
In einem Punkt war sich die SPD dann doch einig. Einstimmig sprach sich der Berliner Parteitag für ein AfD-Verbot aus. Davon geht viel mehr Symbolik aus, als den Genossen lieb ist. Die sähen darin gerne ausschließlich einen Ausdruck ihrer Entschlossenheit im „Kampf gegen Rechts“. Wenn wir schreiten Seit an Seit und so. Doch der Antrag steht viel mehr für die Verzweiflung über die Ergebnisse der eigenen Politik. Die SPD will die Partei verbieten, die überhaupt erst so stark geworden ist, weil Deutschland in 23 der vergangenen 27 Jahren so schlecht regiert worden ist, wie es regiert worden ist. Die SPD ist wie ein Sünder, der nur die Folgen seiner Sünden bereut – die Problematik der Sünde aber gar nicht erst versteht.
Die SPD versteht nicht, warum sie in den letzten 27 Jahren ihre Wahlergebnisse mehr als halbiert hat. Warum die Partei, die sie jetzt verbieten will, an ihr vorbeigezogen ist. Um dieses Unverständnis zu belegen, hätte es den Berliner Parteitag zwar nicht gebraucht. Der hat diesen Job aber dennoch eindrucksvoll übernommen. Und er hat obendrein noch eins deutlich gemacht: Deutschland wird zwar von einer Konstellation regiert, die einst „große Koalition“ hieß und so mächtig war, dass ihre Kritiker in den ersten beiden Auflagen vom Schaden dieser Konstellation für die Demokratie der Bundesrepublik gewarnt haben. Aber nun ist die gleiche Konstellation so schwach, dass sie wichtige Abstimmungen im Bundestag verliert. Die schwarz-rote Koalition ist inhaltlich in weiten Punkten entleert und ihre Mehrheitsfähigkeit steht schon in Frage, nachdem noch nicht einmal die berühmten ersten 100 Tage Schonfrist abgelaufen sind.
Die schwarz-rote Koalition ist mit einer Abstimmungsniederlage in ihre Amtszeit gestartet, die in 76 Jahren Bundesrepublik keiner anderen Regierung zuvor unterlaufen ist: Sie konnte im ersten Wahlgang ihren Kanzler, Friedrich Merz (CDU) in dem Fall, nicht durchbringen. Mutmaßlich haben Sozialdemokraten ihm in der geheimen Abstimmung die Stimme verweigert. Nun stand die Aussetzung des „Familiennachzugs“ auf der Tagesordnung. In namentlicher, also öffentlicher Abstimmung. Einer der zentralen Kompromisslinien, die nötig sind, um CDU-CSU auf der einen und SPD auf der anderen Seite zusammenhalten. Zwei SPD-Abgeordnete haben gegen die Aussetzung gestimmt. Die Koalition steht noch, aber sie wackelt bereits. Die Abstimmung um den Familiennachzug zeigte ein Dilemma auf: Anders als bei Merz hätten SPD-Abweichler dieses Mal die Abstimmung gar nicht torpedieren können. Die Union hätte auch so eine Mehrheit für die Aussetzung gehabt – dank der Stimmen der AfD.
Machtpolitisch können die Genossen noch, für Inhalte haben sie jedes Verständnis verloren. Das zeigt sich an den Autoren des „Manifests“ um Ralf Stegner, die Wladimir Putin wie eine Art verkannten Michail Gorbatschow behandeln. Vor allem aber zeigt sich das in dem Problem, gegen das die Aussetzung des Familiennachzugs ein Teil der Lösung sein soll: die ausufernde illegale Einwanderung. Manche Genossen meinen wirklich, es brauche nur entschlossene Rhetorik – wenn wir schreiten Seit an Seit – und alle Probleme mit der Einwanderung ließen sich negieren. Doch die Sozialdemokraten, die Rathäuser und Landratsämter leiten, Schulen, Kitas oder Jobcenter, die wissen längst, wie stark diese Rhetorik vielleicht das Herz erwärmt. Doch wie weit sie von den Tatsachen vor Ort entfernt ist.
Kommunen, die immer mehr für immer größere Aufnahmelager ausgeben müssen. Überfüllte Kitas. Schulen, die nach einem Jahrzehnt Analphabeten ausspucken, weil ein Unterricht in Klassen nicht möglich ist, in denen die Schüler nicht die gleiche Sprache beherrschen. Eine Statistik, in der Jahr für Jahr weniger Deutsche als Langzeitarbeitslose auftauchen. In der aber die Gesamtzahlen trotzdem steigen, weil gleichzeitig mehr Ausländer Bürgergeld beziehen. Sie stellen mittlerweile rund die Hälfte der Empfänger. Fünf Milliarden Euro Kosten mehr als ohnehin schon erwartet fürs Bürgergeld. Allein in diesem Jahr. Allein im Bund. Und die einzige Antwort, die der SPD darauf einfällt, ist der Wunsch nach einem Verbot der AfD. Die auch deshalb so erfolgreich ist, weil sie als einzige Partei die Probleme mit der Einwanderung offen benennt. An der von der SPD vorgegebenen Rhetorik vorbei. Wenn wir schreiten Seit an Seit. Damit lassen sich Parteitage erwärmen. Außerhalb dieses geschlossenen Zirkels sorgt das nur noch für Kopfschütteln. Selbst die schon länger hier leben und deren Wurzeln aus der Türkei, Südeuropa oder der arabischen Welt stammen, schütteln den Kopf mittlerweile ob der deutschen Einwanderungspolitik.
Lars Klingbeil hat vom Parteitag nur 65 Prozent erhalten. Das schlechteste Ergebnis, dass die SPD je einem Vorsitzenden gab, der nicht wie Oskar Lafontaine in einer Kampfkandidatur antreten musste. Das war 1995. In Mannheim. Damals war Helmut Kohl seit 13 Jahren an der Macht und dem linken Lager zu einem schier unbesiegbaren Übergegner geworden. Von Lafontaines Wahl ging ein Signal aus. Von da an glaubte das linke Lager, Kohl besiegen zu können. Knapp drei Jahre später, bei der nächsten Bundestagswahl, war es tatsächlich so weit.
Von Klingbeils 65 Prozent geht auch ein Signal aus. Es sagt: Wir wissen, wie verheert wir und das Land nach 23 von 27 Jahren in der Regierung sind. Wir wissen ebenfalls, dass ein Apparatschik, der an alledem beteiligt war, auch keine Lösung ist. Aber wir haben keine anderen. Also lassen wir ihn weitermachen. Die SPD ist inhaltlich so erschöpft, dass sie sich nur noch an der Macht klammert und ansonsten darin einig ist, die Konkurrenz am liebsten verbieten zu wollen. Politische Schwarzarbeit. Wenn es keine Quittung für das eigene Versagen gibt, kann keiner nachweisen, dass es Versagen war.
In der schwarz-roten Koalition hat die SPD bisher eigentlich nur die angenehmen Momente hinter sich: allen voran die Vergabe von neuen Jobs und Dienstwagen. Obendrauf die Erfüllung des sozialdemokratischen Traums, endlich ungebremst staatliche Schulden aufnehmen zu dürfen. 850 Milliarden Euro zusätzlicher Schulden allein bis zum Ende der Wahlperiode. Dennoch ist die Partei nicht glücklich und straft in Klingbeil den Vizekanzler und Architekten dieser Konstellation ab.
Schon beim Verteilen des Geschenks ungebremster Staatsschulden zeigt sich nämlich, dass die SPD in 23 von 27 Jahren an der Bundesregierung keine Probleme gelöst, aber viele geschaffen hat. Das Land gibt auf einen Schlag 850 Milliarden Euro zusätzlicher Schulden aus. Halb so viele Schulden, wie sie neun Bundeskanzler und ihre Regierungen in 76 Jahren Bundesrepublik zuvor angesammelt haben. Und trotzdem geht eine entscheidende Gruppe leer aus: die Bürger mit niedrigen, mittleren und auch die mit guten Einkommen. Die mit ihrem täglichen Fleiß den ganzen Spaß finanzieren.
Seit Jahrzehnten sagen Parteien – allen voran die SPD – dass Leute mit niedrigen und mittleren Einkommen entlastet werden müssten. Vor der Wahl. Um danach dann zu sagen, dass dieses Mal leider das Geld gefehlt hat. Sogar trotz 850 Milliarden Euro neuer Schulden. Aber das Versprechen sei nicht vergessen. Bald werde man es wieder machen. Irgendeine Wahl ist ja immer.
Die Senkung der Stromsteuer würde die Normalverdiener ebenfalls belasten. Doch der Staat schlägt weiterhin bei ihnen voll zu. Entgegen der Einigung im Koalitionsvertrag hat Klingbeil als Finanzminister einen Entwurf des Haushalts vorgelegt, in dem nur ein Teil der Industrie niedrigere Steuern erhält. Damit hat er ein sozialdemokratisches Versprochen gebrochen. Doch nun sind es Christdemokraten, die diesen Punkt im Haushalt ändern und die niedrigeren Steuern trotzdem gewähren wollen: Kanzleramtsminister Thorsten Frei und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wüst. Die CDU führt die SPD schon wieder so vor, wie zu den besten Zeiten von Angela Merkel.
Doch der Entwurf des Finanzministers Lars Klingbeil ist die Summe dessen, was rauskommt, wenn man alle SPD-Rhetorik abzieht: weiterhin hohe Steuern für Leute mit niedrigen, mittleren und guten Einkommen. Weiterhin hohe Abgaben für die Sozialversicherung. Die für Krankenkassen werden bald moderat wachsen – die für die Rente in die Höhe schnellen. Nicht einmal die Senkung der Stromsteuer kommt für den normalen Bürger. Obwohl die SPD genau das vor weniger als 100 Tagen in einen Koalitionsvertrag schreiben ließ. Aber der ist letztlich auch nur Rhetorik. Geschwätz von gestern.
Die Wahrheit ist viel schlimmer für die SPD als ein einzelner Wortbruch: Das war mal das Rückgrat der SPD. Bürger mit niedrigen, mittleren und guten Einkommen. Sie haben die Genossen gewählt, weil die sich für sie eingesetzt haben. Und weil es für sie eine Aufstiegschance gab: Wer gut in der Schule war, konnte später mehr verdienen. Wer später mehr verdiente, hatte mehr, konnte sich ein Haus leisten, ein oder zwei Autos und Familienreisen. Diese Alltags-Utopie ist sozialdemokratischer Politik zum Opfer gefallen.
In Ländern, in denen die SPD regiert, ist das Bildungsniveau an Schulen am schlechtesten. In diesen darf niemand sagen, dass es in den Klassen nicht funktionieren kann, wenn die Schüler nicht die gleiche Sprache sprechen. Aber Probleme nicht behttps://www.tichyseinblick.de/wirtschaft/entwurf-des-haushalts-geld-fuer-bahn/nennen zu dürfen, mindert nicht die Wirkkraft von Problemen. Im Gegenteil. Es befördert sie. Deutsche Schulen spucken nach einem Jahrzehnt einen immer höheren Anteil an Analphabeten aus. Ganz besonders in sozialdemokratischen Ländern. Und wer es dann trotzdem schafft und im Job danach gut verdient, der hat nichts davon. Wer 5000 Euro brutto verdient, hat kaum mehr als wer 3000 Euro verdient. Der Abstand zu dem, was Empfänger von Bürgergeld haben, wird immer kleiner – und verkehrt sich mittlerweile ins Gegenteil. Vor allem in Städten wie Berlin, in denen sich die Mieten in den letzten zehn Jahren verdoppelt haben. Die Empfänger von Bürgergeld aber nicht zahlen müssen.
Vermieter haben potenzielle Mieter schon immer nach deren Beruf gefragt. Verständlich. Sie wollen wissen, ob derjenige solvent ist, mit dem sie ein Geschäftsverhältnis eingehen. Früher war es hilfreich, dem neuen Vermieter einen gut bezahlten Beruf angeben zu können. Heute hilft es, Empfänger von Bürgergeld zu sein. Der Arbeitnehmer kann sich eine Mieterhöhung vielleicht nicht leisten, der Staat zahlt, ohne mit der Wimper zu zucken. Nach 23 von 27 Jahren SPD in der Regierung ist es ein Vorteil, ein Langzeitarbeitsloser zu sein. Nur eines der vielen Symbole dafür, wie wenig nach dem Wirken der Genossen noch im Lot ist.
Die Genossen haben ihren Kompass verloren. Sie irren durch die Berliner Blase wie Verdurstende in der Wüste. Im Zusammenhang mit dem schlechten Ergebnis für Klingbeil „analyisierte“ die lange Radionacht der ARD, dass der SPD-Boss nun sozialdemokratische Themen setzen müsse. Als zwei von drei Beispielen gelten den Journalisten die Entwicklung der Wasserstoff-Strategie und die Förderung des E-Autos. Das ist mehr als journalistisches Versagen. Das ist Ausdruck für die Isolation der Blase. Da haben Politiker die Idee, das E-Auto sei ein Gewinnerthema. Da finden Journalisten das toll und da fühlen sich Politiker bestätigt, weil alle, mit denen sie darüber geredet haben, ihre Idee toll fanden. Eine Umfrage unter den ARD-Auszubildenden hat einst ergeben, dass Rot-Rot-Grün in dieser Gruppe eine Mehrheit von über 90 Prozent hätte – aber halt eben nur in dieser Gruppe. In der finden sich auch die Anhänger eines AfD-Verbotsverfahrens. Genossen und Journalisten verbindet der Wunsch, die Realität zu verbieten, weil ihnen diese nichts mehr Gutes bringt.
Die SPD ist schon nach weniger als 100 Tagen Regieren erschöpft. Obwohl sie sich bisher nur mit den schönen Sachen beschäftigt hat: Jobs vergeben und Geld ausgeben. Die eigentlichen Probleme haben sie in Arbeitskreise verschoben. Etwa die Finanzierung der Sozialversicherung. Kommission nennt sich dieser Kreis. Andere heißen Arbeitsgruppe, Runder Tisch, Gipfel… sind andere Begriffe für diesen politischen Kniff. Sozialdemokraten kennen mehr Worte für Arbeitskreise als Eskimos für Schnee.
Doch diese Laberrunden verschieben die Probleme nur. Drei Jahre hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD, was sonst) dem Anstieg der Kassenbeiträge zugesehen und die Beiträge für die Pflegekasse eigenhändig zweimal angehoben. Dass es jetzt einen Arbeitskreis – sorry, eine „Kommission“ – geben soll, die Lösungen findet, ist nur ein Beleg dafür, wie sehr die 23 von 27 Regierungsjahre der SPD eine schädliche Zeit für das Land waren.
Die Beiträge zur Sozialversicherung bezahlen die Betriebe und Beschäftigten mit ihren Abgaben auf den Lohn. Der Staat belastet sie, indem er seine eigenen Aufgaben mit ihrem Geld bezahlt. Etwa die Gesundheitsversorgung von Empfängern des Bürgergelds. Zehn Milliarden Euro klaut der Bund damit jedes Jahr den Betrieben und Beschäftigten. Nach Klingbeils Entwurf ist klar, dass der Bund entschlossen ist, den Beitragszahlern das Geld nicht nur nicht zurückzugeben – sondern sie weiter systematisch zu bestehlen. Der „Kommission“ wird also nichts übrigbleiben, als weitere Kürzungen der Leistungen vorzunehmen. Nach Brillen oder Zahnersatz. Arbeitnehmer zahlen hunderte von Euro jeden Monat. Sie zahlen immer mehr und erhalten immer weniger. Während es für Langzeitarbeitslose gratis eine Vollversorgung gibt. Zu den Schwerpunkten Lauterbachs gehörte die Idee der Gesundheitskioske. Den Arzt zu den Langzeitarbeitslosen zu bringen, die sich kulturell ungut fühlten, wenn sie den Arzt selbst besuchen müssen.
Nach 23 von 27 Jahren SPD-Regierung ist es in Deutschland ein Vorteil geworden, nicht zu arbeiten. Menschen mit niedrigen, mittleren und guten Einkommen wissen das. In keiner anderen Gruppe erreicht die AfD so gute Ergebnisse wie unter den Arbeitern und Arbeitnehmern mittleren Alters. Die SPD will die Zukunft gestalten, in dem sie den Wählern die Alternative verbietet und sie inhaltlich mit noch mehr Subventionen fürs E-Auto zurückgewinnen will. Wäre die Regierungsbeteiligung der SPD nicht so schädlich fürs Land, wäre sie lustig. Wie ein Komiker, der so absurde Sachen sagt, dass man nichts anders kann als lachen.