Die drei Gründe für das Merz-Desaster

vor etwa 5 Stunden

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Bildquelle: NiUS

Wann immer Friedrich Merz scheitert, ist Angela Merkel nicht weit. Sie stellte ihn 2002 als Unionsfraktionschef kalt, verhinderte zweimal erfolgreich seine Wahl zum CDU-Vorsitzenden und saß am Dienstag auf der Besuchertribüne im Reichstag als Merz nur Sekunden und Millimeter vom Griff nach der Macht in Deutschland entfernt brutal scheiterte.

Angela Merkel verfolgte Friedrich Merz’ Niederlage auf der Tribüne des Plenarsaals.

Doch diese persönliche Animosität beschreibt nicht einmal ansatzweise die ganze Dimension der verlorenen Kanzlerwahl, bei der nicht nur einige Zusatzstimmen fehlten, sondern alles in allem 18 mögliche Stimmen der neuen Koalition und sechs Stimmen zur mindestens nötigen Kanzlermehrheit. Es war ein Misstrauensvotum vor Amtsantritt, von dem sich ein Regierungsbündnis eigentlich nicht mehr erholen kann. Zu tief sitzt das Misstrauen der Union gegenüber der SPD, bei nächster Gelegenheit, den Kanzler wieder auflaufen zu lassen.

Was wir in diesen Stunden erleben, ist eine Zäsur in der Nachkriegsgeschichte, deren Tiefe und Härte sich viele vermutlich noch gar nicht klarmachen: Es ist der jetzt auf offener Bühne zutage tretende Abschied von der alten Bundesrepublik, in der die Züge pünktlich fuhren, weltbeste Autos gebaut wurden und eine freiheitliche Demokratie in großzügigen Bahnen lief, auf die man sich blind verlassen konnte. Absprachen waren Absprachen, Koalitionen konnten brechen, scheiterten aber nie schon beim ersten Anlauf. Deutschland war ein Land, auf das Verlass war.

Friedrich Merz gratuliert Annegret Kramp-Karrenbauer nach ihrer Wahl zur CDU-Vorsitzenden.

Wie schon 2018, als Merz zum ersten Mal nach dem CDU-Vorsitz griff und beim Hamburger Parteitag mit seinen externen Beratern siegesgewiss in die Halle einzog, um dann gegen Annegret Kramp-Karrenbauer durch eine miserable Rede und unterschätzte Strippenzieher des Establishments zu verlieren, so scheitert Merz auch diesmal an seiner sträflichen und vor allem leichtsinnigen Siegesgewissheit. Die Basis der Union trug ihn damals in Hamburg schon, die im Saal versammelten Funktionäre folgten der Regie von Merkel. Diesmal war es wohl der allzu breitbeinig agierende SPD-Chef Lars Klingbeil, dem die Regie entglitt. Sollte sie ihm nicht „entglitten“ sein, wäre es ein Hinterhalt historischen Ausmaßes.

Drei Dinge sind entscheidend für das Merz-Debakel am Dienstag und den Triumph der Merz-Mörder: Das naive Vertrauen des Kanzlerkandidaten gegenüber der SPD, die selbst immer wieder liebevoll und grob fahrlässig gepflegte Brandmauer und das völlig unterentwickelte Verständnis für den aktuellen Kulturkampf und seine Militanz.

Bei der SPD hätte Merz gewarnt sein können, als kurz vor Weihnachten plötzlich eine Parlamentariergruppe linker Abgeordneter einen Antrag zur Abschaffung des Abtreibungsparagraphen 218 auf den Weg bringen wollte, obwohl Merz im Ältestenrat des Bundestages eine Kooperation der „demokratischen“ Kräfte der Mitte verkündet hatte, als Kungelrunde der Etablierten darüber, was im Plenum beraten wird und was mit Blick auf das Abstimmungsverhalten der AfD unterlassen werden sollte. Merz wollte einen Pakt mit den vermeintlich verbündeten demokratischen Kräften schließen, die in Wahrheit gar nicht daran dachten und stattdessen ihre ideologischen Geschütze auf das Herzstück des christlichen Menschenbildes der Union richteten. Das Machtvakuum nach dem Ende der Ampel wollten sie für die Abschaffung des Paragraphen 218 nutzen, um den Bürgerlichen endlich die Deutungshoheit über das beginnende Leben aus der Hand zu nehmen.

Ein erster Tiefschlag, der hätte zu denken geben können und müssen, wenn man über ein intaktes politisches Alarmsystem verfügt. Stattdessen verschenkte Merz später noch Milliardenschulden vor jeglichen Zugeständnissen an die SPD, ließ die berechtigten Fragen zur Finanzierung politischer NGOs freundlich versacken und hatte auch kein Problem damit, dass der Koalitionsvertrag einen penetrant sozialdemokratischen Charme versprüht.

Das Desaster der verlorenen Kanzlerwahl wird umso dramatischer, weil die Union bis zuletzt jeglichen strategischen Weitblick hatte vermissen lassen und nicht einmal ansatzweise Annäherungssignale an die AfD aufkommen ließ. Wer auf Gedeih und Verderb an einen Partner gebunden ist, landet in einer Sackgasse der Abhängigkeit, an deren Ende eine unüberwindliche Brandmauer steht. Nicht zuletzt mit Hilfe des jüngsten Gutachtens des Verfassungsschutzes haben die Gegner der Union diese Brandmauer immer höher gezogen, sodass sie nun kaum noch abzutragen ist, schon gar nicht kurzfristig. Die Union sitzt in der Falle.

Dass so viele Genossen am Dienstag gegen Merz stimmten, hat aber auch damit zu tun, dass Merz die Härte und die Unversöhnlichkeit des Kulturkampfs und der gesellschaftlichen Debatten nie wirklich zur Kenntnis genommen und verstanden hat. Er ist in einer Zeit sozialisiert, in der die Linke auch schon mit Geschlechter-, Homo- und Feminismus-Debatten kamen, sich all dies aber noch als „Gedöns“ (Gerhard Schröder) beiseiteschieben und ignorieren ließ. Merz und große Teile der Unionsspitze haben nicht verstanden, dass die großen Demonstrationen „gegen Rechts“ immer auch die Union mit meinten, dass es in Teilen der SPD nicht nur politische Meinungsverschiedenheiten sind, die die Parteien trennen, sondern CDU/CSU und Merz selbst ein regelrechter Hass entgegenschlägt. Nur so ist zu erklären, dass selbst Reste von Fraktionsdisziplin nicht mehr vorhanden waren und Merz scheiterte.

Am Vortag der Kanzlerwahl waren Lars Klingbeil und Friedrich Merz noch siegessicher.

All das geht in der Wirkung weit über die persönliche Karriere von Friedrich Merz hinaus. Es trifft die politische Stabilität des europäischen Kernlandes Deutschland ins Mark, ganz gleich, ob sich die missliebigen Partner im nächsten Wahlgang doch noch zusammenraufen oder nicht. Neuwahlen würden vermutlich noch instabilere, noch schwierigere Konstellationen ergeben. Eine linke Mehrheit für einen Kanzler Klingbeil im dritten Wahlgang ist nach wie vor nicht ausgeschlossen, weil Merz im Grunde nicht einmal antreten dürfte, wenn er nicht Gefahr laufen will, mit den Stimmen der AfD zum Kanzler gewählt zu werden. Wie man es dreht und wendet: Die Union ist dem guten Willen der SPD ausgeliefert. Deutschland, das Merz wieder zu einem verlässlichen Spieler auf der internationalen Bühne machen wollte, strauchelt, weil es zu lange glaubte, die neuen Mehrheiten nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Unklare Machtverhältnisse sind in einer turbulenten Welt das letzte, was die Deutschen, was Deutschland, Europa und seine Verbündeten jetzt gebrauchen können. Es gilt auch hier der alte Gorbatschow-Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

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