
Vor kurzem erfuhr die Öffentlichkeit einige interessante Dinge aus dem städtischen Leben im saarländischen Neunkirchen. Die unterhaltsame Serie begann damit, dass die Saarbrücker Zeitung schrieb, dass die Neunkirchner Verkehrsgesellschaft, kurz NVG, jahrelang gratis Lustreisen für einige Rathausmitarbeiter veranstaltete. Oberbürgermeister Jörg Aumann, SPD, stellte daraufhin NVG-Geschäftsführer Pascal Koch und Betriebsratschef Schaufert frei. Bei Letzterem handelt es sich allerdings um den SPD-Ortsvorsteher der Stadt, also ein Mitglied des lokalen Parteiadels. Es dauerte nur einen Tag, bis jemand der Saarbrücker Zeitung die Information steckte, dass auch der Oberbürgermeister zu den Profiteuren im goldenen Dreieck von öffentlichem Unternehmen, Verwaltung und SPD gehörte: Er habe, hieß es, sich von der Verkehrsgesellschaft gratis zum SPD-Bundesparteitag am 11. Januar 2025 nach Berlin chauffieren lassen.
Als Nächstes fand die Information über eine illegale Parteispende von 5000 Euro für ein Sommerfest des besagten SPD-Ortschefs ihren Weg in die Zeitung. Erstens dürfen öffentliche Unternehmen generell nicht an Parteien spenden, zweitens dürfen Barspenden nicht den Betrag von 1000 Euro übersteigen. Jeder Parteischatzmeister kennt diese Regeln, auch in der Provinz. Dass die Sache trotzdem so lief, lässt darauf schließen, dass sich jeder der Beteiligten völlig sicher fühlte. Man machte es wahrscheinlich seit sozialdemokratischem Menschengedenken so. Zu Schlechterletzt kam noch heraus, dass es zur üblichen Praxis in der Verkehrsgesellschaft gehörte, unbefristete Arbeitsverträge gegen den Eintritt in die SPD zu vergeben.
Hier findet übrigens keine spezifische Abrechnung mit der Sozialdemokratie statt. Höchstwahrscheinlich existiert in jeder zweiten Stadt das goldene Dreieck aus Partei, Verwaltung und öffentlichen Unternehmen, egal, wer dort seit Jahrzehnten regiert.
In Neunkirchen gab es bisher keine größeren Konsequenzen. Eigentlich überhaupt keine. Als stellvertretender SPD-Landeschef, Verwaltungschef und Aufsichtsratsvorsitzende der Verkehrsbetriebe steht der Oberbürgermeister auch weiter an jeder der Dreiecksspitzen, und zwar auch deshalb, weil die allermeisten überregionalen Medien die Geschichte bis jetzt als viel zu regional einstufen. Schließlich spielt sie nicht in einer Sylter Sektbar. Und ohne den dummen Konflikt innerhalb la famiglia unten an der Saar wäre niemals ein Wort davon nach draußen gedrungen, um dann sogar in der Lokalzeitung zu landen. Um es mit dem Philosophen und Mittelstürmer Jürgen Wegmann zu sagen: „Erst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch Pech dazu.“
Bis auf die Tatsache, dass hier einmal etwas durchsickerte, steht Neunkirchen modellhaft für das Deutschland der Parteien, der öffentlichen Körperschaften und halboffiziellen Nebenorganisationen. An der Saar spielt zwar die absolute Amateurliga, was man schon an den Höhen der Transfersummen erkennt. Aber es läuft wie in den höheren Rängen: Die Beteiligten regeln alles Wichtige auf kurzen Wegen, institutionelle Grenzen spielen keine Rolle, unabhängige Kontrolle existiert nicht.
Dass es sich bei „Checks and Balances“ um einen demokratiegefährdenden Begriff handelt, könnte beispielsweise das „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena“ jederzeit durch eine Studie für ganz Deutschland beweisen, denn die Einrichtung gehört als feste Größe zum großen goldenen Dreieck der Republik. Das Institut liefert wunschgemäß Einschätzungen und Stichworte; sein Leiter Axel Saalheiser tritt des Öfteren als zugeschalteter beziehungsweise zitierter Experte in den Schwarmmedien auf.
Die Organisation sitzt zwar formal unter dem Dach der Universität Jena, befindet sich aber in Wirklichkeit in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung, gegründet von einer Zuträgerin der Staatssicherheit und ganz überwiegend finanziert von der Regierung und anderen öffentlichen Geldgebern, also vom Steuerzahler. Im Vorstand des Meinungslenkungsunternehmens Amadeu Antonio Stiftung sitzen neben anderen Persönlichkeiten Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan J. Kramer und der grüne EU-Abgeordnete Sergey Lagodinsky. Das Geflecht funktioniert also genau so nach dem Neunkirchenprinzip wie die mittlerweile landesweit bekannte und in der Vergangenheit ebenfalls bis vor kurzem noch steuergeldgespeiste Plattform „Correctiv“, die vor wichtigen Wahlen auf Knopfdruck Narrativgeschichten produziert. Die Fabrikate zerstäuben Anwälte zwar später vor Gericht, aber eben erst nach der gut organisierten Mobilisierung auf der Straße und in Fernsehstudios.
Zu diesem Dreieck gehört auch der Verein „Halle gegen rechts – Bündnis für Zivilcourage“, selbstverständlich gespeist aus dem unerschöpflichen Topf „Demokratie leben!“, dessen Sprecher dazu aufruft, die Buchmesse „Seitenwechsel“ am 8. und 9. November zu verhindern, weil dort skandalöserweise nichtlinke, also rechte Bücher in den Auslagen stehen. „Wir wollen so viel zivilgesellschaftlichen Druck erzeugen, demokratisch und gewaltfrei“, so der steuerfinanzierte Druckmacher, „dass die Veranstaltung nicht stattfinden kann“. Die Mobilmachung gegen die Buchmesse wiederum fand die Tagesschau-Redaktion nicht zu lokal, sondern sehr, sehr berichtenswert.
In diesem Dreieck reicht man einander Studien, Geld, Stichworte, Posten und Gebührenerhöhungen zu, vor allem aber sorgen alle Mitspieler dafür, dass niemand seine Nase von außen in diese letzte florierende Branche des Landes steckt. Hier prallen 551 und noch viel mehr Fragen ab. Es herrscht ein Nehmen (vom ungefragten Bürger) und ein Geben an Freunde, fast immer ohne Kontrolle und öfter auch ohne lästigen Papierkram. Hier, im Profibereich, passieren la famiglia keine Provinzmissgeschicke.
Trotzdem steht das in Jahrzehnten mühsam mit dem Geld anderer Leute aufgebaute Lebenswerk ganzer Adabeigenerationen fast schon vor dem Zusammenbruch. All diese Errungenschaften stehen in Frage, weil die Verfassungsschöpfer sich 1949 die Flause in den Kopf setzten, dass die Leute außerhalb des Dreiecks wenigstens aller paar Jahre über dessen Besetzung mitreden sollen.
Es gibt einen Angstraum für Normalbürger in Parks, Unterführungen, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder ganz einfach in Bremen am helllichten Tag. Die Größe dieses Angstraums lässt sich ganz gut an dem Nachdruck messen, mit dem die öffentlich-rechtlichen Medien ihren Zuschauern das Bedrohungsgefühl auszureden versuchen.
Der Angstraum des politisch-medial-institutionellen Apparats heißt schlicht und einfach: Wahlurne. Die Zeiten, in denen Leitartikler den Tag der Stimmabgabe ein Fest der Demokratie nannten, liegen tief im Brunnen der Vergangenheit. Heute umwabern Furcht und Beschwörungen mittlerweile jedes entsprechende Datum.
Bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen am 14. und der Oberbürgermeisterwahl in Ludwigshafen am 21. September, den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt und dann erst recht bei der Abstimmung über den nächsten Bundestag, die vielleicht schneller kommt als gedacht, bei jedem Urnengang also findet, wenn man dem politisch-medialen Block glaubt, ein Armageddon statt, ein Endkampf zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts, eine Entscheidung über das Schicksal des Landes, in dem die Uhr immer auf fünf Sekunden vor zwölf steht.
Unseredemokratie steht wirklich und ohne Übertreibung auf dem Spiel, selbst bei der Neubesetzung von Posten im Rathaus einer Mittelstadt. Denn wenn dort in größerer Zahl Kandidaten Mandate gewinnen, die sich nicht ins goldene Dreieck integrieren lassen, dann fallen diesen Leuten unter Umständen seltsame Verträge und Buchungen in die Hand, sie bekommen Einblick in Praktiken, die sich bisher immer von selbst verstanden, mit ihnen lassen sich auch die üblichen Nehmen-und-Geben-Vorgänge nicht mehr störungsfrei abwickeln. Kurzum, sie erfahren plötzlich Dinge und posaunen sie aus, wie sie in Neunkirchen trotz aller Vorsicht in der Zeitung stehen. Und das droht eben nicht nur auf der Neunkirchenebene, sondern dort, wo der wirklich gewichtige Austausch auf Gegenseitigkeit stattfindet.
Der Normbürger, in Fachkreisen auch Normi genannt, mag einwenden, dass es in seinem Angstraum sehr rau zugeht, bisweilen sogar blutig, also gefährlicher als dort, wo nur goldene Dreiecke aufbrechen. Diese Verharmlosung würde jeder Verantwortungsträger selbstredend zurückweisen. Und zwar zu Recht. Draußen mag jemand Faustschläge und Messerstiche abbekommen wie neulich der 21-jährige Amerikaner in einer Dresdner Straßenbahn von zwei Syrern, oder drei Bisse ins Gesicht wie die Frau im Stadtpark von Harvestehude von einem Spontanverehrer aus Eritrea. Aber danach geht das Leben alles in allem weiter. Nur in einigen Fällen passiert so viel, dass der Ministerpräsident des betreffenden Bundeslandes noch ein Jahr später öffentlich daran erinnern muss, allerdings ohne den Begriff „radikalislamischer Terrorist“ in den Mund zu nehmen oder dessen Opfer beim Namen zu nennen, dafür aber mit der Mahnung an die Lebenden, sich nicht „spalten“ zu lassen.
Bei denjenigen, die der Stimmzettel in ihrem Angstraum am Angsttag trifft, geht es weniger glimpflich ab. Für sie steht immer gleich ein ganzes Lebensmodell vor dem Ruin. Die Grünen müssen bei der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen unter Abzug der drei Prozentpunkte, mit der die Prognose bei ihnen immer zu hoch liegt, etwa eine Halbierung ihrer Mandatszahl befürchten, während die AfD ihre Sitze womöglich verdoppeln kann. Im Osten existieren in Katrin Göring-Eckardts Thüringen und in Brandenburg schon keine grünen Landtagsfraktionen mehr, in allen anderen Ländern östlich der Elbe mit Ausnahme Berlins bekommt die Partei bei den nächsten Wahlgängen noch nicht einmal den großen Zeh auf den Boden. Dort, wo noch der einzige grüne Ministerpräsident regiert, in Baden-Württemberg, landet seine Partei allen Umfragen nach 2026 nur noch auf Platz drei. Nach der Wahlkreisanalyse der Plattform Dawum würden die Grünen nach aktuellem Stand bei der nächsten Bundestagswahl kein einziges Direktmandat mehr gewinnen. Selbst in den gediegenen Altbaulagen der Städte geht also die Begeisterung für Robert Habecks Erben stark zurück.
Für die Sozialdemokratie sieht es noch ein bisschen trüber aus. Die Prognosen sagen ihr für die nächste Landtagswahl in Baden-Württemberg 10, in Bayern und Thüringen je acht, in Sachsen-Anhalt sieben und in Sachsen sechs Prozent voraus. Sie befindet sich also ungefähr in der Position wie die FDP vor ein paar Jahren, als jeder Parlamentseinzug schon als Sieg galt. An jedem Mandat auf Landes- und Bundesebene wiederum hängen drei, fünf, manchmal auch zehn Zuarbeiterstellen, ungefähr so wie Zuliefererarbeitsplätze an jedem wegrasierten Industriejob.
Dass die Bundesgeschäftsstelle der Grünen kürzlich 30 Zeitvertragsmitarbeiter aus Kostengründen entlassen musste, markiert erst den Beginn einer persönlichen Verlustwelle, die sich anschickt, über ein ganzes Milieu zu rollen. Die schmerzromantische Cat-Stevens-Zeile „The first cut is the deepest“ trifft hier nicht zu, sondern das glatte Gegenteil. Wirklich komfortable Rettungsboote den Bach rauf mit Kurs gen Berkeley (R. Habeck) oder New York (A. Baerbock) stehen nur den Passagieren vom Oberdeck zur Verfügung. Der große Rest muss sich an Bord anhören, wie die SPIEGELZEITSZ-Kapelle ihre kreuzfidelen Aufmunterungsstücke bis zur bitteren Schiffsneige spielt.
Wie die Titanic verfügt auch das lecke Gefährt unter der Flagge des goldenen Dreiecks über mehrere Ebenen. Weiter unten auf den billigeren Plätzen stehen die Chancen auf ein Weiterso naturgemäß deutlich schlechter. Und dort geht es noch nicht einmal um Mandate, sondern viel bescheidenere Hoffnungen. Kürzlich teilte ein frisch gebackener Absolvent der Politikwissenschaften auf X seine Zufriedenheit über das Bürgergeld mit, das es ihm derzeit noch ermöglicht, den Tücken des Arbeitsmarkts zu entgehen.
Die Zeit meldete, es gebe so viele beschäftigungslose Akademiker wie noch nie, und stellte ihren Lesern das Beispiel eines Pascal Nissing vor Augen. Dessen bisher dreifaltige Passionsgeschichte geht folgendermaßen: Erstens einen unbefristeten Job im Möbelhaus gekündigt, zweitens Sustainability-Managment in Barcelona studiert, drittens festgestellt, dass er den Bedarf an Sustainability-Managern in Deutschland wie in Spanien zu optimistisch einschätzte.
Die nächsten Angstraum-Wahlen bedeuten auch, dass Herr Nissing und viele mit ähnlichen Bildungsbiografien auch in Zukunft keine Stelle finden, dass Inhaber eines PolWi-Scheins das Bürgergeld nicht mehr als Antragshäusl missbrauchen können, um dort auf eine wesentlich besser steuerbezahlte Stelle zu warten, und dass es auch mit der neuen Meldestelle für Antifeminismus nichts wird, die Bayerns Grüne Katharina Schulze eigentlich dringend braucht, damit wieder ein paar Leute aus ihren Kreisen auf Steuerfronbürgers Kosten Büro spielen können.
Wenn es in Zukunft überhaupt noch goldene, silberne oder wenigstens blecherne Dreiecksstellen zu besetzen gibt, dann benötigt man die Posten schon dringend für ehemalige Abgeordnete, Parteizentralen- und Fraktionsmitarbeiter. Wer also bis eben noch glaubte, von draußen leicht in den inneren Zirkel eintreten zu können, der steht vor dem in einer Richtung verrammelten Tor zum Paradiesgärtlein, aus dem ihm schon die ersten Vertreibungsopfer entgegenkommen. Die bevorstehenden Wahlen könnten außerdem bedeuten, dass die Amadeu Antonio Stiftung nicht mehr wie bisher gut sechs Millionen Euro für Personal ausgeben kann, und dass die Landtage nicht mehr wie bisher die Rundfunkgebühren-Erhöhungswünsche von ARD und ZDF einfach durchwinken. Schon das würde die Pensionskassen mit angeschlossenem Sendebetrieb bis ins Mark treffen. Man kann der politisch-medialen Klasse hier und da vorwerfen, den Kontakt zur Wirklichkeit etwas zu vernachlässigen. Aber mit ihrer Angst vor Stimmzettel und Urne beweisen sie ein vollkommen realistisches Gespür.
Die Zeit fragt übrigens in einem anderen Betrag: „Warum wählen Sie keine Mitte-links-Parteien mehr?“ Auf dem Illustrationsfoto dazu schauen mehrere Leute in einen Sonnenuntergang.
Die erste Antwort lautet: Mitte-links ist heute ein erheblicher Teil der CDU; in dem Artikel geht es aber um andere Parteien, nämlich die, die alles, was „Mitte“ und „bürgerlich“ heißt, mit Erbitterung bekämpfen. Damit ruinieren sie das Bürgertum ein bisschen, sich selbst aber sehr viel mehr. Denn den Wettbewerb um die härteste Besteuerungs- und Plünderforderung gewinnt immer die umgemodelte DDR-Staatspartei, und zwar mit sattem Vorsprung.
Zweitens, siehe oben, können Grüne und SPD in ihrem Schrumpfprozess anderen kaum noch echte Gefolgschaftsprämien anbieten. Um noch einmal an Neunkirchen zu erinnern: Eine Partei befindet sich schon tief im Elend, wenn sie mit Jobversprechen Parteimitgliedschaften erpressen muss. Aber was passiert erst, wenn ihr noch nicht einmal dieses beschämende Druckmittel zur Verfügung steht? Ungefähr das gleiche wie den Grünen, wenn es unter den halbjungen urbanen Nichtsnutzen nichts mehr zu verteilen gibt.
Drittens fällt das Räderwerk der großen Transformation in einer selbst für die Dümmsten sichtbaren Weise auseinander. Wenn sich selbst bei hohen Einspeisegebühren und umfassender Risikoabsicherung kein Investor mehr für die Windkraft auf See findet, dann ist die Energiewende à l’allemande am Sackgassenende angekommen. Und wenn AI-Rechenzentren wegen Energiemangels nicht in Deutschland entstehen, dann geht eben eine ganze Industrie an Vorreiterland vorbei.
Die Idee aus dem Hause Marcel Fratzscher, von Senioren mit mehr als 1049 Euro monatlich einen „Boomer-Soli“ zu verlangen – aber erst nach Ableistung des sozialen Pflichtjahres im Rentnerarbeitsdienst – beweist vor allem eins: Die Migranten zahlen nicht wie von Fratzscher und anderen 2015 prognostiziert die Boomer-Renten. Zur Abrundung des Lagebildes erklärt der grüne Verkehrsminister von Baden-Württemberg Winfried Hermann in ähnlichem Stil wie weiland der Generalsekretär in Ostberlin, er weine den Automobiljobs, die jetzt aus dem Ländle verschwänden, keine Träne nach.
Sicherlich, Beschäftigte der Auto- oder generell der Industrie gehörten nie zum Wählerreservoir der Grünen. Und Arbeiter, die noch SPD wählen, finden sich ungefähr noch so oft wie filzverwickelte Politiker, die gebeugten Hauptes zurücktreten. Aber auch in der gerade noch oder schon ehemaligen Grünen und SPD-Wählerschaft weiß oder ahnt man zumindest, dass gerade die dort üblichen Lebensentwürfe nicht ohne eine materielle Basis auskommen, die irgendjemand erst legen muss. Konsequenterweise sollten beide Parteien ihren Wählern jetzt auch keine Träne oder ein Beziehungsgespräch in Form eines Zeit-Artikels hinterherschicken, sondern ihr Schicksal einfach annehmen. Stoizismus mindert übrigens die Angst vor dem, was kommt.
Wann fing eigentlich die Angst vor Wahlen und den launischen Wählern an? So richtig vermutlich 2023 im schönen Bayern. Man erinnert sich: Damals beschloss die Redaktion der Süddeutschen, wenn sich schon die CSU nicht von der Macht trennen ließ, ihr wenigstens den richtigen Koalitionspartner zuzuführen. Sie exekutierte den medialen Enthauptungsschlag gegen Hubert Aiwanger; die Kabinettsliste lag schon fix und fertig da, inklusive Katharina „der Handel muss für Ungeimpfte geschlossen werden“ Schulze als Staatsministerin für Inneres, Hausdurchsuchungen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und dann verweigerte sich der Wähler, hauptsächlich in Niederbayern, aber eigentlich überall außerhalb von ein paar Münchner Innenstadtlagen. Die aus dem SZ-Gebäude heraus verachteten Leute merkten sehr schnell, dass es nicht nur gegen einen Hubsi Aiwanger ging, sondern gegen sie. Und so gaben sie den Freien Wählern noch extra ein paar Stimmen drauf, die Grünen landeten deutlich unter den Umfrageergebnissen.
Seit die Medienschaffenden im November 2024 von ihren „Warum Präsidentin Harris die Welt retten wird“-Texten aufblickten und im Fernsehen den feixenden Donald Trump sahen, kennt die Angst vor dem Wahltag kaum noch Grenzen. Und es geht weiter an der Urne, in Deutschland demnächst im September, dann 2026, 2029. Dann kommt möglicherweise wirklich „was ins Rutschen“ (F.-W. Steinmeier). Es rutscht ja jetzt schon, wenn auch noch träge. Jeder kennt den Anblick eines schneebedeckten Schrägdachs im Frühjahr: Erst knackt es ganz außen in der Kante, dann gleitet vorn ein größeres Stück der weißen Decke weg. Und plötzlich liegt in einem einzigen Ruck und Zuck das halbe Dach frei.
Was die Wähler betrifft, die jetzt bei der AfD ankreuzen – auch dafür gibt es eine Erklärung. Viele dürften Schmerzen beispielsweise an der Zahnwurzel kennen, die so sehr quälen, dass man sich alles einwirft, was Linderung verspricht, ohne sich groß über Risiken und Nebenwirkungen belehren zu lassen. Die Hauptwirkung am eigenen Nerv genügt als Argument. Sehr viele Bürger wollen das goldene Dreieck einfach loswerden. Diejenigen, die davon profitieren, möchten es bis zum Äußersten verteidigen. Beide Seiten mobilisieren ihre Energie.
Zur Mobilmachung auf der einen Seite gehört der Ausschluss von AfD-Kandidaten zu den Kommunalwahlen in Ludwigshafen und in NRW, ferner natürlich das Verbotsverfahren gegen die größte Oppositionspartei. Aber selbst wenn das gelänge, müssten anschließend hunderte Bürgerinitiativen, die sich ersatzweise bilden und Kandidaten aufstellen würden, administrativ niederkartätscht werden. Es lassen sich sicherlich noch mehr Strafbefehle gegen Bürger verschicken, die führenden Grünen jetzt nicht mehr einen Schwach- sondern einen Dürrkopf und ähnliches bescheinigen. Ein Redakteur der Zeit, die heute ein bisschen oft vorkommt, schlug gerade vor, wenigstens X abzuschalten, um der Demokratie einen Dienst zu erweisen.
Im Iran und in Nordkorea wirkt diese Maßnahme schließlich auch. Es handelt sich, das nebenbei, um den gleichen Zeit-Schreiber, der auf X emsig sein Buch mit dem Titel „Zu dumm für die Demokratie? Wie wir die liberale Ordnung schützen, wenn der Volkswille gefährlich wird“ bewirbt. Kim Jong-un würde vermutlich wie dieser Hamburger Redakteur sagen, dass er die demokratische Mitte seines Landes verkörpert. Das alles – mehr Wahlmanipulation, Parteiverbot, mehr Meinungsbestrafung – liegt wie gesagt im Bereich des Möglichen. Der Krieg von oben gegen einige Millionen der eigenen Bürger in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs erfordert allerdings eine dauerhafte Kraftanstrengung. Schon Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord wusste, dass es sich auf Bajonetten nur sehr unbequem sitzt.
Wir verraten an dieser Stelle das letzte Mittel, mit dem sich die Ordnung der Liberalen vom Schlag der Schieritz’, Faesers und Dröges wirklich schützen beziehungsweise retten ließe. Dazu wäre es nötig, die AfD und notfalls auch andere Systemstörer in das goldene Dreieck zu ziehen und sie nicht nur mitmachen zu lassen, sondern ihnen das Mitmachen geradewegs anzubefehlen. Es klingt in manchen Ohren bitter, aber ganz ernsthaft: Wenn ein AfD-Oberbürgermeister sich aus einem kommunalen Betrieb illegale Parteispenden zuschanzen ließe, wenn der Betrieb wiederum Jobs gegen Parteieintritt vergäbe, wenn das Stadtoberhaupt einfach im Amt bliebe, obwohl der Unflat herauskommt und sich trotzdem weder heute-journal noch Tagesschau darum scheren würden – dann, aber auch nur dann könnte es mit dem goldenen Dreieck noch eine Weile gutgehen.