
„Die repräsentative Demokratie beruht darauf, dass sich die Bürgerschaft als Ganze repräsentiert fühlt und den politischen Akteuren zutraut, dass sie in ihrem Sinne handeln.“ So schrieb es der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin in seinem Buch „Cancel Culture. Ende der Aufklärung?“ im Jahr 2023. Es sagt viel aus über die Zeit, in der wir leben, dass Selbstverständlichkeiten einer politischen Ethik des gesunden Menschenverstandes mittlerweile zu einem Brennglas mutiert sind, in dem die schmutzige Wirklichkeit des politischen Betriebs in einem geradezu schmerzhaft grellen Lichtkegel erscheint.
Dass Friedrich Merz und seine CDU mit der Aufgabe der Schuldenbremse seine Wähler in einem atemberaubenden Ausmaß betrogen und damit deren Vertrauen missbraucht haben; dass sich ein ähnlicher Wählerbetrug nun auch abzeichnet bei der lebensgefährlichen und staatsgefährdenden Migrationspolitik. Diese politischen Inhalte verleiten leicht dazu, bereits wieder über die Demokratieverachtung hinwegzusehen, mit der die Grundgesetzänderung zur Einrichtung eines Sondervermögens ins Werk gesetzt wurde, nämlich mit einem bereits abgewählten Bundestag. Wie viel wurde in den Ampel-Jahren wohlfeil vom „Schutz unserer Demokratie“ gesprochen – und mit gröbster Demokratieverachtung endete genau diese Wahlperiode.
Kaum war klar, dass der Literaturwissenschaftler Robert Habeck sein Praktikum im Bundeswirtschaftsministerium beenden, die teuer geföhnte Völkerrechtsexpertin Annalena Baerbock nicht mehr die Außenministerin, Lisa Paus, die wie die meisten bei den Grünen glaubt, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, nicht mehr Familienministerin sein würde – da sieht man schon wieder die Hoffnung auf eine halbwegs vernünftige, integre Politik enttäuscht. Es wird in dieser Legislaturperiode, deren Konturen sich jetzt in dem vorgelegten Koalitionsvertrag manifestieren, auch darum gehen, die Erinnerung an die Demokratiemissachtung, mit der sie bereits am Ende der letzten begann, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Ein Moment, der die auf das ganze Volk zielende Repräsentationsfunktion der staatlichen Institutionen angreift, ist dabei besonders gravierend. Wieder einmal geht es dabei um die heilige grüne Klima-Kuh, die erst durch die Brandmauer zur AfD auch nach der Abwahl der Grünen auf Überlebensgröße aufgeblasen werden konnte. Eine scheinbare Randnotiz zum Ursprung des Corona-Virus, die ebenfalls einen langjährigen Vertrauensmissbrauch gegenüber dem ganzen Volk impliziert, verschärft die Lage zusätzlich. Ebenso wie der staatsfinanzierte NGO-Apparat, der die Meinungsvielfalt erodieren lässt und so das diskursive Repräsentationsgefüge in massive Schieflage bringt.
Mit der Grundgesetzänderung am 18. März wurde mit Artikel 143h nicht nur ein „Sondervermögen“ für Verteidigungsausgaben und Investitionen in die Infrastruktur geschaffen, sondern zugleich die „Erreichung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2045“ festgeschrieben. In seinem Klimaschutzurteil aus dem Jahr 2021 deutete das Bundesverfassungsgericht Artikel 20 des Grundgesetzes bereits so aus, dass das Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen auch die Verpflichtung zum Klimaschutz umfasst. Im Klimaschutzgesetz (KSG) ist bereits jetzt die Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 als Zielmarke festgehalten. Der Unterschied zwischen einfachgesetzlicher Regelung und der verfassungsrechtlichen Festschreibung der Zielmarke bildet dabei den entscheidenden demokratiepolitischen Unterschied. Denn mit der Festschreibung von Klimaschutz (inklusive der Angabe einer Jahreszahl) im Grundgesetz erhält, philosophisch gesprochen, das Partikulare Einzug in das Allgemeine. Wie ist das zu verstehen?
Mit der anvisierten Klimaneutralität 2045 wird ein wesentlicher Teil des Parteiprogramms der Grünen und der links-grünen Narrative gleichsam zur rechtlich verbindlichen Deutungsfolie für die deutsche Nation, deren Zusammenleben durch das Grundgesetz geregelt wird. Das Grundgesetz ist somit nicht mehr der neutrale Boden, auf dem, wie in einer liberalen und pluralen Demokratie üblich und erwünscht, (nahezu) jede politische Programmatik gedeihen kann. Der ohnehin durch die fortwährende Verächtlichmachung der Meinungsfreiheit gefährdete Pluralismus gerät noch weiter unter Druck.
Denn wer nun gegen Klimaschutz ist oder auch nur die Klimaneutralität eines hoch entwickelten Industrielandes bis 2045 für ökonomischen Selbstmord hält, wird nun fortan von dem auch weiterhin staatsgepamperten NGO-Apparat, seinen medialen Helfershelfern und der weitgehend durchgrünten Parteienlandschaft zum Verfassungsfeind stilisiert werden. Damit wird sich das Grundgesetz noch weiter zum „Tugendkatalog“ (Ulrich Vosgerau) mausern, der eine erzieherische Wirkung auf den Staatsbürger entfalten soll, während das Grundgesetz in Wirklichkeit einmal als Abwehrmaßnahme gegen einen potentiell übergriffigen Staat konzipiert wurde. Die Grünen haben es geschafft – und dies auch noch nach ihrer Abwahl – die DNA ihres eigenen Parteiprogramms ins Grundgesetz „hineinzuschmuggeln“ (Dietrich Murswieck).
Und dies auch noch über einen CDU-Kanzler, der so gut wie jede Überzeugung, die er schattenhaft einmal gehabt haben mag, für seine Machtbesessenheit opfert und nun ausgerechnet in der Klimafrage vom „großen Sprung nach vorne“ träumt. Während in der Volksrepublik China in den Jahren 1958 bis 1962 die Zwangsindustrialisierung durch Mao Millionen von Menschen, die systematisch über die tatsächlich vorhandene Menge Getreide getäuscht wurden, das Leben kostete, ist es nun die durch die gegenwärtige Form des Klimaschutzes vorangetriebene Deindustrialisierung, die Menschen in Deutschland in die Armut treiben wird.
Maos „großem Sprung nach vorne“ war eine – mörderische – „Anti-Rechts-Bewegung“ vorausgegangen, während in Deutschland derzeit die Brandmauer zur AfD und der von der staatsfinanzierten NGO-Halbwelt befeuerte „Kampf gegen Rechts“ Deutschland weiter in eben jene Regierungsunfähigkeit treibt, die man durch konditionierte Politikangebote an die AfD leicht vermeiden könnte. Nur die Brandmauer gestattet es den polarisierenden links-grünen Dogmatikern, ihre politische Programmatik auch noch nach ihrer krachenden Abwahl durchzusetzen und so den Diskurs nun auch noch mit verfassungsrechtlichen Implikationen vor sich herzutreiben.
Die Konsequenz ist offenkundig: Die Repräsentationslücke wird weiter zunehmen – immerhin gut 20 Prozent der Wähler werden mittlerweile stellvertretend im Parlament gemaßregelt und von demokratischer Mitbestimmung ausgeschlossen. Umgekehrt zeichnen sich die „demokratischen Parteien“ zunehmend dadurch aus, dass sie eine Politik betreiben, die sich permanent dadurch auszeichnen soll, nicht so zu sein, wie die AfD. Blickt man auf diese dysfunktional gewordenen Repräsentationsverhältnisse, so kann man sich einmal die Frage stellen: Wer ist hier eigentlich, im Sinne Hegels, der Herr, wer der Knecht? Wird die AfD tatsächlich ohnmächtiger in dieser Beziehung? Oder vielmehr die „demokratischen Parteien“, die sich permanent an der AfD abarbeiten? Auf diese Weise wird das liberal-demokratische System zunehmend in eine veritable Legitimationskrise getrieben.
Merkel war die beste Kanzlerin, die die Grünen je hatten, so der Wirtschaftsjournalist Philip Plickert. Insbesondere in der Migrationsfrage. Mit politischen Superlativen sollte man in diesen verrückten Zeiten allerdings vorsichtig sein, denn ausgerechnet der 2002 im Kampf um den Fraktionsvorsitz Merkel unterlegene Merz setzt den Prozess der Entkernung der CDU auf erweiterter Stufenleiter fort.
Die politische Klasse stellt damit nicht weniger als ihre Lernunfähigkeit zur Schau. Das Repräsentationsdefizit, das Merkel durch ihr treu- und prinzipienloses Gebaren in der Migrationsfrage zu einer klaffenden Wunde werden ließ und die Wähler der CDU in Scharen der AfD zutrieb, wird nun durch den Vertrauenszerstörer Merz noch einmal verstärkt. Und zwar auf eine so fundamentale Weise, wie man es sich nicht auszumalen wagte: Das Grundgesetz selbst bekommt durch die CDU einen grünen Anstrich.
In den 1960er Jahren haben kluge Politologen wie Ernst Fraenkel den pluralen Aufbau des Grundgesetzes betont und diesen gegen die Gefahr des Totalitarismus, wie sie sich etwa durch eine Rousseausche Interpretation demokratischer Verfassungen anbietet, als vom Widerstreit der Interessen und Weltanschauungen lebende Ordnung verteidigt. „Plural“ bedeutet: Alle vorhandenen politischen Positionen sind gleichermaßen legitim, solange sie gegen keine Gesetze verstoßen und solange sie nicht darauf abzielen, mit kämpferischen Mitteln die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen. In einem fairen, offenen und möglichst chancengleichen demokratischen Wettbewerb wird dann um die zeitweise Vorherrschaft dieser Positionen gerungen.
Das stets wieder revisionsbereite Resultat dieses politischen Wettbewerbs sind die gewählten Parlamente. Der Streit der Interessengruppen setzt voraus, dass das Institutionengefüge, in dem sich dieser Streit abspielt, so neutral wie nur irgend möglich diesen Interessengruppen gegenübersteht. Schafft es eine dieser Interessengruppen, den common ground, den die Verfassung darstellt, selbst mit ihrem Programm zu infiltrieren, so erodiert die plurale Ordnung: Das Allgemeine wird mit dem Partikularen gleichgesetzt. In marxistischer Terminologie nannte man das früher einmal: Ideologie. Man tritt für das Partikulare, für die eigenen Interessen, die eigene Weltanschauung ein – und behauptet es als das Allgemeine. Genau dadurch kann das Partikulare natürlich viel besser realisiert werden – wenn man nämlich behauptet, dass es jedem dient.
Aber genau dies ist ja bei „Klimaschutz“ umstritten. Das allerdings ist kein dogmatisch stillzustellender Defekt, sondern der Ausdruck einer pluralen Ordnung. Auch mit dem Verweis auf „die Wissenschaft“ kann dieser Streit nicht beigelegt werden. Denn zum einen ist es der immanente Sinn von Wissenschaft, gerade jede These stets wieder auf den allerhärtesten Prüfstand zu stellen, so dass sich jede Dogmatik bereits innerhalb der Wissenschaften verbietet. „Die Wissenschaft“ existiert schlichtweg nicht. Wissenschaftler, die sich von NGOs, Medien und Parteien dazu treiben lassen, ihre Erkenntnisse als unumstößliche Dogmen zu verkaufen, haben den falschen Beruf und sollten ihn wechseln.
Zum anderen aber folgt selbst aus den bestmöglich festgestellten Tatsachen und Kausalerklärungen niemals ein politisches Programm. Das in der Klimaschutzbewegung gehypte Sprüchlein „Follow the science“ ist eine der wissenschaftszerstörendsten Säue, die je durch die globale mediale Arena getrieben wurden. Denn von der wissenschaftlich festgestellten Tatsache, von der wissenschaftlichen Erklärung, führt kein Weg zur politischen Bewertung. Der Satz „Follow the science“ behauptet eine Brücke zwischen Wissenschaft und politischem Handeln, die es nicht gibt.
Pikant ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die für das Klimaschutz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zuständige Berichterstatterin Gabriele Britz mit dem früheren Kreisvorsitzenden der Frankfurter Grünen und heutigen Finanzbürgermeister Bastian Bergerhoff verheiratet ist. Bereits diese personelle Verflechtung einer Bundesverfassungsrichterin wirft ihren Schatten auf ein Urteil voraus, das zu viel (grüne) Partikularität in den Pluralität absichernden allgemeinen Ordnungsrahmen hineinstopfte. Mit dem Merzschen Umarmungskurs gegenüber den abgewählten Grünen ist der Verfassungsdampfer nun in veritabler Schieflage. Die Repräsentationslücke erhält gleichsam Verfassungsrang. Herrschaft und Knechtschaft gelangen in der politischen Misere der CDU zur Synthese: Sie ist die Sklavin der links-grünen Diskurshegemonie und genau darüber zu ihrer größten Förderin geworden.
Die sozialen Konsequenzen der Aufgabe der Neutralität des Grundgesetzes werden einschneidend sein: Die Eskalationsdynamik zwischen den rechts- und den linksidentitären Polen in der Gesellschaft wird weiter angeheizt. Auf links-grüner Seite wird es heißen: ‚Seht her, jeder der nicht mit unserer Klimaagenda einverstanden ist, ist ein Verfassungsfeind.‘ Dadurch wird der Diskurskorridor in der ohnehin bereits moralistisch aufgeladenen Klimafrage nochmals enger werden. Profitieren werden diejenigen, die es dann noch wagen, den Kopf in den Diskurskorridor hinein zu strecken – die weltanschaulich hoch Gefestigten und Unerschrockenen.
Viele anständige Bürger jedoch, deren Leben sich nicht gänzlich um Politik dreht, werden noch leiser werden und den politischen Frust in sich hineinfressen. Oder sie wenden sich den Gefestigten und Unerschrockenen zu, die umso sichtbarer für sie sein werden. So also sieht er aus, der rücksichtslose „Demokratieschutz“ des links-grünen Parteienblocks, der fatalerweise die Erosion der Legitimität westlicher Demokratien – des wohl besten und verteidigenswertesten politischen Konstrukts der Weltgeschichte – weiter beschleunigen wird.
Auf diese Dynamik wird dann noch die Verschärfung des Kampfes gegen „Desinformation“, „Fake News“ und „Hass und Hetze“ – sprich: der Kampf gegen freie Meinungsäußerung – einzahlen, der im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD bereits vorgezeichnet ist: Man möchte nun absichtlich unwahre Äußerungen unter Strafe stellen. Willkommen im Wahrheitsministerium von CDU und SPD!
Wenn dieses Vorhaben tatsächlich zu einem Gesetz wird, dann werden wir in Deutschland Gerichtsprozesse haben, in denen die Staatsanwaltschaft versuchen wird, den Nachweis zu führen, dass ein Angeklagter eine Meinungsäußerung mit einem bestimmten Vorsatz getätigt hat. Willkommen in der Welt der Gedankenkontrolle! Schon im Wahlkampf ist Merz mit einer Übernahme des grünen Vokabulars gegen die Meinungsfreiheit aus „Hass“ und „Fake News“ aufgefallen – wusste er doch angesichts seines geplanten Wahlbetruges, dass der Ton ihm gegenüber wohl nicht besonders milde ausfallen wird.
Von was für einer selbstreferentiellen Machtbesessenheit der voraussichtlich in den nächsten Jahren CDU-geführte links-grün-moralistische Staatsapparat mittlerweile durchzogen ist, wie sehr sich führende Akteure in einer die Merkmale einer Massenpsychose aufweisenden Jargon-Welt aus „Hass und Hetze“, „XY-Leugnung“ (wahlweise Corona oder Klima), „Fake News“ und „Kampf gegen Rechts“ bewegen, wie sehr sich staatliche Akteure nicht mehr als Diener des Volkes, sondern als deren Erzieher und Therapeuten verstehen, zeigt eine aktuelle Erkenntnis zur Corona-Zeit. Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung wollen herausgefunden haben, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst schon 2020 – und mit ihm die relevanten politischen Entscheidungsträger seit Merkel – mit größter Wahrscheinlichkeit vermutet hat, dass das Corona-Virus einem Labor im chinesischen Wuhan entstammte.
Für den Staat als Vertrauensordnung ist auch das grundstürzend: Denn die Bundeskanzler Merkel und Scholz sahen offenbar munter dabei zu, wie ganze Bevölkerungsteile, angestachelt vom politisch-medial-wissenschaftlichen Moralismus-Mainstream, andere mit Kampfbegriffen wie dem „Verschwörungstheoretiker“, dem „Covidioten“ oder dem „Schwurbler“ überzogen – samt all der verheerenden Effekte, die das auf Familien und Freundschaften hatte. Und dies während gleichzeitig eben jene staatlichen Akteure selbst einen klärenden Beitrag zur Faktenlage hätten leisten können.
Mit einer freien und (informations-)offenen gesellschaftlichen Debatte hat dies natürlich nicht mehr das Geringste zu tun. Als „Irreführung durch Informationszurückhaltung“ könnte man diesen Vorgang auf den Punkt bringen. Auch das ist ein Vertrauensmissbrauch, der ins Mark der demokratischen Gesellschaft reicht: Staatliche Akteure beobachten, wie sich die Bevölkerung zerlegt und befeuern gleichzeitig einen Diskurs um die Gefahren vor „Desinformation“, von denen sie mit großer Sicherheit wissen, dass eine dieser – unter anderem von dem großen Corona-Erklärer Christian Drosten – als „Verschwörungsmythos“ gebrandmarkten Aussagen ziemlich sicher korrekt ist.
So zeigt sich also, dass der politische Vertrauensmissbrauch eine Kontinuität von Merkel über Scholz bis zu Merz aufweist, die dringend durchbrochen werden muss, soll uns die liberale Demokratie nicht aus den Händen gleiten. Die politisch einseitige Vorselektion des Weltgeschehens durch mächtige Akteure, die eigentlich für alle da sein sollten, die Unwahrhaftigkeit, im Zweifelsfall die manifeste Lüge sind der Sargnagel für das Projekt der Aufklärung. Noch einmal Nida-Rümelin:
„Das aufklärerische Projekt beruht auf der Annahme, dass die möglichst vorurteilsfreie Prüfung von Argumenten den Austausch unterschiedlicher Standpunkte voraussetzt, dass Meinungsvielfalt und Widerspruch wissenschaftliche und lebensweltliche Erkenntnis ermöglichen, dass der Ausgang aus ‚selbst verschuldeter Unmündigkeit (Immanuel Kant) nur über die Offenheit des Geistes zu erreichen ist. Der Rückzug in die Zitadelle der eigenen Gewissheiten […], die Beschränkung des Austausches auf die Gemeinschaft Gleichgesinnter und der Versuch, die Meinungsäußerung derjenigen, die nicht dazugehören, zu unterdrücken, markiert den Weg in die voraufklärerische Vergangenheit gefestigter Dogmen und weltanschaulicher Autoritäten.“
Ein Hoffnungsschimmer war in diesem Komplex aus Vertrauensmissbrauch und vorsätzlich gepflegter Informationsasymmetrie immerhin noch erkennbar: Der NGO-Fragenkatalog der CDU zeigt, dass die Partei die Fähigkeit besitzt, die richtigen Fragen zur links-grünen Diskurshegemonie zu stellen. Die große Empörung aus dem „NGO-Komplex“ (Björn Harms) spricht Bände: Die Transparenz gegenüber dem Steuerzahler wird in das Licht der Praktiken autoritärer Staaten gerückt, als „Foulspiel“, als „Einschüchterung der Zivilgesellschaft“ bezeichnet, ja gar als „Frontalangriff auf die Demokratie“ gewertet. Diese Reaktionen machen deutlich, dass die CDU mit ihren Fragen ins Nachtschwarze traf. Denn sie stellen die zentrale Voraussetzung des links-grün dominierten öffentlichen Diskurses in Frage: Wenn nur die ganze Gesellschaft wie das Kaninchen auf die Schlange auf die AfD starrt und sich „gegen Rechts“ wehrt und ein „neues 1933“ verhindert, dann wird schon alles wieder gut.
Dass dies mitnichten der Fall ist, zeigt der Umstand, dass sich eine demokratiegefährdende, mit staatlichen Institutionen verflochtene NGO-Halbwelt auf der linken Seite des politischen Spektrums etabliert hat. Deren zentrale Strategie besteht darin – häufig mit Hilfe der Verharmlosung des Nationalsozialismus und bisweilen einer schamlosen Instrumentalisierung des Holocausts – ihre eigenen politischen Vorstellungen, größtenteils woker und bunter Provenienz, mit „unserer Demokratie“ schlechthin gleichzusetzen. Genau diese Strategie ist es, auf die möglichst kein Licht fallen soll. Dabei unterminiert genau diese Strategie höchst wirksam, dass sich viele Bürger – bei denen es sich in ihrer großen Mehrheit nicht um Buntheitsdogmatiker handelt – von der Politik überhaupt noch repräsentiert fühlen.
Derzeit präformiert die links-grüne Hegemonie die Voraussetzungen, unter denen über alle anderen zentralen politischen Fragen gesprochen wird: Migration, Klima, Ukraine, die Einseitigkeit der Mainstream-Medien, das Selbstverständnis des Westens, zukünftige Pandemien. Die Zielstellung „Klimaneutralität bis 2045“ in das Grundgesetz aufzunehmen, war der bislang letzte Baustein in einer übermächtig scheinenden links-grünen Diskursherrschaft, zu deren hilflosen Anhängsel nun auch die CDU weitgehend mutiert ist.
Der Koalitionsvertrag allerdings zeigt, dass auch die CDU die links-grüne NGO-Welt weiter gedeihen lassen möchte. Dann hätte sie den Sinn ihres eigenen Fragenkatalogs nicht verstanden. Die links-grüne Hegemonie, die sich in den letzten zehn Jahren zu einem dichten Filz aus Parteien, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Medien, NGOs und Kirchen verflochten hat, wieder auf ein vertretbares Maß zurückzudrängen, wird der Lackmustest für den uneingeschränkt wünschenswerten Fortbestand der liberalen Demokratie sein.
Es gehört zum Wesen einer pluralen und freiheitlichen Demokratie, dass nicht die ganze Bürgerschaft jederzeit mit allen Politikangeboten zugleich einverstanden sein kann. Nur dann allerdings, wenn man weiß, dass die eigene Stimme grundsätzlich zählt, ist man bereit, Niederlagen im politischen Wettstreit zu akzeptieren – in der Hoffnung, zukünftig seine Mitbürger von seinem Angebot überzeugen zu können. Erst mit der Wiedererrichtung kommunikativer Chancengleichheit und einer Debattenlandschaft, die von stillschweigenden Diskursprämissen möglichst frei ist, wird sich die Bürgerschaft als Ganze wieder repräsentiert fühlen können.