
Die bürgerliche Mitte dankt ab. Reste ihres Selbstbehauptungswillens werden skandalisiert, wie jetzt bei der Wahl der Verfassungsrichter.
Der tollkühne Auftritt der Juristin Brosius-Gersdorf bei Lanz war wohl ein Schuss ins eigene Knie. Er bestätigte nur, dass sie zur höchstrichterlichen Instanz nicht taugt. Unentwegt zieht sie sich darauf zurück, doch „Wissenschaftlerin“ zu sein. Als rechtfertige dieses Etikett irgendetwas. Das weiß man – spätestens seit Corona – besser. Brosius-Gersdorf hält allen Ernstes ihre Positionen für „gemäßigt“. Wohl nach dem Motto: Ich bin das Maß aller Dinge, also kann mein Maß nur Mitte sein.
Diese vor Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit triefende Insassin eines Elfenbeinturms weist auf ein über ihren Fall weit hinausreichendes Problem hin. Es hat ja einen Grund, weshalb sie ihre fragwürdigen Ansichten (zum Verbot der AfD, zur Abtreibung, zur Impfpflicht, zu einem feministischen Wahlrecht etc.) ungeniert als aus der „Mitte der Gesellschaft“ entsprungen rechtfertigt. Es ist ein Treppenwitz, wenn ausgerechnet die auf ihr Elitewesen sich berufende Professorin sich auf die banale Mitte beruft. Das soll sie auch nicht. Sonst könnte man die Urteile des Verfassungsgerichts per Volksabstimmung fällen.
Mitte hat immer eine dreifache Bedeutung. Einmal im Sinne von Mehrheit, zum anderen im Sinne von Durchschnitt, drittens im Sinne maßvoller Vernunft. Im Idealfall demokratischer Meinungsbildung sind die drei Dimensionen deckungsgleich. So ist es aber nicht, seit der Mainstream von der linksgrünen Diskurshoheit geprägt wird. Die Parteien von Rot-Rot-Grün vereinten bei der vergangenen Bundestagswahl nicht mehr als 36,8 Prozent der Stimmen, kaum mehr als ein Drittel. Dennoch halten sie sich für den wesentlichen Teil der „demokratischen Mitte“. Auch das Verhalten der alles andere als mehrheitsfähigen Kandidatin belegt, dass sie Mitte nicht im Sinne von Maß und Vernunft versteht.
Und die CDU/CSU? In ihrer grenzenlosen Sehnsucht als Volkspartei, nicht anderes zu sein als der Inbegriff von Mitte, lässt sich immer weiter nach links ziehen, weil dort doch angeblich die Mitte zu finden ist. Mit dem Ergebnis, dass die ursprüngliche, die eigentliche Mitte automatisch als „rechts“ erscheint, als „rechts“ denunziert und am Ende auch delegitimiert wird.
Der Staat und seine der Überparteilichkeit verpflichteten Repräsentanten versuchen nicht einmal mehr, so etwas wie Ausgewogenheit zu garantieren. Stattdessen agiert der Staat heute vielfach als Scharfmacher im Kulturkampf der Linken. Er nennt es zum Beispiel „Demokratieförderung“. Das kann nur gelingen, weil die neue linke „Mitte“ im Kostüm der Moral daherkommt. Rechts ist dann nicht einfach das Gegenteil von Links, sondern schlecht, unzulässig und verwerflich. Die Moral der linken Demokraten drängt alle nicht linken Demokraten in eine Ecke. Links soll als alternativlos erscheinen. Rechte Opposition wird ausgegrenzt und ihre Zulässigkeit bestritten. Damit zerstört der so sehr beschworene „Konsens der Demokraten“ jede Konsensfähigkeit. Er spaltet.
Klar, dass die auf den letzten Metern gestoppte Verfassungsrechtlerin an der Verfassungswidrigkeit der AfD keinerlei Zweifel hat. Sie ist voreingenommen. In ihren Augen kann der Verfassungsschutz nicht von politischen Interessen geleitet irren. Mit anderen Worten: Die Verfassung hat nicht den Bürger vor dem Staat zu schützen, sondern den Staat vor der Meinungsfreiheit. Das ist der rote Faden im Denken der furchtlosen Juristin.
Aber wie gesagt: Sie ist nur Symptom der Krankheit, nicht die Krankheit selbst. Frau Brosius-Gersdorf wird benutzt von denen, die einen Kulturkampf führen. Insofern ist sie auch ein „Opfer“. Das wahre Opfer aber ist die Freiheit.