
Müsste man nicht tiefes Mitleid mit Deutschland empfinden, das wieder in den Niedergang, in Kämpfe und Wirren taumelt, nicht weil Russland die Ukraine angegriffen hat, sondern weil Freiheit, Wohlstand und Demokratie von innen her, von dysfunktionalen Eliten zerstört werden? Müsste man dieses Mitleid für ein narzisstisches Bürgertum aufbringen, das wirklichkeitsblind die eigenen Illusionen mit der Realität, Gefühlchen mit Verstand sowie Gesinnung mit Argumenten verwechselt?
Der larmoyante und deshalb dekuvrierende Essay von Lisa Seelig vor kurzem in der ZEIT ist nur deshalb erwähnenswert, weil er – gewollt oder ungewollt – das Taumeln der rotgrünen Eliten im Irrgarten der Gesinnungen wie in einer Folge der Lindenstraße zeigt. Wie sehr die verunsicherte Autorin sich selbst und ihr Milieu überschätzt und auf alle anderen Menschen in diesem Land herabblickt, bringt sie in einem Satz auf den Punkt: „Unser Milieu zieht keine Kämpfer heran, sondern Denker. Verwalter. Lenker.“
Herren-Menschen also, geboren zum Herrschen, zum Denken, zum Dichten, geboren dazu, von der Arbeit aller anderen in der Gesellschaft ernährt und reich gemacht zu werden. Der neue grüne Adel eben, der sofort die Schergen losschickt, wenn jemand es wagt, seiner Majestät zu lästern. Alice Weidel darf man „Nazischlampe“ nennen, Robert Habeck aber nicht „Schwachkopf“. Das ist Neu-Versailles neue Rechtsordnung, die genau besehen immer mehr zu einer Linksordnung wird.
Es stellt sich dabei nur die eine, nüchterne Frage: Wann hat Seeligs Milieu zum letzten Mal einen Denker herangezogen? Oder: hat es jemals einen Denker herangezogen? Mir fällt keiner ein. Meint Lisa Seelig etwa Jürgen Trittin? Robert Habeck? Marcel Fratzscher? Alena Buyx? Katharina Dröge? Patrick Graichen? Franziska Brantner? All die Helden der neuen grünen Welt. Offenbar zieht Seeligs Milieu keine Denker heran, sondern senkt nur kontinuierlich das intellektuelle Niveau herab.
Nun hat sich Seeligs Milieu, das zum Herrschen, zum Denken, zum Verwalten, zum Lenken geboren und herangezogen wurde, entschlossen, solange vom Krieg zu reden, von Kriegstüchtigkeit, von Kriegswirtschaft, vom Krieg überhaupt, bis er dann doch endlich eintrifft. Leute, die nie Wehrdienst geleistet haben, schwärmen plötzlich vom Krieg. Doch in der Pose des Wohnzimmerhelden erstarrt in Seeligs Essay plötzlich der gute Rotgrüne, weil ihm seine Kinder, vor allem seine Söhne in den Blick geraten und er sich in einem allerdings schnell vergehenden Moment fragt, ob dann auch nicht sein eigener Sohn kriegstüchtig werden müsste. Müsste dann nicht dieser Sohn, den er versucht hat, „zu einem feministisch denkenden, sanften Mann zu erziehen“, sein Kind, „das so zärtlich mit seiner jüngsten Schwester spielt; das auf seiner Stammposition im defensiven Mittelfeld auf dem Fußballplatz zuverlässig an sich selbst verzweifelt, weil es so viel Angst hat, jemandem mit einer Grätsche wehzutun; das eine schlaflose Nacht hat, wenn es vergessen hat, einem wichtigen Menschen Tschüss zu sagen“, in den Krieg ziehen?
Aber da die „Goldjungen“ des rotgrünen Milieus, die wenig, aber alles besser wissen zum Lenken und zum Denken, zum Verwalten und zum Herrschen bestimmt sind, bleibt die Hoffnung, dass „die Goldjungen aus unserem Milieu wohl eher Drohnen aus dem Hintergrund steuern oder einem Kommandostab angehören, als sich in den Häuserkampf zu werfen“. Und er hofft im Moment der Erstarrung, als die Wohnzimmerheldenpose ihm doch recht schwer wird: „Der Sohn wird eher nicht im Kampfeinsatz sterben, aber vielleicht irgendwann – töten?“ Was Seelig in dem Essay versucht, ist, den Widerspruch zwischen den markigen Worten über den Krieg und die Erfordernisse des Krieges in Einklang zu bringen, die kognitive Dissonanz der rotgrünen Bellizisten aufzulösen. Ihr redliches Bemühen führt schließlich dazu, dass sie ihrem Milieu einen Spiegel vorhält, in dem sie die rotgrüne Heuchelei einfängt.
Nein, an die Front, in den Grabenkampf, in den Häuserkampf, in den blutigen, in den dreckigen Soldatentod, hofft sie, ziehen nicht die Söhne aus ihrem Milieu, dafür sind die Söhne anderer Eltern dar, die Söhne aus anderen Milieus, die nicht zum Lenken und zum Denken, zum Verwalten und zum Herrschen herangezogen werden. Markus Lanz fragte letztens Katharina Dröge, ob sie ihre Kinder in den Krieg schicken würde? Und die Antwort von Katharina „Slawa Ukrainij“ Dröge war so klar und eindeutig, wie sie nur jemand aus Dröges Milieu formulieren kann: „Also über meine Familie möchte ich konkret wirklich nicht sprechen.“
Seelig gelingen mit geradezu masochistischer Präzision Genrebilder: „Ein Vater aus der Crémant-Runde, selbst in der heilen grünen Welt Freiburgs aufgewachsen und nun fast schon folgerichtig in Berlin gelandet, verzweifelt beinahe an dieser kognitiven Dissonanz: Ja, sagt er, angesichts der Bedrohung aus dem Osten müsse Europa nun mit Stärke reagieren, aufrüsten. Aber, fügt er mit bitterer Selbstironie hinzu, seine drei Söhne sollen damit doch bitte niemals je etwas zu tun haben müssen!“ Seelig fühlt sich plötzlich, wenn sie ihren Sohn ansieht, „abgeholt von diesen Zeilen wie noch nie in meinem Leben, das bisher so frei war von Bedrohungen, die plötzlich nah und unausweichlich wirken und die meine Familie und mich konkret betreffen“.
Die Zeiten waren noch nie friedlich. Vielleicht in ihrem abgehobenen Milieu, das so frei von Bedrohungen lebte, weil Bundeswehrsoldaten auch in Afghanistan – letztlich für nichts und wieder nichts – ihr Leben riskierten, ihre Gesundheit, ihr Leben gaben. Dafür wurden sie von Seeligs Milieu verspottet oder verachtet: „Wenn schon irgendjemand als Strauch verkleidet durch den Schlamm kroch, dann waren das im Zweifelsfall eher Bildungsferne und Rechte.“ Denn: „In unserer Jugend war es einfach, die Bundeswehr für einen von Nazis unterwanderten Saftladen zu halten.“
Seelig spricht über Wohlstand, über ein Milieu, das auf Kosten anderer zum Genießen, zum Wohlstand, zum Lenken und zum Denken und zum Verwalten geboren wurde, deren Heldentaten im Zivildienst und in den Märschen der Friedensbewegung bestanden. Sie lenkt zwar ein, „dass ich und die Menschen um mich herum nicht für dieses Land stehen, auch nicht dafür sprechen“, aber dann kommt doch wieder die Herren-Pose, denn: „wir sind aber ein guter Prüfstein: Was verändert sich hier gerade – und wie treten wir heraus aus jener Welt, die zumindest im Westen des Landes seit den Achtzigerjahren keine großen Brüche kannte.“
Wofür sollten die Rotgrünen denn ein Prüfstein sein? Wen repräsentieren sie denn außer Deutschlands dysfunktionale Eliten? Die Lebenslüge gehört zur intellektuellen Grundausstattung des rotgrünen Bürgertums, deshalb eilt es auf der Flucht vor der Wirklichkeit von einer Lebenslüge zur nächsten Lebenslüge. Vom Bildungsbürgertum, wie es sich gern selbst sieht, zu reden, verbietet sich beim Anblick des fortschreitenden Bildungsverlustes.
Jahrzehntelang gehörte der Pazifismus, gehörte die Verteufelung der Bundeswehr zum Glaubensbekenntnis des rotgrünen Bürgertums. Auf der Flucht vor der Elitendämmerung eilen die Rotgrünen im stupenden Tempo nun vom Pazifismus in den Bellizismus. Sie waren Dilettanten des Friedens, nun werden sie zu Dilettanten des Krieges, den sie in ihrer Mischung aus Ahnungslosigkeit, Narzissmus und Arroganz auslösen könnten, wie man an Baerbocks Agieren beobachten kann.
Wer mit dem Ausbruch des I. Weltkrieges, mit der Julikrise vertraut ist, der weiß, wie im Juli 1914 Europas Eliten aus Unfähigkeit und Überheblichkeit in den „Großen Krieg der Weißen Männer“ (Arnold Zweig) tänzelten, wie leicht ihnen die Worte von Krieg und Kriegstüchtigkeit von den Lippen gingen, bis er plötzlich da war, der Krieg. Lord Edward Grey blieb nur noch übrig, in London zu notieren: „In ganz Europa gehen die Lichter aus, und wir werden sie in unserem Leben nicht mehr brennen sehen.“
Und so kann das Nachdenken über die Gefahr, dass auch das eigene Eliten-Kind an so etwas Schmutzigem wie einem Krieg teilnehmen muss, auch nicht anders als in eitler Selbstbespiegelung enden. Es geht den Rotgrünen, dem herrschenden Milieu nicht um die Frage Krieg oder Frieden, sondern am Ende nur wieder um sich selbst, um das einzige, worüber sich ein dekadent-solipsistisches Milieu Gedanken macht: „Die Chancen stehen also nicht so schlecht, dass auch meinem Milieu seine persönliche Zeitenwende gelingt.“
Doch die Zeitenwende des Milieus könnte schnell zu unser aller Zeitenende werden. Das Milieu, das zum Wohlstand, zum Lenken und zum Denken und zum Verwalten geboren wurde, wird weder seine Selbstbezogenheit aufgeben noch seine Lebenslügen, sondern sie nur dem Zeitgeist entsprechend austauschen, Das ist alles. Es wird nicht seine Existenzweise verändern, sondern nur die Inhalte, ob Krieg oder Frieden, einerlei, fehlen wird weiterhin die Erkenntnis der Wirklichkeit, denn es ist nicht zum Erkennen, sondern zum Denken, zum Lenken und zum Verwalten herangezogen worden.
Vielleicht kann uns nur eine Elitendämmerung retten, bevor in Deutschland tatsächlich die Lichter ausgehen. Vielleicht sind ja nicht nur ihre Kinder zum Genießen, zum Lenken und Verwalten geboren. Man würde es Demokratie nennen.