
„Es gibt besondere Menschen, die werden zu Konstanten in unserem Leben. Die Queen gehört dazu.“ Und in Deutschland? „Angela Merkel.“ Zeit-CEO Rainer Esser ist schon in seinen ersten Worten total ergriffen von der Präsenz der Altkanzlerin. Merkel ist ein besonderer Mensch in seinem Leben, besonderer als seine Ehefrau vielleicht. Zumindest könnte man das meinen, wenn man ihn über sie sprechen hört.
„16 Jahre stand sie auf der Kommandobrücke und es gab viele Krisen in der Zeit. Wir erinnern uns: die Eurokrise! Unsere Währung wackelte ganz gefährlich. Tage, Wochen – dann wurde der Rettungsschirm gespannt, maßgeblich unter deutscher Führung. Fukushima! Wir hatten alle fürchterliche Angst vor der Atomkraft – ein Beschluss raus aus der Atomkraft. Budapest! Tausende von Flüchtlingen waren fürchterlich gestrandet – wir schaffen das. Die Krim! Putins erster Überfall auf eine weitgehend wehrlose Ukraine. Nächtelang wurde verhandelt, dann kam das Minsk-Abkommen.“
Bemerkenswert: Jeder politische Beobachter, der die Dinge klar sieht, erkennt mindestens (!) in der Hälfte der dort aufgelisteten Momente schwere Fehlleistungen der Kanzlerin. Atomausstieg? Ein Desaster. Budapest? Historisch fatale Grenzöffnung. Die Krim und das Minsk-Abkommen: Zeugen der ebenso historisch fatalen Untätigkeit Angela Merkels angesichts eines aggressiven Putins, die die Ukraine mit ans Messer lieferte. Aber Herr Esser sieht an diesem Abend nicht klar, er ist völlig ergriffen von seinen Gefühlen für die Bundeskanzlerin a.D. – spätestens als er sie noch als „unsere Bundeskanzlerin“ begrüßt, ist völlig klar, dass Merkel immer noch in seinem Herzen regiert.
Was für ein Gegensatz dazu ihr Nachfolger und seine Truppe: „Auf der anderen Seite eine Reihe von westdeutschen Männern, die es in Zeiten von Krisen und Bedrängnis nicht schaffen, einen Kompromiss zu finden – und die Ampel implodiert.“ Das Wort „Männern“ wird von Esser mit einer Verachtung ausgesprochen, die geradezu nach Liebkosung durch seine Kanzlerin schreit – Merkels hohle „Männer!“-Replik im Spiegel zum Ende der Ampel-Koalition brav übernommen und repliziert.
Finden Sie mal jemanden, der Sie so liebt, wie alte, deutsche Journalisten die Merkel lieben. Das wird verdammt schwer, denn die Herzen der schreibenden Zunft flogen ihr in großer Zahl schon seit jeher zu. Aber Essers Einführungsrede übertrifft in ihrer peinlichen Verehrung fast alles, was man gewohnt ist – selbst 10 Minuten Standing Ovation auf dem CDU-Parteitag sind nichts dagegen. Eine unerträglich unterwürfige Art, die es einem schwer macht, den kollegialen Respekt zu wahren. Man denkt unweigerlich an nordkoreanische Fernsehjournalisten, die frenetisch klatschen, wenn Kim Jong-un in der Redaktion vorbeikommt. Selbst das wirkt ehrlich gesagt nicht so erbärmlich wie der bewundernd-infantile Ton, den Zeit-Chef Esser für seine ewige Kanzlerin anschlägt. Das „Faszinosum Merkel“, wie Esser es beschreibt, hat ihn vollkommen ergriffen. Und nicht nur ihn. Der Applaus, als Merkel auf die Bühne tritt, ist frenetisch wie auf einem CDU-Parteitag 2018. Als Merkel eine bloße Anmerkung macht – „ah, jetzt kommen die Fotografen“ – bricht erneut spontaner Applaus und Gejohle aus. Hurra, die Gottkanzlerin spricht zu uns!
Roman Platter und Mariam Lau, die Moderatoren des Gesprächs, führen ab dort dann Gott sei Dank etwas sachlicher weiter – schon mit der Anerkennung, dass Merkel „die ehemalige Bundeskanzlerin“ ist. Immerhin ein Schritt zurück in Richtung Realität. Schnell wird Merkel zu ihrer Äußerung aus dem Off befragt – als sie Friedrich Merz vergangene Woche in die Parade gefahren und ihn öffentlich attackiert hatte. „Was genau hat er Ihrer Meinung nach falsch gemacht?“, fragt Lau. Merkel lobt zunächst Merz’ Absage an den Parlamentarismus („Zufallsmehrheiten“) als „richtig und wichtig“ – dass er dahinter zurückging und seine Anträge in den Bundestag einbrachte, wäre falsch gewesen. Sie habe es daher „nicht für richtig befunden, in einer entscheidenden Situation einfach zu schweigen.“
Ansonsten fällt Angela Merkel durch ihre Renitenz auf: Einen Fehler räumt die Gottkanzlerin auch aus dem Rückblick im Ruhestand nicht ein. Merkel sagt: „Ich halte die Flüchtlingspolitik der letzten 10 Jahre nicht für verfehlt“ und erklärt ihre Grenzöffnung für richtig. Ihre Corona-Politik sei ebenso unfehlbar – „dass wir so vorgegangen sind, wie wir vorgegangen sind“, hält Merkel auch im Rückblick „absolut für wichtig“. Für den Aufstieg der AfD, den die Moderatoren ihr in einer Frage zum Vorwurf machen, sieht Merkel bei sich auch keine Schuld: „Dass [die AfD] heute bei 20 Prozent liegt, ist jetzt echt nicht mehr meine Verantwortung“, meint die Altkanzlerin lapidar.
Merkel ist eben – und war immer – die Kanzlerin der Verantwortungslosigkeit. Sie handelt verantwortungslos oder sieht sich für nichts in Verantwortung. Das zeigt eine Frage ganz besonders: „Hätten Sie denn, wenn Sie noch im Amt wären – nach Solingen, Mannheim, Aschaffenburg – jetzt etwas getan, was Konkretes? Oder hätten Sie erstmal überhaupt nicht agiert?“, fragt der Moderator Merkel. Und die Kanzlerin, die sich vergangene Woche noch wegen einer Abstimmung wortreich einmischte, ist plötzlich wieder schweigsam. „Jetzt kommen wir an den Punkt, wo ich mich nicht in die Rolle hineinversetzen möchte, zur aktuellen Politik Stellung zu nehmen“, weicht Merkel in einem ihrer typischen Wackelpudding-Sätze aus.
„Das ist Ihnen aber nicht gelungen letzte Woche“, stichelt der Moderator. Sie besteht aber wieder darauf, sich zur Tagespolitik nicht zu äußern – „ich mische mich nicht in alles ein, was ich höre“. Ihre Einlassung zu Merz sei „etwas Grundsätzliches“ gewesen. Merke: Eine simple, demokratische Abstimmung im Bundestag entrüstet Angela Merkel offenbar mehr als drei Attentate in Deutschland. Bei dem einen sieht sie sich in staatsbürgerlicher Verantwortung, beim anderen eben nicht. Um die Frage des Zeit-Moderators zu beantworten – nein, sie hätte überhaupt nicht agiert. Wie gesagt: Mit Verantwortung hat Merkel es nicht, egal, wie oft lobhudelnde Journalisten das Gegenteil bekennen wollen.
Fragen nach ihren Verfehlungen watscht Merkel einfach ab. Die Zeit fragt: „Das alte deutsche Geschäftsmodell, dass man billige Energie aus Russland bekam, den Chinesen Waren verkauft hat und die Amerikaner die Sicherheit bezahlt haben – würden Sie sagen, dass dieses Geschäftsmodell endgültig vorbei ist?“ Merkel antwortet wabernd und kommt auf den bemerkenswerten Satz: „Wir sehen, was es für Auswirkungen hat, dass der Energiepreis damit deutlich teurer geworden ist. Und Donald Trump glaubt nicht an den Multilateralismus. Das ist vielleicht das Schwierigste.“ Klar, Donald Trump ist das drängendste und schwierigste Problem Europas, nicht zum Beispiel der Krieg auf dem Kontinent.
„Würden Sie sagen, dass Sie diesen Entwicklungen – also strukturell zu wenig Militärausgaben, unsichere Energieversorgung und auch große Abhängigkeit von China – als Kanzlerin ausreichend entgegengetreten sind?“, fragt die Zeit weiter. Räumt Merkel hier jetzt Versäumnisse ein? Nein, natürlich nicht. „Ich würde sagen, dass ich das getan habe, was mir damals möglich war. Ich würde im Nachhinein sagen, es war nicht falsch, noch ein paar Jahre auch billiges Gas zu haben.“ Ganz lapidar watscht Merkel die Frage ab, warum sie die deutsche Energieversorgung fast ruiniert und von Putin abhängig gemacht hat. „War nicht falsch“. Ah ja.
Am Schluss menschelt es nochmal richtig mit gewichtigen Fragen wie: „Taylor Swift oder Helene Fischer?“, oder: „Für Sie als Pastorentochter: Adam oder Eva?“ Letzteres beantwortet Merkel: Sie hätte die Frucht vom „Baum der Erkenntnis“ gekostet. Menschen raus aus dem Paradies zu führen – irgendwie passt das ja.
An wie vielen Stellen Merkel tatsächlich den Sündenfall vollzogen hat – Energie, Migration, Corona und, und, und – darüber wollen wir nicht wirklich sprechen. Es ist ja auch eher ein Gottesdienst für die Gottkanzlerin, und da legen insbesondere Journalisten jede kritische Haltung ab. Nicht nur ihr peinlicher Fanboy Rainer Esser. Das Hamburger Abendblatt etwa erklärt uns, „warum Angela Merkel noch die Kanzlerin der Herzen ist“. Wahrscheinlich hat man in der eigenen Redaktion eine Umfrage gemacht, die die These überwältigend bestätigt.
Angela Merkel gehört für ihre Verfehlungen von Journalisten gelöchert – stattdessen gibt es Liebkosungen. Und an Merkel selbst, wie eh und je die Unbelehrbare, prallt jede Kritik wirkungslos ab, an der Teflon-Frau bleibt wie immer nichts haften. Die Journalisten wollen auch gar nicht Kritik üben, sondern lieber ein freundliches Gespräch mit ihrer Gottkanzlerin führen. Das ist dann auch leider eher Gottesdienst als Journalismus – und Zeit-Boss Rainer Esser wird vom Zeitungs-Chef zum Bischof der Kirche „unserer Kanzlerin“. Eine bezeichnende Veranstaltung.