
Bonjour Tristesse möchte man ausrufen – und sich der DDR-Vergleiche erwehren, die sich einem ständig aufdrängen, auch wenn man sie weder schreiben, noch länger lesen möchte. Niemand hätte damit gerechnet, dass die CDU den Klängen der Blockflöte so eine Kraft der Durchdringung verleihen würde. In Berlin soll, so flunkern Spötter, Norbert Lammert den Gedanken ventilieren, die Konrad Adenauer Stiftung in Otto Nuschke Stiftung umzubenennen, und in Kiel, unterstellen nämliche Spötter, schlagen sich Daniel Günther und Karin Prien die Nächte an der Förde um die Ohren, wie sie am besten das Konrad-Adenauer-Haus in Gerald-Götting-Haus umbenennen.
Seit der Lektüre des Koalitionsvertrages, mit der ich die Archiverecherche für ein neues Projekt zur Geschichte der DDR kurz unterbrach, geht mir ein Satz des US-amerikanischen Schriftstellers William Faulkner nicht aus dem Kopf, der einst notierte:
„Das Vergangene ist nie tot, es ist nicht einmal vergangen.“
Ich könnte natürlich auch Walter Benjamin zitieren, der in den Thesen zur Geschichte warnte: „auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.“ Freilich verstand Benjamin die Geschichte als „Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“ Doch im Gegensatz zu Walter Benjamin suche ich nach keiner Konstruktion, nach keinem philosophischen Verständnis, sondern nach einem historischen, einem realen, ich will, was Benjamin zweifelhaft vorgekommen wäre, wissen, wie es war, wie es sich wirklich zugetragen hat, zumindest dem so nahe wie möglich zu kommen – und das geht nur durch die Rekonstruktion der Zeit und der Ermittlung der Fakten, erst die fortwährende Summation von Funden eröffnet die Möglichkeit des Befundes.
Das beste Olivenöl, das Olivenwinzer herstellen, ist das Primario, das durch den Druck der übereinandergelegten Oliven und durch leichten zusätzlichen Druck als Kaltpressung entsteht – so muss man auch mit Quellen umgehen, man muss das Material, durch sich selbst zum Sprechen bringen. Ich hege kein antiquarisches Interesse, sondern ein sehr aktuelles, denn, was sich zugetragen hat, kann sich und wird sich, wenn wir nicht unsere Erfahrung, unser Wissen, unsere Erinnerungen dagegenstellen, mutatis mutandis immer wieder geschehen. Am Anfang sieht es immer harmlos aus, ein Missverständnis, eine verunglückte Wortwahl, nein wirklich, niemand will eine Mauer bauen. Der Verfassungsschutz beobachtet nur die wirklich bösen – und der Russe hat sich unter jeden Kieselstein versteckt. Und warum soll der Verfassungsschutz auch nicht observieren, worauf die sich selbst demokratisch nennenden Parteien sehr erpicht sind. Wozu denn Bürgerrechte, fragen sie, anständige Menschen haben doch nichts zu verbergen.
Doch die Gefahr einer rechten wie einer linken Diktatur ist größer denn je, weil die Liebe, die Kenntnis und die Achtung vor der Freiheit wieder einmal so rapide abnehmen. Die Geschichte mag eitel und mutwillig ihre Gewänder wechseln, aber sie wechselt ihre Gestalt nicht. Was die Diktaturen, dem Totalitarismus von rechts und von links wesentlich eint, ist der Kollektivismus, die Vorstellung, dass der einzelne sich dem großen und ganzen, dem Guten für alle unterzuordnen hat, dass die allgemeinen Ziele höher stehen als das Glück des einzelnen Menschen. Der Mensch ist für die Moral da, nicht die Moral für den Menschen. Dort, wo der Mensch für die Moral da ist, rechtfertigt sich dessen Existenz allein aus der Moral. Was hat man nicht alles als Feind der Moral ausfindig gemacht, doch dasjenige, was die Moral als ihren wirklichen Feind ausmacht, dazu noch etwas so Unschuldiges, Mutwilliges, ist die Freiheit. Die Moral, die für gewöhnlich der Volkskatechismus der Ideologie ist.
Erlauben wir uns einen kleinen Rückblick: Als die Hochschulgruppe der FDJ an der Universität München sich 1950 den Namen „Geschwister Scholl“ gab, versuchte Inge Scholl, die Schwester von Hans und Sophie, das rückgängig zu machen. So schrieb sie an die Hochschulgruppe Briefe. Einer dieser Briefe wurde 1951 in der RIAS-Sendung „Studenten kommen zu Wort“ verlesen: „Sie können mich nicht glauben machen, dass Ihre Gruppe nicht mit dem Regime in der Ostzone in Einklang steht. Ihre propagandistischen Schlagworte beweisen es zu Genüge […] Selbst, wenn ich all das abstreichen würde, was über die politische Linie der FDJ in der westlichen Presse steht, würden mir die persönlichen Berichte von Freunden aus der Ostzone genügen, um festzustellen, dass der Name meiner Geschwister mit diesen Gruppen unvereinbar ist. Meine Geschwister waren Christen von einer tiefen, unerschütterlichen Überzeugung, dies wäre jedoch kein Grund, dass sich Andersdenkende ihnen verbunden fühlen könnten. Denn meine Geschwister waren sich bewusst, dass eine große Zahl von Überzeugungen und Meinungen in der heutigen Welt existieren und dass es uns auferlegt ist, in dieser Verschiedenheit zu leben, sie zu ertragen und zu achten. Sie waren Andersdenkenden gegenüber aufgeschlossen, suchten leidenschaftlich nach gemeinsamen Ansatzpunkten und achteten jede ehrliche und echte Überzeugung. Sie hatten in der tödlichen Gleichschaltung des Dritten Reiches eines begreifen gelernt, nämlich dass eine tiefe, wirkliche Toleranz allein das Leben in dieser Vielfalt von Meinungen möglich macht […] Nur gegen etwas kannten sie keine Toleranz, gegen jede Art von totalitärem Regime, welcher Farbe, welcher Nation und welchen Programms es sich immer bediente. Sie sahen in der Diktatur einen Feind des Lebens und die Bedrohung jeder lebendigen Entwicklung, sie misstrauten tief jeder Weltanschauung und jedem Staat, der um scheinbar höherer, gemeinschaftlicher Ziele willen auch nur ein Menschenleben bewusst zerstört.“ Die Gegnerschaft gegen die Diktatur von rechts rettet nicht vor einer Diktatur von links und vice versa – man kann auf beiden Seiten vom Pferd fallen.
Der junge Rostocker Herbert Belter äußerte als Angeklagter vor dem sowjetischen Militärtribunal in Dresden im Januar 1951, dass er sich „illegal“ betätigt habe, weil er „unzufrieden war mit der Situation an der Leipziger Universität, wir hatten keine Gewissensfreiheit, keine Redefreiheit und keine Pressefreiheit. Die Leipziger Universität ist eine Volksuniversität, ist Teil der DDR, und wenn die Studenten keine Freiheiten hatten, waren wir unzufrieden mit der Situation in der DDR. Wir kämpften für die Verfassungsrechte an der Universität, da die Universität eine Festung der Wissenschaft in der DDR ist.“ Herbert Belter, Mitglied der SED, entschloss sich zum Widerstand gegen die Regierung, weil sie ihr Versprechen brach, dass im Oktober 1950 demokratische Wahlen zur Volkskammer stattfinden sollten, doch stattdessen fanden sich die demokratischen Parteien der Mitte, SED, CDU, LDPD, NDPD, DBD und die sogenannten Massenorganisationen wie bspw. FDJ oder VdGB (Verein der gegenseitigen Bauernhilfe) usw. zur Nationalen Front des demokratischen Deutschlands zu einer Einheitsliste zusammen – und die Plicht eines Demokraten bestand darin, diese Einheitsliste zu wählen.
Während ich Belters Worte lese, drängen sich mir Sätze aus dem Koalitionsprogramm von Union und SPD auf: „Gezielte Einflussnahme auf Wahlen sowie inzwischen alltägliche Desinformation und Fake News sind ernste Bedrohungen für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ Wer also Meinungen hegt, die man verfolgen will, weil sie dem „gesellschaftlichen Zusammenhalt“, der Einheit zwischen Volk und Regierung, der höheren Moral schaden, wer davon überzeugt ist, dass „es uns auferlegt ist“, wie Inge Scholl so schön schrieb, die „große Zahl von Überzeugungen und Meinungen“, die „in der heutigen Welt existieren“, „in dieser Verschiedenheit zu leben, sie zu ertragen und zu achten“, bedroht die Demokratie? Das wäre Orwell in Reinkultur: Wer für die Meinungsfreiheit eintritt, bedroht die Meinungsfreiheit, wer, wie es im ÖRR inzwischen heißt, „meckert“, wer Diskussionsorgien anzettelt, bedroht die Demokratie? Wird also Kritik an der Regierung künftig nur nach der Maßgabe der Regierung gestattet, weil alles andere „gezielte Einflussnahme, Desinformation und Fake News sind“? Entscheidet die Regierung über die Wahrheit, schafft sie sich im neuen Familienministerium ein Wahrheitsministerium? Witze, politische allzumal, die nicht die „Meckerer“, die „Hetzer“, die „rechten Populisten“, sondern die Regierung und Friedrich Merz oder Lars Klingbeil zum Ziel haben, wird man dann wohl verbieten. Denn wie heißt es im Koalitionsvertrag: „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“ Doch der Witz ist die ästhetische Form der „falschen Tatsachenbehauptung“, und ihn zu erzählen, stellt ihre „bewusste Verbreitung“ dar. Kann man wieder wegen eines Witzes verurteilt werden? Ein Journalist wurde es vor kurzem, ein Rentner auch.
Allen Liebhabern der Diktatur ins Stammbuch geschrieben: Auch die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit gedeckt! Martin Luther hatte es für jetzt und alle Zeit bündig beschrieben: „Denn Ketzerei kann man nimmer mit Gewalt wehren. Es gehört ein anderer Griff dazu, und es ist hier ein anderer Streit und Handel als mit dem Schwert. Gottes Wort soll hier streiten; wenn’s das nicht ausrichtet, so wird’s wohl von weltlicher Gewalt unausgerichtet bleiben, wenn sie auch gleich die Welt mit Blut füllte. Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man mit keinem Eisen zerhauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken.“ Merz und Klingbeil, Prien und Esken, all den wackeren Helden der Mauerkoalition sei, vor allem wenn sie sich im Besitze der Wahrheit dünken, mit Martin Luther gesagt: „Es wäre jedenfalls viel leichter, wenn ihre Untertanen schon ir- reten, dass sie sie schlechthin irren ließen, als dass sie sie zur Lüge und anders zu sagen nötigen, als sie es im Herzen haben. Es ist auch nicht recht, dass man Bösem mit Ärgerem wehren will.“
Hinzu kommt, dass die künftige Regierung sich anmaßt, darüber zu entscheiden, was eine falsche Tatsachenbehauptung ist: „Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können.“ Staatsfern mag die Medienaufsicht zwar sein, aber nicht regierungsfern, nicht demokratieparteienfern, denn über deren personelle Zusammensetzung entscheiden letztlich die Parteien in den Parlamenten. Robert Habeck einen „Schwachkopf“ zu nennen, gilt als Hetze, Alice Weidel als Nazischlampe zu beschimpfen als Satire.
Natürlich muss zur Perfektionierung der Zensur, der „Digital Services Act (DSA) … stringent umgesetzt und weiterentwickelt werden, systemisches Versagen muss in einem abgestimmten Verfahren mit der EU-Kommission Konsequenzen haben“. Wahlen kann man, siehe Rumänien, wenn die Ergebnisse nicht genehm sind, für ungültig erklären, weil „unsere Menschen“ von der Desinformation der Feinde verführt wurden. Zwar hatte die Union vor der Wahl Fragen zur Staatsfinanzierung der NGOs gestellt, doch beantwortet die Union nach der Wahl die Fragen nun selbst, weil sie die Finanzierung der roten und grünen NGOs noch vergrößern wird: „Wir bauen die Forschung zu Desinformationsaktivitäten aus“, heißt es beispielsweise. Die Freiheit der Literatur und des Buchmarkts werden massiv dadurch eingeschränkt, dass ein Subventionsmarkt für Verlage mit rotgrüner Ausrichtung geschaffen wird: „Zur Sicherung der Vielfalt auf dem Buchmarkt werden wir mit den Ländern eine strukturelle Verlagsförderung prüfen.“ Weshalb muss man Vielfalt eigentlich prüfen? Warum soll ein Funktionär und nicht der Markt entscheiden?
Wer die Vielfalt überprüfen will, hat nur ein Ziel, die Herstellung der Einfalt, des Monolithen, wie es Stalin vorschwebte. Schließlich darf man „unsere Menschen“ nicht überfordern. Wie sang die Gruppe Renft, die dann auch verboten wurde: Das Leben ist ein Lotto Schein/auf dem der Funktionär die Kreuze macht.“ Auch die Wissenschaftskommunikation soll künftig gesteuert und ideologisch überwacht werden: „Wir gründen eine unabhängige Stiftung für Wissenschaftskommunikation und -journalismus.“ Denn: „Was die Feinde der Demokratie angeht, gilt der Grundsatz ‚Null Toleranz‘.“ Und wer der Feind unserer Demokratie ist, bestimmen natürlich wir. Hatten nicht die damaligen Koalitionäre, als die Koalition sich noch gerade so „groß“ nennen durfte, die sich nun nerneut anschicken, eine Koalition zu bilden, selbst und bewusst falsche Tatsachen während der Pandemie verbreitet, als sie die Laborthese wider besseres Wissen leugneten und sogar auf diejenigen Druck ausübten, die diese These zur Herkunft des Virus vertraten? Schon damals war dem BND die Wahrheit bekannt. Doch statt sich daran zu erinnern, sich an die eigene immer länger werdende Nase zu fassen, heißt es weiter: „Es ist die gesamtstaatliche und gesellschaftliche Verantwortung, jedweder Destabilisierung unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung entgegenzuwirken und dabei auch unsere Sicherheitsbehörden nicht allein zu lassen. Wir schützen die demokratische Integrität unserer Parlamente, des öffentlichen Dienstes und der Justiz.“ Die alte „revolutionäre Wachsamkeit“ ist zurück, denn der Feind schläft nicht und unterwandert mit Bits und Bytes „unsere Demokratie“ und unsere „Freiheit“. Die Demokratie und die Freiheit, die Deutschlands dysfunktionale Eliten gekapert haben, sie gehört jetzt ihnen, wie das Possessivpronomen anzeigt.
„Wem eine wirklich glückliche Zukunft unseres Volkes am Herzen liegt, muss diesem Gesetz vorbehaltlos zustimmen. Aufgabe des Gesetzes ist es, einen rücksichtslosen Kampf gegen alle Schädlinge, Saboteure und Banditen zu führen und damit unsere demokratische Entwicklung, unsere Friedenswirtschaft und unseren Wirtschaftsplan zu sichern.“ So sagte es Minister Steinhoff, SED, vormals SPD in der Volkskammer 1950 zur Begründung des Gesetzentwurfes zur Schaffung des Ministeriums für Staatssicherheit. Das Gesetz wurde übrigens auch mit den Stimmen der CDU angenommen. Im Koalitionsprogramm heißt es: „Wir sind überzeugt, dass wir verstärkt in die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie investieren müssen. Wir unterstreichen die Bedeutung gemeinnütziger Organisationen, engagierter Vereine und zivilgesellschaftlicher Akteure als zentrale Säulen unserer Gesellschaft. Die Unterstützung von Projekten zur demokratischen Teilhabe durch das Bundesprogramm ‚Demokratie leben!‘ setzen wir fort … Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle wird fortgesetzt.“
Bereits der römische Satiriker Juvenal stellte die höchst sinnreiche Frage: „Aber wer bewacht die Wächter?“ Wovor fürchtet sich die kommende Regierung eigentlich, wenn sie immer mehr Volksüberwachungsinstitute und immer mehr Volksüberwachungsrichtlinien schafft? Vor dem Volk? Richter und Instanz kann hingegen keine Institution, sondern nur der faire und öffentliche Diskurs sein, die res publica bedarf der öffentlichen Verhandlung. So darf ich also noch einmal an die mutigen Worte Herbert Belters erinnern, die er vor dem sowjetischen Militärtribunal in Dresden im Januar 1951 sagte, dass er sich „illegal“ betätigt habe, weil er „unzufrieden war mit der Situation an der Leipziger Universität, wir hatten keine Gewissensfreiheit, keine Redefreiheit und keine Pressefreiheit.“
Gegenwärtig arbeite ich an einem Buch zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit. Immer wieder verblüfft und erschreckt mich, wie oft ich auf Begrifflichkeiten, auf Argumentationsmuster und Redefiguren stoße, die ich nur mit wenigen Variationen heute wieder vernehme. Das Schüren von Ängsten, die Beschwörung der Feinde, die an allem, was schlecht oder schief läuft, die Schuld tragen, selbst die eigenen Fehler werden zu Resultaten von Feindestätigkeit erklärt.
Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass, fiel die Kartoffelernte schlecht aus, die Amerikaner dafür verantwortlich waren, weil sie aus hochfliegenden Flugzeugen Kartoffelkäfer abwarfen. Doch aus Erfahrung sollten wir sehr misstrauisch werden, wenn der Feind propagiert wird als Verursacher gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Probleme.
Vor allem aber gilt eins: Dort, wo man nicht mehr rechts sein darf, befindet man sich bereits in einer linken Diktatur, und dort, wo man nicht mehr links sein darf, befindet man sich in einer rechten Diktatur. Demokratie heißt, dass der faire Wettstreit der Ideen, Vorschläge und Konzeptionen für die gesellschaftliche Entwicklung um Mehrheiten in der gesamten Bandbreite politischer Standpunkte und Überzeugungen geführt wird. Er setzt eine Gesellschaft voraus, die wirklich vielfältig ist.
Herbert Belter war kein „Rechter“. Er gehörte sogar der SED an – und dennoch empörte ihn, dass die angekündigten Wahlen von 1949, die gleich nach der Gründung der DDR stattfinden sollten, auf das Jahr 1950 verschoben wurden, um sie dann als sogenannte Blockwahl abzuhalten, die als reine Farce stattfand. Man konnte nur die Parteien der Nationalen Front wählen, so wie einem heute nahegelegt wird, dass man nur für die Parteien des Demokratischen Blocks, für die Parteien, die sich selbst noch in unbewusst kabarettistischer Steigerung die „demokratischen Parteien der Mitte“ nennen, votieren darf. Doch mit der Wahl der Nationalen Front bekam man immer die Politik der SED, wie man mit der Wahl der „demokratischen Parteien der Mitte“ immer eine rotgrüne Politik bekommt, auch wenn der Kanzler Friedrich Merz heißt, oder gerade dann.
Sophie Scholl war keine „Linke“. Gegen die Diktatur der Nationalsozialisten leistete sie Widerstand, weil sie es als ihre Pflicht als Mensch und als Christin ansah. Weil sie nicht links war, stufte sie ein linker Autor aus kommunistischem DDR-Adel als „ideologisch fragwürdig“ ein.
Die erinnerungspolitische Bedeutung, das Entstehen und die Wirkung der kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland zu erforschen, wachzuhalten und darzustellen, kann daher kaum überschätzt werden. Die große Aufgabe und der Sinn von Erinnerungskultur besteht darin: den Opfern ihre Würde und ihre Geschichte zurückgeben, damit die Späteren dafür sensibilisiert werden können, „wo das alles hinführt“ oder hinführen kann.
Was wir erinnern wollen, ist, wo sich Menschen als Menschen verhalten haben und wo nicht, und was Freiheit und Demokratie kosten. Damit ist zugleich gesagt, dass eine abstrakte Erinnerungskultur eine contradictio in adjecto ist, sie darf kein Alibi oder eine akademische Eitelkeit sein, sondern muss konkret, muss biografisch präzise vorgehen, wenn sie eine Kultur des Erinnerns sein will und nicht nur Fundus für wohlfeile Sonntagsreden. Ihr Gegenstand sind Menschen, deren Lebensgeschichte sie zu erzählen hat, Menschen wie Sophie Scholl und Herbert Belter. Aber erst dann, wenn der Ostdeutsche Herbert Belter so bekannt ist wie die Süddeutsche Sophie Scholl, können wir wirklich in Deutschland von einer vollständigen Erinnerungskultur reden.
Es scheint so zu sein, dass diejenigen, die gegen das nationalsozialistische Regime Widerstand geleistet haben, ganz anders in unserer Erinnerungskultur beheimatet sind als diejenigen, die sich gegen den Kommunismus stellten und dafür ebenfalls mit dem Leben oder langen Haftstrafen bezahlten. Messen wir die beiden deutschen Diktaturen in unserer Erinnerungskultur mit unterschiedlichem Maß?
Konkreter gefragt, gewichten wir die Opfer der beiden Diktaturen unterschiedlich? Ist es bestimmten politischen Kräften gelungen, die kommunistische Diktatur, den linken Totalitarismus im Zuge der Bereinigung ihres politischen Erbes zu verharmlosen? Und droht deshalb in zeitgemäßer Form ihre Auferstehung, die wie jede Diktatur auf Repression und Unterdrückung, auf Vermassung, auf Kollektivismus und Konformismus beruht, darauf, dass das Recht nur eine Funktion der Macht, wie auch das Individuum nur Eigentum des Staates, einer höheren Moral ist?