokratien nicht der Normalfall, sondern ein krasser Sonderfall.
Während meiner Zeit als Präsident des Bundesverfassungsschutzes hatte ich 2013 mit der Zustimmung des damaligen Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) die Beobachtung der Partei „Die Linke“ eingestellt. Diese Entscheidung wurde von der politischen Linken in Politik und Medien gelobt. Für einen Moment gehörte ich aus deren Sicht zu den politisch Guten. Allerdings lag der Grund der Einstellung der Beobachtung nicht darin, dass „Die Linke“ nicht mehr extremistisch war. Sie war damals extremistisch und ist es auch heute noch. Der Grund für die Einstellung der Beobachtung lag darin, dass nach meiner Vorstellung der Verfassungsschutz endlich ein normaler europäischer Geheimdienst werden sollte, der wie alle anderen westlichen Dienste sich darauf konzentrieren sollte, Terrorismus, Spionage, Subversion und Cyberangriffe aufzuklären und zu verhindern. Er sollte nicht mehr zur Beobachtung der politischen Konkurrenz missbraucht werden.
Der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und der damalige Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen im Jahr 2012.
Ich dachte, dass mit dem Ausstieg aus der Beobachtung der Partei „Die Linke“ das Kapitel der Parteienbeobachtung durch den Verfassungsschutz in Deutschland beendet worden ist, bis ich ab 2016 aus dem politisch-medialen Raum zunächst zurückhaltend und dann immer nachdrücklicher dazu aufgefordert worden war, die AfD zu beobachten. Besonders hervorgetan hatte sich die Ramelow-Regierung in Thüringen. Ich sah mich infolge eines zunehmenden medialen Drucks dazu gezwungen, öffentlich klarzustellen, dass „der Verfassungsschutz nicht die Hilfstruppe der etablierten Parteien ist“, um eine unliebsame politische Konkurrenz aus dem Weg zu räumen.
Nach meinem Ausscheiden als Verfassungsschutzpräsident im Jahr 2018 musste ich feststellen, dass der deutsche Sonderweg einer Parteienbeobachtung durch den Geheimdienst fortgesetzt wurde, und zwar ausschließlich gegen die AfD und nicht gegen linke Parteien. Es war eigentlich klar, dass im Falle eines Wiedereinstiegs in die Parteienbeobachtung als Erstes die Beobachtung der Partei „Die Linke“ hätte wieder aufgenommen werden müssen, da deren Beobachtung nur wegen des Ausstiegs aus der Parteienbeobachtung eingestellt worden war. Auch hätte es wegen der Nähe zu linksextremistischen Organisationen und wegen verfassungsfeindlicher Äußerungen von Parteimitgliedern nahegelegen, auch eine Beobachtung der Grünen und ihrer Jugendorganisationen zu prüfen. Beides war aber offensichtlich aus politischen Gründen nicht gewollt.
Der Bundesverfassungsschutz hatte am Freitag durch eine Presseerklärung bekanntgegeben, dass er die AfD als „erwiesen rechtsextrem“ beobachtet. Bundesinnenministerin Faeser erklärte, dass diese Einstufung vom Verfassungsschutz „unabhängig“ erfolgte, dass er „eigenständig“ handele und dass es „keinerlei politischen Einfluss auf das Gutachten“ gegeben habe. Dies erweckt den Eindruck, als handele es sich beim Verfassungsschutz um eine neutrale Instanz, die um Objektivität bemüht ist. Das Gegenteil ist der Fall.
Der Verfassungsschutz ist weder eine neutrale noch eine politisch unabhängige Behörde. Er untersteht auf Bundesebene dem Bundesinnenministerium und ist an dessen Weisungen gebunden. Das Innenministerium kann der Behörde sogar in Einzelfällen vorschreiben, wie sie zu handeln hat. In einigen Bundesländern ist der Verfassungsschutz eine einfache Abteilung im Landesinnenministerium und ist damit noch nicht einmal organisatorisch vom Innenministerium getrennt.
Die Leitung des Verfassungsschutzes besteht aus politischen Beamten. Während die Präsidenten der meisten Bundesbehörden keine politischen Beamten sind, sind beim Verfassungsschutz nicht nur der Präsident, sondern auch seine beiden Stellvertreter politische Beamte. Um zu verstehen, was das bedeutet, sollte man sich die gesetzliche Definition ansehen: Es sind Beamte, die „in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen müssen“. Auch nach dem Weggang des bisherigen Verfassungsschutzpräsidenten Haldenwang wird der Verfassungsschutz von zwei Vizepräsidenten geleitet, die politische Beamte sind und die wissen, wie ihre Ministerin „tickt“.
Thomas Haldenwang (CDU) wollte in den Bundestag einziehen, aber scheiterte.
Das Gutachten über die AfD wird der Verfassungsschutz der Ministerin nicht wie aus „heiterem Himmel“ auf den Tisch gelegt haben. Selbstverständlich wird die Ministerin über das Ergebnis der Prüfung des Verfassungsschutzes nicht überrascht gewesen sein. Die Leitung des Verfassungsschutzes wird die politische Linie der Ministerin natürlich kennen und sich nicht mit etwas befassen, was auf Widerwillen stößt.
Es dürfte realistischerweise eher so verlaufen sein, dass das Ob des Gutachtens zunächst auf politischer Ebene entschieden wird und dass die jeweiligen Entwicklungsstadien des Gutachtens von der Fachabteilung des Innenministeriums über die vergangenen Monate engmaschig begleitet worden sind. Sicherlich hat die Behördenleitung den Fachabteilungsleiter und den Staatssekretär über den Stand des Gutachtens regelmäßig mündlich informiert und mit ihnen darüber diskutiert. Jedenfalls würde ich das als Staatssekretär vom Verfassungsschutzpräsidenten erwarten. Und als Verfassungsschutzpräsident oder dessen Vertreter würde ich das natürlich auch im eigenen Interesse tun, damit man nicht an der politischen Linie der Ministerin vorbei argumentiert und für den Papierkorb arbeitet.
Das Gutachten von über 1.100 Seiten des Verfassungsschutzes dürfte deshalb weder neutral noch objektiv oder unpolitisch sein. Was genau drin steht, wissen bislang nur Eingeweihte, denn es wird als Verschlusssache vor der Öffentlichkeit und auch vor der betroffenen AfD geheim gehalten. Der Verfassungsschutz darf sich nicht hinter Geheimhaltungsvorschriften verstecken, wenn er in der Öffentlichkeit den Ruf einer Partei und ihrer Mitglieder massiv beschädigt, aber sich weigert, die Gründe offenzulegen. Der Verfassungsschutz müsste auf eine öffentliche Bekanntgabe verzichten, wenn er nicht bereit ist, die seiner Bewertung zugrunde liegenden Beweise vorzulegen oder er müsste die Dokumente herunterstufen.
Dass das Gutachten vor der Öffentlichkeit und vor der betroffenen Partei geheim gehalten wird, es aber an einen regierungsnahen Journalisten des Spiegel zur Kenntnisnahme gelangte, lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Hier geht es nicht um eine faire Bewertung der AfD. Ministerin Faeser wollte einen politischen Gegner diskreditieren, indem sie den Verfassungsschutz instrumentalisierte und versuchte, nach außen den Eindruck zu erwecken, als handele es sich beim Verfassungsschutz um eine objektiv urteilende Behörde. Dass Ministerin Faeser ohne Wissen des zukünftigen Koalitionspartners CDU/CSU die Beobachtung der AfD als erwiesen rechtsextrem bekanntgeben ließ, ist möglich, aber eher unwahrscheinlich. Es liegt näher, dass dieses Thema eingehend mit CDU/CSU besprochen wurde, man sich über die Beobachtung einig war, aber den künftigen Innenminister von der CSU nicht damit politisch belasten wollte.
Dieses Gutachten ist der wohl letzte Skandal dieser Innenministerin. Unter ihr und Verfassungsschutzpräsident Haldenwang wurde der Verfassungsschutz in skrupelloser Weise missbraucht, um im Rahmen des Regierungsprojekts „Kampf gegen Rechts“ politische Gegner als Feinde zu bekämpfen. Unter dieser Ministerin entwickelte sich der Verfassungsschutz zu einer Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung.
Was wusste Faeser vorab über die Inhalte des Gutachtens?
US-Vizepräsident J.D. Vance, US-Außenminister Marco Rubio und zahlreiche andere ausländische Politiker hatten sich wegen der Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz und der Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland besorgt gezeigt. Ihnen wurde klar, auf was für einem gefährlichen Sonderweg Deutschland sich befindet, wenn die Regierung oppositionelle Parteien durch einen ihr unterstehenden Geheimdienst beobachten und öffentlich brandmarken lässt. Für diesen Sonderweg gibt es keine Rechtfertigung.
Die immer wieder zu hörende Erklärung für unseren Sonderweg, dass wir aus unserer speziell deutschen Geschichte gelernt hätten, ist keine Rechtfertigung, sondern ein billiger Vorwand, um den Verfassungsschutz gegen politische Gegner zu instrumentalisieren. Der amerikanische Vize-Außenminister Christopher Landau zeigte sich empört, dass die Bundesregierung mit diesem Vorwand die Überwachung der Opposition und Zensur rechtfertigt. Er machte deutlich, dass die Amerikaner keinen geringen Anteil daran hatten, dass die Deutschen nach 1945 wieder Meinungsfreiheit und politischen Pluralismus hatten und dass es auch seine Geschichte ist, denn sein Vater floh vor den Nazis nicht wegen eines Zuviels an Meinungsfreiheit, sondern wegen der Überwachung der Opposition und der Zensur.
Deutschland hat sich hinsichtlich der Einschränkung von Meinungsfreiheit, der Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes gegen oppositionelle Parteien und politische Gegner weg entwickelt von dem, was die USA nach dem 8. Mai 1945 als westliche Werte nach Deutschland brachten. Um wieder dorthin zu kommen, ist es notwendig, dass wir erkennen, dass unser Sonderweg ein Holzweg ist und wir ihn verlassen. Ein wichtiger Schritt, der uns aus diesem Holzweg herausführt, bestünde darin, dem Verfassungsschutz die Beobachtung politischer Parteien und Oppositioneller zu untersagen, denn dadurch kann einem weiteren Missbrauch des Verfassungsschutzes durch Regierungspolitiker entgegengewirkt werden.
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