
Stillstand. Eingefrorene Bilder, eingefrorene Zeit. Das Alte weg, das Neue noch nicht da. So sieht man vielfach auf die Zeitenwende, die sich mit den Panzern der Amerikaner von Westen und vom Osten mit den Kolonnen der Roten Armee durch Deutschland wälzt, bis im Mai überall das Schießen aufhört, die Hakenkreuze verschwinden – und wie es weitergeht, ist offen. Aber Menschen haben keine Auszeit.
Das Leben geht weiter, irgendwie. Von der „Niemandszeit“ war die Rede, von der „Wolfszeit“, in der „der Mensch dem Menschen zum Wolf“ geworden war, in der sich jeder nur um sich selbst oder sein Rudel kümmerte.
Aber wie haben die Menschen tatsächlich gelebt?
Auf der Straße. Über die Hälfte der Menschen in Deutschland waren nach dem Krieg nicht dort, wo sie hingehörten oder hinwollten, neun Millionen Ausgebombte und Evakuierte, vierzehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, zehn Millionen entlassene Zwangsarbeiter und Häftlinge, Abermillionen Kriegsgefangene, die schrittweise entlassen wurden, „DPs“ im denglischen Jargon, „Displaced Persons“, Verschleppte, Versprengte, Entkommene, Übriggebliebene, früher Mächtige, die jetzt Versteckte suchten oder der eigenen Vergangenheit entkommen wollten.
Menschen lebten in Ruinen, Zügen, Zelten, Barracken und Nachtclubs. Das ist das Faszinierende an dem Buch von Harald Jähner mit dem Titel „Wolfszeit“, der nicht nur das Elend beschreibt, er besingt das Leben neben dem Tod, in den Ruinen, in der Verzweiflung. Er beschreibt die Tanzlokale, in denen schon bald die Lebenslust tobt; woran es mangelt, sind richtige Männer, denn die sind verschollen, verkrüppelt oder im Lager irgendwo in Europa oder Sibirien.
Aber die Mädchen tanzen. „Hört man genauer hin, vernimmt man das Lachen. Durch das gruselig entvölkerte Köln führt 1946 schon wieder ein spontaner Rosenmontagszug“: Man wundert sich, ahnt aber, dass dort vermutlich mehr Lachen war als bei den bierernsten Honoratioren-Veranstaltungen heute im überheizten Gürzenich, der wiederaufgebauten Festhalle des amtlichen Karnevals.
Gute Bücher sind zeitlos. „Wolfszeit“ – bereits 2019 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet – ist so eines. Gerade jetzt, 80 Jahre nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands, nach der Befreiung der Überlebenden in den Konzentrationslagern, der Konfrontation mit der Schuld und ihrer Verdrängung, nach der gewaltigsten Binnenmigration, die Deutschland je erlebt hat, nach Hungerwintern, hamstern, fringsen, durchschlagen und „Rama Dama“, ist ein goldrichtiger Zeitpunkt, sich mit der Zeit unmittelbar nach Kriegsende und dem darauf folgenden Jahrzehnt zu beschäftigen.
„Wolfszeit“ hat Harald Jähner diese Dekade und sein Buch darüber benannt und der Begriff weckt sofort zutreffende Assoziationen. Ihm ist eine große Mentalitätsgeschichte dieses rauen, wilden Jahrzehnts von der „Stunde Null“ bis zum „Wirtschaftswunder“ gelungen, das entscheidend für die Deutschen war und in vielem ganz anders, weitaus vielfältiger, als wir heute oft glauben.
Zitat aus dem Vorwort (hier in Gänze als „Kostprobe“ – für die Lektüre des gesamten Buches zu lesen):
„Unser Eindruck von den Nachkriegsjahren ist geprägt von der Sicht der damals Jungen. Die Empörung der antiautoritären Kinder über die nur unter größten Schwierigkeiten zu liebende Elterngeneration war so groß, ihre Kritik derart eloquent, dass der Mythos vom alles erstickenden Muff, den sie erst einmal zu vertreiben hatten, das Bild der fünfziger Jahre noch immer dominiert, trotz differenzierter Forschungsergebnisse. Die Generation der um 1950 Geborenen gefällt sich in der Rolle derer, die die Bundesrepublik bewohnbar gemacht und die Demokratie mit Herz erfüllt haben, und sie belebt dieses Bild immer wieder auf Neue.
Tatsächlich konnte einen die starke Präsenz der alten NS-Elite in den Ämtern der Bundesrepublik mit Abscheu erfüllen, desgleichen die Hartnäckigkeit, mit der die Amnestierung von NS-Tätern durchgesetzt wurde. Dass die Nachkriegszeit dennoch kontroverser, ihr Lebensgefühl offener, ihre Intellektuellen kritischer, ihr Meinungsspektrum breiter, ihre Kunst innovativer, der Alltag widersprüchlicher war, als die Vorstellung von der Zeitenwende 1968 es bis heute glauben macht – das war während der Recherche für dieses Buch immer wieder zu entdecken.“
„Wolfszeit“ ist eines meiner Lieblingsbücher der letzten Jahre. Es ist schonungslos ehrlich, manchmal grausam, wenn es zum Beispiel die Hilfsmittel benennt, deren sich Männer bedienen mussten, um die zerstörte Lust zu simulieren. Es zeigt aber auch, dass das Leben weitergeht, anders, irgendwie, und ständig stellt sich die Frage: Wo haben diese Millionen unterwegs geschlafen? Was haben sie gegessen? Was hat sie aufstehen lassen am Morgen, feucht, kalt, grau, ohne den Weg zu kennen, außer dem, überleben zu wollen?
„Ich will nicht bezaubernd sein, ich brauche Geld“, verkündet die junge Abiturientin in dem Film „Morgen ist alles besser“ von 1948 einem älteren Herrn, der sie anmacht auf eine Art, die heute als sexualisierter Übergriff geahndet werden würde. Der Körper wurde zur letzten Tauschware gegen eine Überlebensration – und die kräftigen GIs mit Lucky Strikes konnten lachen, verhießen Lebenslust und Leichtigkeit. Es war die Zeit der illusionslosen Frauen, die irgendwie Kinder und Eltern durchbringen mussten, während der Wartezeit auf Männer, die demoralisiert, traumatisiert, verkrüppelt waren, die Gewalt um sich verbreiteten (deren Opfer auch sie geworden waren).
Übergriffige Soldaten, Massenvergewaltigungen, massenhafte Abtreibungen, herumziehende Kriminelle, Veteranen ohne Zuhause, entlassene Zwangsarbeiter mit Rache im Bauch und Männer mit Dachschäden aller Art machten den Alltag für Frauen lebensgefährlich. Irgendwie haben sie überlebt.
Am Anfang war das Chaos. Aber diese Schöpfungsgeschichte ist bislang kaum beschrieben. Ihre Akteure, die Frauen, die klauenden Kinder, die kaputten Väter, die Heimatlosen, die Verkrachten, die Vertriebenen, die Herumirrenden, nicht mehr viele können erzählen, es wird verdrängt.
Aber es war der Anfang des Landes, in dem wir so feist und fett und abgesichert leben auf dem erlebten und verschwiegenen Elend einer Generation – über die streng geurteilt wird, und meistens vernichtend.
Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 10. Auflage, November 2024, 480 Seiten, mit zahlreichen schwarzweiß Fotos, 20,00 €.